Grosse Künstler in einem notwenigen Film. Ein Festival muss nicht immer nur Oberfläche ritzen. Die Russen zeigen wie.
Grosse russische Schauspielkunst: Artem Bystrow
In «Durak», einem traditionellen russisches Kartenspiel, muss man möglichst schnell alle Karten loswerden. Als „Durak“ (Narr) wird derjenige Spieler bezeichnet, der als letzter die Karten auf der Hand hat. Insofern gibt es keinen wirklichen Gewinner, sondern lediglich einen Verlierer. Wenn der Russe Yury Bykov seinen Film über die Korruption in Russland also nach dem Kartenspiel benennt, weiss er, worüber er spricht: Über ein Kartenhaus. Locarno zeigt, selten leider, auch Filme, die im klassischen Sinne eine politische Disskusion führen können.
Politische Korruption – ein Narr, wer darüber spricht.
Wer über Korruption spricht ist unter Politikern ebenso ein Narr, wie für Filmkritiker jener, der einen politischen Film macht. Yuriy Bykov, der Regisseur von «DURAK»(The Fool) macht sich also gleich zweimal zum Narren. Aber: Am Hof ist der Narr die einzige freie Stimme.
Dazu hat Yuriy Bykov gleich die Crème de la Crème der Schauspieler um sich versammelt. Und wer glaubt, die sässen alle in LA, sieht sich getäuscht: Die Wucht jener, die da am «Mchat» und anderen russischen Theatern arbeiten, ist immer noch gewaltig: Zum Beispiel Artem Bystrow.
Grandios, wie bescheiden Yuriy Bykov mit ihm anfängt. Eine russische Durchschnitts-Familie ist zu Tisch – im Gespräch. Im Zentrum sitzt das Urgewicht Mutter – ein Mütterchen Russland, das Hof hält. Der Vater die Sitzbank vor dem Haus reparieren. Der Sohn will nicht aufräumen. Die Mutter weist beide zurecht: Sie sollen sich nicht um die Angelegenheiten anderer kümmern. Da wird ein familiäres Beziehungsnetz grandios in Bilder aufgelöst. Da ist bereits eine ganze Geschichte angelegt.
Wie Maxim Gorki in seinem «Nachtasyl», geht der Russe Yuriy Bykov in seinem Film «Durak» aber weiter – nach «ganz unten», dorthin, wo die Ärmsten leben. Yuriy Bykov kann auf ein Ensemble von grossen russischen Artisten vertrauen. Sie treffen mit ihrem Spiel den Ton derer «ganz unten»auf den Punkt, wirken mit denen «da oben» eher didaktisch.
In einem Wohnheim ist die Stimmung aufgeheizt. Als der betrunkene Vater seine Tochter verprügelt, birst im Bad ein Wasserrohr und verbrüht ihn. Als der Klempner Nikitin um Mitternacht den Schaden besichtigt, stösst er auf mehr als nur ein leckes Rohr: Ein Riss geht durchs ganze Haus.
Ein Riss in der Gesellschaft
Rasch begreift er. Hier geht es um mehr, als nur ein Rohrbruch. Nikitin von Artem Bystrov, der kurz vor dem Abschluss seines Ingenieur-Studiums steht, ist entschlossen, das an die höheren Stellen zu melden: Die Fundamente sind morsch. Das Wohnheim steht kurz vor dem Einsturz. 819 Menschenleben sind in unmittelbarere Gefahr.
Doch seine oberste Chefin feiert heute Nacht ihr Jubiläum, mit all jenen, die für den Einsturz verantwortlich sind, weil sie die Reparaturen verschleppt und das Geld eingesteckt haben. Nikitin müsste deren Feier sprengen. Seine Mutter, die weiss, was es heisst, wenn man eine Chefin der Korruption überführt, warnt ihn vor dem Schritt. Doch Nikitin ist ein einfacher Klempner. Er ist auch ein ehrlicher Mensch.
Nutzniesser und Mitwisser der Korruption
Nikitin ist unbeirrbar. Und er hat auch eine Frau, die ein besseres Leben will. Er handelt also mit der Redlichkeit seines Vaters, der immer ein Leben als ehrliche Haut geführt hat,ohne je jemanden zu schmieren oder sich schmieren zu lassen. Dafür hat er sich keine Freunde gemacht, aber auch keine Feinde. Um die Evakuierung in Gang zu setzen, geht Nikitin los.
Wir kennen derartige narrative Diskussionen der Moral aus dem Theater von. Ibsen, Hauptmann, Brecht. Wir kennen die bedingungslose Autenthizität aus den heutigen Theater-Inszenierungen des Alvis Hermanis. Wir kennen die absolut unzynische Emotionalität der Schauspieler aus dem grossen russischen Film. Sie gehen auch in «Durak» weit über die Schmerzgrenze hinaus.
Viel Old-School-Didaktik
Yuriy Bykov verbindet seine erbarmungslose moralische Urteilssuche mit all seinen Vorbildern: Unbeirrt von allen modischen Zynismen skizziert er vor unseren Augen eine korrupte Stadt-Verwaltung, die «vom Kopf her fault». Aber reicht Nikitin die wohlmeinende Kraft als Einzelkämpfer, sie auszuhebeln?
Als der Retter Nikitin selbst in die Enge gerät, führt Yuriy Bykov seine Parabel an ihr bitteres Ende: Wie der «Selbstmörder», von Nikolai Erdmann, oder der Yankev-Yosl, in «75 000», von Sholem Aleichem, fällt der Retter in Ungnade – bei den Geretteten.
Yuriy Bykov steuert Bild um Bild, didaktisch überdeutlich, auf seine Klimax zu, und führt uns gleichzeitig vor Augen, warum Mafia und Korruption so hartnäckig sind. Wer naiv genug ist, sie anzuprangern, rechnet nicht mit dem Hauptgesetz der Korruption: Nutzniesser sind nur wenige. Mitwisser sind alle. Aber Mitwisser machen Nutzniesser erst zu ihren Machthabern.
Honni soit qui mal y parle …
Nikitin gehört keiner der Gruppen an. Er ist der Narr, der nicht mehr gehört wird. Erst entgeht er einem Tötungsversuch der Nutzniesser. Dann wird er von den nichtsahnenden Mitwissern von ganz unten, die in ihm den Sündenbock sehen, verprügelt. Ein Retter ist er für sie längst nicht mehr. Im letzten Bild ist Nikitin allein zu sehen. Der Narr hat seine Schuldigkeit getan.
Yuriy Bykov ist mit «Durak» ein trauriges Gegenprogramm zur offiziellen geschönten Sotschi-Fassade der russischen Oligarchie gelungen. Mit «Durak» singt er aber auch das Loblied auf die gute alte russische Literatur, die Geschichte via Menschenschicksale erzählt, die Menschen zu Helden, und Helden zu Menschen werden lässt.