Zwölf zu Null

Die Geschichte eines Fussballtages, an dem nach menschlichem Ermessen nichts mehr schief gehen konnte – und an dem es noch einmal verdammt eng wurde. Zartbesaiteten Fans nicht zur Lektüre empfohlen. Dass es überhaupt zu diesem denkwürdigen Spiel kommen kann, nimmt im April 1978 schon eine Woche vorher seinen Lauf. Borussia Mönchengladbach, der Dominator jener Jahre […]

29. April 1978 – Mönchengladbach schlachtet Dortmund am letzten Bundesliga-Spieltag und wird beinahe noch Meister vor Köln.

Die Geschichte eines Fussballtages, an dem nach menschlichem Ermessen nichts mehr schief gehen konnte – und an dem es noch einmal verdammt eng wurde. Zartbesaiteten Fans nicht zur Lektüre empfohlen.

Dass es überhaupt zu diesem denkwürdigen Spiel kommen kann, nimmt im April 1978 schon eine Woche vorher seinen Lauf. Borussia Mönchengladbach, der Dominator jener Jahre und dreimal hintereinander Meister, steigt punktgleich mit dem 1. FC Köln in die vorletzte Runde der 15. Bundesligasaison. In der 69. Minute liegen die Gladbacher in Hamburg mit 1:2 hinten, um innert 14 Minuten fünf Tore zu erzielen und 6:2 zu gewinnen.

Dem 1. FC Köln kann das egal sein, weil er sein Heimspiel gegen den VfB Stuttgart für sich entscheidet. Nachdem Ottmar Hitzfeld in der 76. Minute für die Schwaben ausgeglichen hat, erzielt Yasukio Okudera, der erste Japaner in der Bundesliga, in der 80. Minute den Siegtreffer im Müngersdorfer Stadion vor 60’000 Zuschauern, die völlig aus dem Häuschen sind.

Die Konstellation vor dem letzten Spieltag: Köln und Gladbach mit 46:20 Punkten, Köln mit 81:41 Toren, Gladbach mit 74:44. Macht zehn Tore Unterschied in der Tordifferenz. Als Köln-Fan richtet man sich daheim gemütlich und erwartungsfroh ein auf den dritten Meistertitel nach 1962 und 1964. Köln spielt beim Absteiger St. Pauli – nach menschlichem Ermessen kann da fast nichts mehr schief gehen.

Der Horrortrip beginnt nach 27 Sekunden

Aber der Nachmittag des 29. April 1978 wird zwischen 15.30 Uhr und 17.15 Uhr zum Horrortrip. Kaum ist angepfiffen, steht es nach 27 Sekunden 1:0 für Mönchengladbach gegen Dortmund. In der zwölften Minute erzielt Jupp Heynckes das zweite seiner insgesamt fünf Tore in diesem Spiel. Und so geht es weiter. Nach 22 Minuten fällt vor 38’000 Zuschauern im Düsseldorfer Rheinstadion das vierte Tor. Vier zu Null. Nach 22 Minuten!

Es macht sich ein erstes Unbehagen breit daheim vor dem Radio. Eine Beklemmung, die durch Heinz Flohes Führungstreffer auf St. Pauli vorübergehend beruhigt wird. Immerhin ist Köln jetzt wieder punktgleich. Aber als 15-jähriger Grünschnabel kann man nicht ahnen, was der Fussball alles für einen parat hält.

In der 59. Minute verkündet eine sich überschlagende Reporterstimme aus Düsseldorf das 7:0 durch Heynckes. Sieben zu Null! Auf vier Tore ist der schöne, der so verführerische Zehn-Tore-Vorsprung zusammengeschmolzen.

Wahnvorstellungen machen sich breit, Livebilder von der Bundesliga gibt es noch keine, alles spielt sich im Kopf ab. Bilder von lustlosen Dortmundern, berauschten Gladbacher Fohlen, einem willfährigen Schiedsrichter, Manipulation, Doping. Und am Hamburger Millerntor verzweifelt anrennende Kölner Spielern gegen ein unüberwindliches Sankt Paulianer Bollwerk.

Tränen der Wut

Seit dem 13. Spieltag stehen die Kölner auf Platz 1 der Bundesliga, und nun, am 34., gleitet ihnen diese so herbeigesehnte Meisterschaft aus Händen und Füssen, weil sich elf Dortmunder gehen lassen? Tränen, Tränen der Wut, nicht mal auf die Gladbacher, denen der vierte Titel in Folge gerade in den Schoss fällt, sondern Wut auf die Dortmunder und deren Trainer Otto Rehhagel.

Alles scheint verloren, so wie 1965. Europapokal der Landesmeister. FC Liverpool gegen den 1. FC Köln. Hinspiel: 0:0. Rückspiel: 0:0. Entscheidungsspiel auf neutralem Platz. Kölns Verteidiger Wolfgang Weber bricht sich in der 20. Minute das Bein und spielt weiter. In der Halbzeitpause steigt er zur ärztlichen Diagnose auf einen Tisch und springt runter. Er spielt weiter. Auswechslungen sind damals im Fussball nicht vorgesehen, genauso wenig wie Elfmeterschiessen.

2:2 nach Verlängerung im Dauerregen von Rotterdam. Eine Münze muss entscheiden. Sie bleibt beim ersten Wurf im morastigen Rasen senkrecht stecken. Beim zweiten ist Liverpool weiter. Mit einem Münzwurf des Schiedsrichters, das muss man sich mal vorstellen. Diese Seite in der Chronik des Effzeh ist gewellt von den Tränen, die über ihr vergossen wurden.

Unterdessen liegt Gladbach 9:0 vorne. Neun zu Null!

Für BVB-Torhüter Peter Endrulat wird dieses Spiel nach nur sieben Bundesliga-Einsätzen das Ende seiner Karriere bedeuten und BVB-Trainer Otto Rehhagel tagsdarauf entlassen. Aber was soll das für ein Trost sein in diesem Moment, zuhause, im Kinderzimmer, allein mit dem Geissbock.

Das Problem: Gladbach führt inzwischen 10:0

Dieser Geissbock sieht schon wieder etwas zuversichtlicher aus, als Yasuhiko Okudera in der 60. Minute das 2:0 erzielt, und erst recht, als Heinz Flohe neun Minuten später zum 3:0 trifft.

Das Problem: In der 77. Minute steht es Düsseldorf 10:0. Einen Taschenrechner gibt es damals noch nicht im Haushalt, man ist noch des Kopfrechnens mächtig, und das führt zu Kopfzerbrechen. Denn man kann von den geschossenen Toren die kassierten Tore wieder und wieder subtrahieren, es bleibt unter dem Strich immer das selbe Ergebnis:

3

Drei Tore Vorsprung sind übergeblieben von zehn, und noch sind 13 Minuten zu spielen. 13 Minuten können eine Ewigkeit sein, von der Nachspielzeit ganz zu schweigen.

Et hät noch emmer joot jejange

In der 83. Minute wird das Kölner 4:0 auf Sankt Pauli gemeldet. Durch Bernd Cullmann, ein Abwehrheld jener Tage, zusammen mit Herbert Zimmermann. Was haben sie uns nicht an Toren beschert. Weil dieser schlaue Fuchs von Hennes Weisweiler («Ich gewinne lieber 5:4 als 1:0») der Bundesliga in der Saison 1977/78 eine neue Finte gelehrt hat. Ecke von rechts durch Heinz Flohe, Corner von links durch Herbert Neumann, scharf auf den ersten Pfosten getreten, dort verlängern Cullmann oder Zimmermann und in der Mitte ist im Zweifelsfall Dieter Müller zur Stelle.

Müller, der Mittelstürmer-Gott spätestens seit dem dritten Spieltag jener Saison. Am 17. August 1977, einem Mittwochabend, erzielt Dieter Müller sechs Tore beim 7:2 gegen Werder Bremen. Keinem vor ihm und keinem nach ihm ist das je gelungen in 50 Jahren Bundesliga. Logisch, wird er 1978 Torschützenkönig mit 34 Töpfen; sechs mehr als Gerd Müller.

In Düsseldorf wird ein 12:0 daraus, der höchste Sieg in der Bundesliga bis heute. Köln gewinnt jedoch 5:0. Drei lausige Tore mehr reichen zur Meisterschaft. Oder, wie der Rheinländer zu sagen pflegt: Et hät noch emmer joot jejange. Aber wie.

Nachtrag:

Bernd Cullmann erzählt später, dass die Kölner Spieler in St. Pauli nichts von der Torflut mitbekommen hätten, wohl aber die Hektik, die die auf der Kölner Bank beim Stand von 2:0 ausbrach: «Trainer und Ersatzspieler forderten uns auf, Gas zu geben und weiter nach vorne zu spielen. Für uns unverständlich, denn wir wussten nichts von dem was zeitgleich in Düsseldorf abging.»

Das Saisonfinale 1978 beflügelte selbstverständlich jede Menge Verschwörungstheorien. Befördert durch Fakten wie ein Fernsehinterview von Dortmunds Präsidenten Heinz Funke vor dem Spiel, in dem er über die Chancen der Gladbacher sagte: «Ja, da müssten wir schon 0:12 verlieren.»

Im Jubiläums-Kompendium «50 Jahre Bundesliga» (Werkstatt-Verlag) erinnert sich der Dortmunder Spieler Lothar Huber: «Nach dem 10:0 hat keiner mehr den Ball aus dem Tor geholt. Da lief der Schiedsrichter, den Ball unter dem Arm, zur Mittellinie.»

Und diese kleine Geschichte vom Spielfeldrand wird auch noch kolportiert: Beim Stand 7:0 fordert Otto Rehhagel den auf der Bank sitzenden Siegfried Held auf: «Siegfried, machen Sie sich warm. Ich bring Sie gleich.» Der 36-jährige Held, ein Ex-Nationalspieler und 1966 Weltmeister mit Deutschland, machte jedoch keinerlei Anstalten, ignoriert auch die zweite Aufforderung des Trainers, zupft gelangweilt an seinen markanten Augenbrauen und bringt Rehhagel völlig in Rage: «Sie wollen mich wohl verarschen.» Siggi Held, so die Schilderung diese Szene, erhebt sich von der Ersatzbank, tritt  Rehhagel entgegen und sagt ganz gelassen: «Trainer, mal ehrlich, soll ich diese Scheisse noch umdrehen, oder was?»

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