Zwischenhalt 3 in Locarno

Naturwunder und Naturgewalt. «Ventos de Agosto» aus Brasilien und «Mula Sa Kung Ano Ang Noon» von den Phillippinen. Letzterer dauert länger als der Arbeitstag eines Staatsangestellten. Bringt aber mehr. Wenn in einem Museum ein Gemälde von Delaunay neben einem Meister der Renaissance hängt, entzückt das die Sinne. Ebenso ergeht es einem am diesjährigen Festival in […]

«Mula S Kung Ano Ang Noon»

Naturwunder und Naturgewalt. «Ventos de Agosto» aus Brasilien und «Mula Sa Kung Ano Ang Noon» von den Phillippinen. Letzterer dauert länger als der Arbeitstag eines Staatsangestellten. Bringt aber mehr.

Wenn in einem Museum ein Gemälde von Delaunay neben einem Meister der Renaissance hängt, entzückt das die Sinne. Ebenso ergeht es einem am diesjährigen Festival in Locarno, wenn sich zwei Filme im Kopf begegnen dürfen, die auf ihre Art gemeinsam aus dem Programm ragen, das an Höhepunkten eher karg ist. Das philippinische Monument «Mula Sa Kung Ano Ang Noon» und das brasilianische Naturwunder «Ventos de Agosto».

Beide Filme fangen kaum merkliche Veränderungen ein. Beide lassen an ihrem Rand geschehen, was in der Natur über Jahrhunderte währt. Beide zeigen, was in der Natur vor sich geht, wenn der Mensch in sie eingreift. Beide Filme interessieren sich für die Veränderungen in der Natur des Menschen. Während der eine sich in Bildern über die Natur dem Menschen nähert, nähert sich der andere dem Menschen und seiner Natur.

Menschen in der Natur

Der philippinische Regisseur Rav Diaz hat am diesjährigen Festival von Locarno einen Solitär vorgestellt. Er lädt in ein monumentales schwarz-weisses Sittengemälde ein. Seine Bilder sind statisch, laden aber mit einer gewaltigen Tiefenschärfe zum langen Betrachten ein. Menschen betreten diese Naturbilder nur langsam. Sie tauchen aus der Ferne auf, im Spaziertempo eines Trauerzuges von Ureinwohnern, erst klein wie Ameisen, ehe sie grösser werden. Das geschieht in Echtzeit, als gäbe es keine Film-Zeit. Schon beim ersten Bild wird uns vor Augen geführt, dass wir in Echtzeit im Kino sitzen. Diaz will die Zeit nicht zusammenfassen. Er will sie uns nur in ihrer ganzen Tiefe erscheinen lassen.

Bilder aus der Natur des Menschen

Als würde er uns seine Bilder im Fotostudio zeigen, lässt er jede Geschichte vor unseren Augen langsam, wie aus dem Entwicklungsbad, auftauchen. In jedem dieser Gemälde dürfen wir uns auf die Suche machen nach dem Film, der schon bei Delaunay in den Bildern wohnte.

Als das Militär und die Generäle am Schluss des Films diese Naturbilder niederwalzen und die Schreie der Getöteten verhallen, sind 338 Minuten Film-Zeit vergangen und die Geschichte der ganzen Zivilisation ist erzählt.

Diaz nutzt mit 338 Minuten die durchschnittliche Tages-Arbeitszeit eines philippinischen  Staatsangestellten, um die Auswirkungen der blutigen Geschichte seines Landes auf die ferne Natur darzustellen, und sprengt mit einer derartigen Film-Zeit fast jede Echt-Zeit.

Diaz lässt seine Bilder lange genug stehen, bis der Betrachter sich in ihnen umgesehen hat. Dabei vertraut Diaz auf das alte Gesetz von Delaunay: Ein Bild allein ist wie ein Film, wenn man es erst einmal genau betrachtet. Zudem überlässt er uns die Bilder nicht in ihren Naturfarben, sondern in Schwarz-Weiss, um uns noch mehr zu Betrachtern zu machen.

Diaz fängt definitiv das ein, was diese Ureinwohner von uns trennt. Sie haben Zeit. Das heisst: Sie sind von in einer anderen Welt. Sie haben Zeit, um sich weinend, beschwörend, oder einfach nur schreitend um ihr Leben zu kümmern. Da muten Szenen, wo die Marketenderin Moskitonetze verkauft, wie kleine Unterhaltungsbeilagen.

Das ferne Echo einer gewaltigen Veränderung 

Ganz anders sieht der brasilianische Regisseur Gabriel Mascaro seine Menschen in der Natur in «Ventos De Agosto». Seine Menschen kommen nicht aus der Natur. Seine Shirley hat sich aus der Stadt in die Natur zurückgezogen. Mitten in einer Ladung frischer Kokosnüsse gehen ihre nackten Körperrundungen und jene von Jeison,dem Fischer, in den Rundungen der Früchte unter.

Die Menschen von Mascara sind tief in der Natur verankert: Jeison registriert die Veränderungen in der Natur  wie eine Sanduhr die Zeit. Ihm fällt sehr wohl auf, dass sich etwas verändert hat im Wellenschlag des Meeres. Aber was?

Auch der Brasilianer Mascaro erzählt seine Geschichte in ruhigen Bildern, wie von Ebbe und Flut. Aber in seiner Natur findet sich auch die sinnlich geladenen Liebe eines Paares, das immer wieder seiner Natur folgt, und doch immer an die Grenzen der Zeit stösst. Jeison fragt Shirley: «Warum willst du nicht, dass ich dir ein Tattoo mache?» «Das hält doch ewig!» «Es soll ja nur ein kleines sein!».

Die Natur und der Mensch

Am Abend desselben Tages skizziert Shirley ihr Tattoo am Hausschwein, das darüber auch nicht sonderlich glücklich ist. Ähnlich wie Diaz lässt auch der Brasilianer Mascaro stehende Bilder allmählich in uns zu Filmen werden: Ein junge Frau, die auf einer Fischer-Barke im Bikini in der Sonne liegt, greift nach einer Aludose. Erst spritzt sie sich Cola-Schaum in den Nacken und das Gesicht, dann reibt sie den ganzen Körper damit ein. Als neben ihr aus dem Wasser eine Hand erscheint und einen Tintenfisch auf die Bretter neben ihr legt, schläft sie bereits wieder. Ein einziges Bild, das zum Film wird.


Herbstwinde in Brasilien

«Ventos De Agosto» erzählt die Geschichte, die der Wind an die Küsten Brasiliens trägt. Das Meer steigt. Etwas Ungeheuerliches spielt sich ab.

Mascara erzählt das nicht mit der Bilderwucht von Diaz. Er spielt hingegen gekonnt mit seinem Natur-Bildraum auch als Tonraum. Mittendrin, als wir schon von der Tonfülle überwältigt sind, die in den Palmenwälderbildern immer wieder den Wind ergänzen, taucht bei Mascara im Film ein Tonjäger auf – auf der Suche nach den Geräuschen der Winde – wie er sagt: Er fängt im Dorf Töne ein, ebenso am Strand, unter den Palmen und findet sie sogar, wenn er eine Felskar belauscht, im Atmen der Felsen, die sich im Wellengang immer wieder mit Wasser füllen. Es sind die Winde des brasilianischen August.

«Ventos de Agosto»

«Ventos de Agosto»

Die Natur in der Filmbetrachtung

Während Mascara auch der Natur des Menschen auf die Spur kommen will, lässt Diaz in seinem Monsterwerk seine Menschen ganz in der Natur, auch wenn sie von der Natur des Menschen längst überwältigt wird.

Die Bildersprache des Regisseurs Lav Diaz einzuordnen, ist dabei gar nicht so einfach. Einerseits ist er der hypernatualistischen Fotografie des Michio Hoshino verpflichtet. Andererseits beweist Diaz auch die Beharrlichkeit eines Friedrich Wilhelm Murnau, der einst in die wilde Natur Tahitis reiste, um mit Robert J. Flaherty den Menschen in der urtümlichen Natur in einem Dokumentarfilm in seinem sehr frühen Hybrid-Dokumentarfilm «Tabu» einzufangen.

Diaz liefert einen prächtigen Grundkurs in der Bildbetrachtung durch Filmbetrachtung.

Er ist einer, der in der Komposition einer einzigen Fotografie (die ja eigentlich übersetzt auch nur «Bilderschrift» bedeutet) bereits einen ganzen Film lesen will. Er lässt seine Bilder so lange vor uns stehen, bis in uns der eigene Film anfängt zu rollen.

Der Krieg des Menschen gegen die Menschennatur

Schliesslich bricht die Gewalt der Panzer in seine Natur ein. Plötzlich wird klar, was sich in den fernen Schreien angekündigt hat: Die brutale Herrschaft der Generäle ist zur zweiten Natur geworden.

In «Mula Sa Kung Ano Ang Noon» entwickeln sich die Ungeheuerlichkeiten in der beschaulicher Ruhe eines Trauerzuges. In bedrohlicher Betulichkeit kommt die grosse Tragödie nur allmählich, wie aus einem altmodischen Entwicklungsbad an den Tag:

Häuser brennen, Menschen werden ermordet, Gräber geplündert. Die Film-Zeit und die Echt-Zeit von Diaz erscheinen wie eins. 338 Minuten lang schafft er es, uns in den superrealen Sog seiner Geschichte einer fernen Militär-Diktarur hineinzuziehen.

Auch bei Mascaros «Ventos de Agosto» stehen die Zeichen schliesslich auf Sturm, nur ungleich leiser. Jeison findet einen menschlichen Totenschädel in der Stille des Meeres. Überhaupt gibt ihm – dem Taucher – das geduldige Meer immer mehr Rätsel auf. Während die Wasser stetig steigen, versucht Jeison den Friedhof am Strand vor der Flut zu schützen.

Doch das Meer lässt sich nicht aufhalten. Es drängt auf den Kontinent. Im Kleinen ist das in der überschwemmten Hütte des Fischers und den Erosionen des Sandfriedhofes zu sehen. Im Grossen aber greift es bereits nach den Toten: Das Meer greift langsam nach dem Friedhof am Strand, in dem die Ahnen einst noch im Trockenen lagen.

Zwei unterschiedliche Filme, die da aufeinanderprallen dürfen, und dennoch innere Verwandtschaft beweisen. Ein Zufall, wie ihn nur ein Festivals an den Tag bringen kann. Oder ein Museum, das einen Delaunay in die Renaissance hängt:

 

«Mula Sa Kung Ano Ang Noon»

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