Vier Volksinitiativen fordern eine gerechtere Verteilung der Einkommen. Die erste, nämlich die Abzocker-Initiative, hat das Volk angenommen. Der Klassenkampf hat die bürgerliche Gesellschaft erreicht.
Nun ja, der 1. Mai. Tag der Arbeit, arbeitsfreier Tag. Es sind – besonders in der Schweiz – nur noch Unentwegte, die im traditionellen Umzug mitmarschieren und den Reden der Gewerkschaftsführer und SP-Grössen lauschen. Den klassischen, gewerkschaftlich organisierten Arbeiter gibt es halt nicht mehr so häufig in unserer Dienstleistungsgesellschaft. Sagt man …
… und tut das Getue am 1. Mai als Folklore ab.
Es mag ja sein, dass in der Dienstleistungs-Schweiz der Gegensatz zwischen Fabrikarbeiter und stumpenrauchendem Unternehmer zur historischen Anekdote geworden ist. Die Entfremdung aber zwischen Vermögenden und Abzockern einerseits und Lohnabhängigen andererseits ist alles andere als Geschichte. Sie ist in den letzten 20 Jahren gewachsen. Bis zum Ende des Kalten Krieges Ende der 1980er-Jahre waren die bürgerlichen und freisinnigen Kräfte des Landes bemüht, den sozialen Frieden zwischen Wohlhabenden und Werktätigen aufrechtzuerhalten. Sozialwerke wurden auf- und ausgebaut, Arbeitsbedingungen verbessert. Der soziale Friede galt als Garant für eine aufstrebende Volkswirtschaft.
Das alles ist in Gefahr. Sozialwerke, sozialer Friede, Solidarität – das sind nicht gerade Schimpfwörter, aber doch altmodische Begriffe geworden. Der Neoliberalismus der 1990er-Jahre hat die Rücksichts-losigkeit, die bedenkenlose Gewinn-maximierung, die Abzockerei geadelt. Die grosse Mehrheit der Bevölkerung hat immer stärker den Eindruck, dass sie ausgenutzt wird. Deshalb wurde die Abzocker-Initiative angenommen, deshalb haben die Mächtigen Angst vor der 1:12-, vor der Erbschaftssteuer-, vor der Mindestlohn-Initiative. Der 1. Mai findet nicht nur am 1. Mai statt, sondern auch dann, wenn ganz normale Bürger an die Urne gehen – und davon handelt unsere Titelgeschichte.
von Urs Buess, Co-Redaktionsleiter
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 26.04.13