Zwei kleine türkische Dörfer, zwei grosse türkische Filme

«Winter Sleep» und «Kuzu» – zwei kleine türkische Dörfer, zwei grosse türkische Filme. Umgeben von Kriegen befindet sich das Lan zwischen Tradtion und Moderne im Umbau. Während sich rundum die Kriege der Türkei nähern, erhebt die Film-Kunst ihre Stimme. Nuri Bilge Ceylan und Kutluğ Ataman werfen in «Winter Sleep» und «Kuzu» einen Blick auf eine […]

«Winter Sleep» und «Kuzu» – zwei kleine türkische Dörfer, zwei grosse türkische Filme. Umgeben von Kriegen befindet sich das Lan zwischen Tradtion und Moderne im Umbau.

Während sich rundum die Kriege der Türkei nähern, erhebt die Film-Kunst ihre Stimme. Nuri Bilge Ceylan und Kutluğ Ataman werfen in «Winter Sleep» und «Kuzu» einen Blick auf eine explosive Mischung im Kleinen: Familiäre Traditionen. In beiden Filmen stehen Denk- und Glaubensgebäude zur Debatte. Beide machen am türkischen Brennpunkt lesbar, was das Aufeinanderprallen der Traditionen im Nahen Osten so explosiv macht. Zwei grosse türkische Filme aus zwei kleinen türkischen Dörfern.

Nuri Bilge Ceylan lässt in «Winter Sleep» (Goldene Palme in Cannes), einen alternden Schauspieler Zeuge einer stillen Grausamkeit sein. Kutluğ Ataman bringt in «Kuzu» den Stoff der Medea in unsere Zeit, und damit Bewegung ins Dorf. In beiden Filmen ist ein kleiner Junge der Spielball der Verstrickungen der Erwachsenen. In beiden steht die Zukunft auf dem Spiel. Ein Quervergleich.

Die Hexerei eines Kindes in der Männerwelt

Sein Vorname «Kutluğ», sagt der türkische Regisseur Kutluğ Ataman im Gespräch, klinge nur zufällig wie der Titel des Films «Kuzu» (das Lämmchen). Auch wenn die Mutter in seinem Film den Sohn gerne so ruft. Dabei verrät Kutluğ Ataman im Gespräch, dass seine Geschichten anderweitig in der Tradition verwurzelt ist.

Sein Land ist von «Hexenkesseln umgeben, die jederzeit explodieren können». Unzählige Kriege finden seit Jahren an den Grenzen seines Landes statt.

«Grausamkeit ist das Übel der Geschichte. Der Hexenkessel Naher Osten ist täglich ein Becken für neue Grausamkeiten. Ich beschränke mich  auf das Echo der Geschichte, das diese Familie einholt», sagt Ataman. Grausamkeit ist aber auch ein Mittel der Poesie», sagt Ataman. Es ist kein Zufall, wenn zwei türkische Film-Meisterwerke anhand von Kindern in der Familie über die Gegenwart nachdenken.

«Kuzu»- der Junge staunt über die Erwachsenenwelt

«Kuzu»- der Junge staunt über die Erwachsenenwelt

 «Grausamkeit ist das Übel der Geschichte. Der Hexenkessel Naher Osten ist täglich ein Becken für neue Grausamkeiten. Ich beschränke mich  auf das Echo der Geschichte, das diese Familie einholt», sagt Ataman. Grausamkeit ist aber auch ein Mittel der Poesie.»

«Die Familie ist die Zelle von allem». In seinem Film ist die Hauptfigur das Kind Med. Weil der Vater das Lamm nicht zahlen kann, das zur Feier der Beschneidung Meds geschlachtet werden soll, will Med helfen das Opferlamm zu beschaffen.

«Kuzu»- die Mutter sucht nach Löswung

«Kuzu»- die Mutter sucht nach Löswung

Vater geht fremd. Mutter wird fremd

Meds Schwester versucht sich einen Reim auf die Fremde der Eltern zu machen. Was zieht den Vater in die Stadt? Sie beobachtet die Abgründe der elterlichen Verwirrung, und erklärt sie ihrem jüngeren Bruder in Kinderworten.

Mit grossen Kinderaugen schaut der kleine Med seine Schwester an, als sie ihm verrät, dass er das Opferlamm sein wird, das die Dorfbewohner bei den Feierlichkeiten zu seiner Beschneidung verspeisen werden.

Dass die Mutter ihn mein «kleines Lämmlein» nennt, gilt ihm als Beweis. Dass der Vater kein Lamm nach Hause bringt, verstärkt die Ahnung, dass etwas Grausames bevorsteht. So stetig, wie sich in dem kleinen Jungen die Gewissheit anbahnt, dass er tatsächlich demnächst geopfert werden soll, so allmählich geraten wir in die Tiefen der Geschichte der Eltern.

Auf Med wirken die Traditionen der Eltern nicht nur als bedrohliche Enge. Er flüchtet daraus in die Phantasie. Mit einem Kunstgriff holt Ataman seine Geschichte mit Poesie ins Heute.

Während dem Umbaus des Industrielandes liegt das Dorf im Winterschlaf

In Nuri Bilge Ceylan «Winter Sleep» gerät ein Junge in die Mühlen einer dörflichen Fehdegeschichte. Er entrinnt dabei nur knapp dem Tod. Ceylan lässt einen männlichen Betrachter Zeuge seiner Geschichte sein. Ein Schauspieler, der die urbane Welt bereits kennt, kehrt als Hotelier in das Dorf zurück. Im «Winterschlaf» findet er den Stoff für sein Buch, das  er schreiben will.  

Ceylan lässt sein Alter-Ego dialogstark – und breit – die Begriffe der Moral entwickeln, die er im Dorf in der traumhaften Landschaft Kapadokiens (Unesco-Kulturerbe) vorfindet. Als Hotelerbe wird er in den schwelenden Konflikt hineingezogen – als ungewollter Padrone.




Bei Ceylan ist es der Junge, der in «Winter Sleep» den ersten Stein wirft. Aber auch bei Ceylan wird der Junge das eigentliche Opfer, der erwachsenen Enge. Seine Zukunft wird ihm von den Eltern verbaut, ehe sie angefangen hat. Langsam fängt in seinen Augen ein hasserfüllter Trotz zu wachsen.

Zwei Meister der Poesie

Beide Regisseure kennen die Strenge ihrer Männer-Kultur. Beide sind der Grausamkeit in der männlichen Tradition auf der Spur. Bei Ataman finden Kind wie Mutter in der Phantasie einen ähnlichen Weg.

Ataman, der lyrische Dramatiker, entwickelt den Ausweg aus der psychologischen Nähe zu seinen Figuren – und spart nicht mit gewaltigen Bildern.

Ceylan analysiert den schwelenden Konflikt als dialogstarker Dramatiker. Er führt das Erbe Tschechows weiter.

Bei Ceylan sagt das Kind kaum ein Wort. Die Intellektuelle fassen den Wandel in einem wortreichen Diskurs. Für beide ist Grausamkeit ein poetisches Mittel.

Ataman verwendet die Begriffe, um sie neu zu deuten, und neu zu Handeln. «Medea kann heute erzählt  werden, weil die Geschichte nicht veraltet. Sie veraltet nicht, weil sie heute, modern begriffen, ein anderes Handeln möglich macht. Ich will die Tötung der Kinder in einem Neuen Licht sehen. Der Psychoanalytiker Lacan hat die Geschichte längst weitergeführt: Das nehme ich auf.»



«Winter Sleep»- UNESCO-Landschaft

«Winter Sleep»- UNESCO-Landschaft

Der Umbau der islamischen Gesellschaft

Bei Ataman wie bei Ceylan löst das Geld, das aus der Stadt oder in die Stadt getragen werden soll, den Konflilt der alten mit der neuen Zeit aus. Die alte islamische Welt, in der Zinsgeschäfte verboten sind, trifft auf die industrielle Welt, die sich an Mehrwert orientiert: Das Geld trifft eine sterbende, agrare Traditionsgesellschaft im Mark.

Bei Ataman hat der Vater kein Geld, um seine Ehre zu retten. Bei Ceylan geht in Flammen auf, was Geld wieder gutmachen könnte. Das Geld reicht auf dem Dorf als Sühne nicht aus. Geld löst Traditionen auf, nicht ab.

«Winter Sleep»

«Winter Sleep»

Die grossen Dramen wiederholen sich – Vater geht fremd. Mutter wird fremd

«Der Hexenkessel Naher Osten ist täglich ein Becken für neue Grausamkeiten. Ich beschränke mich auf das Echo der Traditionen, das diese Familie einholt.», sagt Ataman. Wie beziehungsreich er seine Geschichte verknüpft, wird klar, wenn man sein Drama verortet: Es spielt in der Nähe von Kolchis, (wo einst die Tragödie der Medea ihren Anfang nahm. Das ist gleichzeitig auch jene Gegend, wo die  Massaker an den Armeniern stattfanden. (Das «The Cut», der zur Zeit auch in den Kult-Kinos läuft, schildert).

Der Mann nimmt, wie bei Medea, auch bei Ataman den Armreif, den ihm seine Frau gibt, und trägt ihn in die Stadt zur Tänzerin. Damit ist der Bogen zum antiken Vorbild geschlossen: Auch in der Medea-Sage gibt die betrogene Mutter ihrem Ehemann ihren Brautschmuck für die Nebenbuhlerin mit, die daran erstickt, darin verbrennt, je nach Überlieferung.

«Kuzu»- die Kinder auf der Suche nach der verlorenen Zukunft

«Kuzu»- die Kinder auf der Suche nach der verlorenen Zukunft

Medea opfert die Zukunft, um die Vergangenheit zu korrigieren.

Das rückt die Kinder (als Zukunft) ins Zentrum. Die Kinder teilen, ohne zu wissen wie, die tragischen Vorgeschichten der Erwachsenenwelt. Die Tochter tut, was die Mutter tun wird: Den kleinen Bruder töten. Nur tut sie es in einem poetischen Akt.

Der Vater trägt in «Kuzu» das Geld für das Lamm, anstatt zum Schafhirten, zu einer Tänzerin in die Stadt. «Die männlich Grausamkeit», sagt Kutluğ Ataman, war in den Sagen der Historie immer ein Mittel, das Unfassbare im Menschenschicksal mit Kunst erträglich zu machen.

Zwei Poeten verbinden Lyrik und Dramatik

Wir ahnen in beiden Filmen das Unheil. In «Kuzu» kommt Meds Mutter den Fakten nur langsam auf die Spur. Die Mutter liest an den Gesten der Nachbarn, am mitwissenden Lächeln der Männer des Dorfes: Ihr Mann trägt ihr Geld in die Stadt: Dort ist er einer Tänzerin hörig, die ihn nicht erhört.

Ataman führt sein Gedicht mit einem optimistischen Ausblick (und mit einem Paukenschlag gegen die Männer) zu Ende: Während die Männer zurückbleiben, und langsam verstehen, was sie da als Opferlamm gegessen haben, scheint die Nebenbuhlerin am Ende sich mit der Mutter verbunden zu haben.

In Ceylan ahnt die junge Frau erst, als ihr Mann in die Stadt gefahren ist, wie die Fehde abzuwenden wäre. Aber auch bei ihr ist das Geld und die Moderne keine Rettung. «Der Hexenkessel Naher Osten ist täglich ein Becken für neue Grausamkeiten. Ich beschränke mich auf das Echo der Traditionen, das diese Familie einholt.», sagt Ataman.

Theorienähe und Praxisferne der Nächstenliebe

Ceylan führt den Dialog in brillanter Rede und Gegenrede in unsere Zeit. So wie Ataman Opferlamm und Beschneidung als religiöse Kernpunkte anführt, und  die Menschen kaum zu Wort kommen (ausser die Kinderphantasien),  lässt Ceylan seine Figuren einen modernen Diskurs führen, über die Folgenlosigkeit der Religiösen Gebote für das Handeln der Menschen etc. Sein Kind bleibt stumm.

Längst haben sich die Theorie und Praxis der Nächstenliebe der Erwachsenen voneinander entfernt. Selbst im Glauben und Handeln haben sich die Bedeutungen verschoben: Wenn Kriege im Namen des Glaubens geführt werden, sind auch im Kleinen Moral und Handeln nicht mehr kongruent.

Beide Filme nehmen nie grosses Tempo auf. Sie halten beide die Spannung in ihrer Art. In den Kindergesichtern Ataman. In der Begriffssuche des Beobachters Ceylan. Wer bei «Winter Sleep» einen Neunzigminüter erwartet, wird nach neunzig gefühlten Minuten erstaunt auf die Uhr schauen. Dann sind schon dreieinviertel Stunden vergangen.

Zwei offene Enden verweisen auf eine reife Zukunft

Am Ende fasst Ataman seine Quintessenz in einem grandiosen Bild: Im Schlachthaus zuckt ein Wasserschlauch im Blut unter gehäuteten Tieren. «Vielleicht», sagt dazu Ataman im Gespräch lächelnd, «hatte Medea doch recht, wenn ich auch die Geschichte nicht als Rache erzähle, sondern als stille Auflehnung, und mit der zeitgenössischen List.»

Auch Ceylan endet mit einer Finte. Der Mann will der zerrütteten Liebe Luft verschaffen, indem er seine junge, schöne Frau verlässt. Aber wie bei Ataman, ist auch hier die Gewalt übersetzt: Auch hier ist es ein neues Denken, das den Schritt fürs Neue öffnet. Darin vereint beide die gleiche Hoffnung: Dass Denken und Handeln nicht mehr der Fäuste und Messer bedürfen.

Das Aufeinandertreffen von «Winter Sleep» und «Kuzu» in Basel ist ein Glücksfall

Zweimal intimes Kino. Zweimal türkische Regisseure: Zweimal die Geschichte von Kindheit, Ehe und Modernität. «Kuzu» von Kutluğ Ataman  und «Winter Sleep» sind zwei Filme, die in jeden kommenden Herbst- bis Winterabend gehören. Schon nur, weil man so wunderbar lange zuschauen darf, wie Menschen an Öfen sitzen.

 

 

Der Gewinner der Goldenen Palme in Cannes: «Winter Sleep» von Nuri Bilge Ceylan und «Kuzu» von Kutluğ Ataman laufen in den Kult Kinos.

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