«Asylchaos»? Es ist an der Zeit, Haltung und Herz zu zeigen

Die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer hat kein Problem mit Asylsuchenden. Sie wird aber von Fanatikern übertönt. Das ist gefährlich für unser Land.

Verkehrte Welt: Bilder von verzweifelten Menschen gehen tagtäglich um den Globus – und in der Schweiz ruft die SVP den nationalen Asylnotstand aus (Bild: Syrische Flüchtlinge stranden auf der griechischen Insel Lesbos, 23. August 2015).

(Bild: ALKIS KONSTANTINIDIS)

Die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer hat kein Problem mit Asylsuchenden. Sie wird aber von Fanatikern übertönt. Das ist gefährlich für unser Land.

Menschen, die im Meer ertrinken oder in einem Lastwagen ersticken. Schutzsuchende, die von Polizisten niedergeknüppelt werden. Schreckensmeldungen wie diese wollen nicht abreissen in diesen Tagen, und es käme einem Wunder gleich, wenn nicht noch mehr Leid folgen würde.

In das Entsetzen über die menschlichen Tragödien mischen sich bei manchen Schweizerinnen und Schweizern auch Scham, Befremden und Wut.

Scham, in einem Land zu leben, in dem es «salonfähig geworden ist, mit dem Elend der Flüchtlinge Politik zu machen», wie es der Journalist und ehemalige Flüchtlingshelfer Beat Kraushaar in der «Schweiz am Sonntag» auf den Punkt brachte. Befremden über Politiker, die im Angesicht des Grauens ein «Asylchaos» beklagen, das hierzulande gar nicht existiert. Und Wut auf Medien, die den menschenverachtenden Pöbeleien einiger weniger Wohnzimmerfanatiker in Online-Foren eine prominente Plattform geben.

Bislang schwieg die grosse Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger. Und während die SVP seit Wochen mantramässig die angeblichen Missstände in der hiesigen Asylpolitik anprangert, war von den anderen Parteien erstaunlich wenig zu hören. Kann es wirklich sein, dass die von den aktuellen Krisen weitgehend verschonte Schweiz zu einem wohlstandsverwöhnten, kaltherzigen Land geworden ist, das sich um das Elend in der Welt foutiert?

Die ausländerfeindliche «Asylchaos»-Debatte vergiftet das Klima und schädigt den Zusammenhalt. Sie ist zutiefst unschweizerisch.

Differenzierte Betrachtungen ergeben ein anderes Bild. So etwa eine vor Monatsfrist veröffentlichte Umfrage der Westschweizer Wochenzeitung «L’Hebdo» zur Akzeptanz neuer Asylzentren. Die Ergebnisse sind bemerkenswert – wer erinnert sich noch an sie?

Mehr als die Hälfte der Befragten hätte keine Probleme damit, wenn in ihrer Wohngemeinde eine Flüchtlingsunterkunft eröffnet würde. Ein Drittel wäre «eher einverstanden». Und jeder Fünfte wäre bereit, einen Asylsuchenden unter dem eigenen Dach aufzunehmen. Solche Stimmen gehen leicht unter in der Hysterie, die im Wahlkampf von einigen Parteien gezielt geschürt wird.

Die Zuwanderung stellt Europa (und die Schweiz) vor neue Herausforderungen und birgt grosse Probleme. Die zunehmend aus dem Ruder laufende ausländerfeindliche «Asylchaos»-Debatte aber ist gefährlich. Sie vergiftet das politische Klima, untergräbt den sozialen Zusammenhalt und schädigt den Ruf der Schweiz als Gastgeberin der wichtigsten internationalen Institutionen. Sie ist zutiefst unschweizerisch.

Es ist Zeit, Haltung und Herz zu zeigen. Die kommenden Wahlen bieten eine Gelegenheit dafür.


Lesen Sie zu diesem Thema das Interview mit dem Berner Rechtsphilosophen Martino Mona: «Ich habe nichts dafür geleistet, dass ich in der Schweiz geboren wurde.»

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