Der Friede hat einen Zombie geboren

Das Friedensvertrag von Dayton war ein diplomatischer Parforceritt. Die internationale Gemeinschaft hat sich aber zu früh von Bosnien-Herzegowina abgewendet.

Das Friedensvertrag von Dayton war ein diplomatischer Parforceritt. Die internationale Gemeinschaft hat sich aber zu früh von Bosnien-Herzegowina abgewendet.

Die Flüchtlingszahlen in der Schweiz steigen. Doch sie liegen noch immer unter jenen aus den 1990er-Jahren, als Menschen vom Balkan hier Zuflucht vor dem Krieg suchten. Erst aus Bosnien-Herzegowina, später aus dem Kosovo.

Beendet hat das Töten in Bosnien und Herzegowina ein diplomatischer Parforceritt vor 20 Jahren. Am 14. Dezember unterzeichneten die Präsidenten der drei Ethnien im Lande offiziell das Dayton-Abkommen.

Nach Schätzungen starben in den Kriegsjahren von 1992 bis 1995 mindestens 100’000 Menschen in Bosnien. 1,2 Millionen flohen ins Ausland, mindestens so viele wurden im Land selbst vertrieben

Wirtschaftlich ruiniert und kulturell bankrott – aber stabil

Die Bilder des Grauens sind weitgehend aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden – so wie die Flüchtlinge von damals aus der öffentlichen Wahrnehmung. Noch immer leben aber über 10’000 Bosnierinnen und Bosnier unter uns. Sie haben sich in der Schweiz eine neue Heimat geschaffen.

Aber was geschah in den vergangenen 20 Jahren in Bosnien? Die Antwort: nicht viel.

Bosnien-Herzegowina lebt nicht, aber tot ist der Staat auch nicht. Er ist ein Zombie. Politisch blockiert, wirtschaftlich ruiniert und kulturell bankrott – das aber stabil. Gründe zur Flucht gibt es offiziell keine, wer kann, verlässt das Land trotzdem.

Minister, Verwalter und Bürokraten haben auf Basis des Dayton-Abkommens einen Klientelismus errichtet, den sie nur zu gerne bewirtschaften.

Das Dayton-Abkommen hat den Krieg beendet, aber keinen «wirklichen Frieden» geschaffen, wie auch Wolfgang Ischinger im Interview sagt. Der deutsche Diplomat hat die Friedensverhandlungen auf der Militärbasis in Ohio begleitet und spricht von einem grossen Fehler, der begangen wurde: «Die eigentlich schwierige Aufgabe fängt erst dann an, wenn die Waffen schweigen. Manche haben gedacht, sie können sich anderen Themen zuwenden, wenn die Tinte unter dem Abkommen trocken ist. Das war falsch.»

Die Folge des starren, auf Friedenssicherung fixierten Vertrages ist Stillstand. Der bosnische Durchschnittsbürger trägt dafür die kleinste Schuld, wie unsere Porträtserie zeigt. Profiteure sind die Minister, Verwalter und Bürokraten. Sie haben auf Basis des Dayton-Abkommens einen Klientelismus errichtet, den sie nur zu gerne bewirtschaften.

Den Menschen bleibt entweder die Wahl des richtigen Parteibüchleins oder die Hoffnung auf die internationale Gemeinschaft. Aber die hat lieber einen stabilen Zombie, als einen lebendigen Staat. Sicher ist sicher.

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Vor 20 Jahren beendete eine Reihe von Unterschriften den Bosnienkrieg. Das Töten hat damals aufgehört, aber wie weit ist der Frieden gekommen? Die TagesWoche wollte es genau wissen, unser Korrespondent Krsto Lazarević ist eine Woche durchs Land gezogen und hat Menschen befragt. Entstanden ist eine Porträtserie, deren Einzelgeschichten Sie nachfolgend aufgelistet finden.

Wer sich ein Bild vom Land machen will, dem empfehlen wir den Bildstoff – aber auch die Erklärung des politischen Systems, schliesslich gilt es als das komplizierteste der Welt.

Getrennte Schulen und ihre Wirkung: Grundschullehrerin Nela Rajić erzählt.

Die Islamisten kommen zum Kaffee: Was die Teilung des Landes zur Folge hat, erzählt Blagoje Vidović.

Auch Flutopfer brauchen das richtige Parteibuch: Jasminka Arifagić über den Klientelismus im Land und seine leidigen Folgen.

Der Frieden diskriminiert diejenigen, die keinen Krieg führten: Das Dayton-Abkommen hat Minderheiten im Land nicht berücksichtigt. Welche Folgen das hat, erzählt Boris Kozemjakin, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde von Sarajevo.

Jugend braucht Perspektiven statt Vorurteile: Milan Todorović gehört der Nachkriegsgeneration an. Als Serbe unter Bosniaken aufgewachsen, engagiert er sich mit einer selbst gegründeten Organisation für die Jugend.

Damals Flüchtling, heute erfolgreiche Unternehmerin: Interview mit Enisa Bekto, die ins Land zurückgekehrt ist und sagt: «Frauen sind besser qualifiziert».

«Tod dem Nationalismus»: Die Proteste gegen Privatisierung in Tuzla 2014 waren nicht nationalistisch motiviert, sagt Journalist Kušljugić im Interview.

Bosnien bleibt immer Teil meiner Identität: Selma Merdan ist vom Krieg geflüchtet und hat in Basel eine neue Heimat gefunden.

Zudem erklärt Autor Norbert Mappes-Niediek, wie das Friedensabkommen genau zustandegekommen ist und welche Fehler begangen wurden:

Wie die Amerikaner sich vor 20 Jahren in Bosnien durchsetzten – und sich dabei verschätzten

Im Interview hat Mappes-Niediek zudem mit dem deutschen Diplomaten Wolfgang Ischinger – Leiter der deutschen Delegation in Dayton – über die Fehler von damals und Parallelen zum Syrienkrieg gesprochen:

«Bis heute ist aus dem Waffenstillstand kein wirklicher Frieden geworden»

Den gesamten Schwerpunkt in der Übersicht finden Sie in unserem Dossier zum Thema.

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