Jugend ohne Gott

Immer mehr Jugendliche wachsen ohne Religion auf. Nach welchen Werten orientieren sie sich?

Gott ist tot! Als sich Nina Hagen diese Zeile im Song «Auf’m Friedhof» (1979) aus der Seele schrie, waren wir Teenager begeistert. Selten zuvor hatte jemand so freche, blasphemische Texte gesungen. Schon gar keine Frau. Und schon gar nicht auf Deutsch. Die schrille Rockgöre aus Ostdeutschland war die fleischgewor­dene Revolution gegen den spiessbürgerlichen Mief.

Gott ist tot – natürlich war diese Formel bereits damals nicht mehr wirklich revolutionär. Fast ein Jahrhundert zuvor hatte bereits der Philosoph Friedrich Nietzsche Gottes Tod verkündet. Und wir Spätgeborenen litten ja auch nicht wirklich unter Gott oder religiösen Fragen. Vor allem nicht, wer wie ich in einer urbanen Umgebung aufwuchs.

Meine Eltern würde man heute, wissenschaftlich betrachtet, zu den «distanzierten Christen» zählen. Religion spielte für sie nie eine zentrale Rolle. Gebete und Gottesdienste gehörten nie zum alltäglichen Programm. Dem christlichen Werte­katalog dagegegen stimmten sie immer zu. Religions­unterricht war für mich Pflicht. Und religiöse Rituale wie Taufe oder Konfirmation standen nie zur Debatte.

Die religiöse Frage hat sich radikalisiert.

Das ist heute anders. Die religiöse Frage hat sich radikalisiert. Manche haben sich zwar von den Volkskirchen abgewandt und sind Freikirchen beigetreten. Viele fühlen sich aber weder einer Kirche noch einer Religion zu­ge­hörig; in Basel etwa sind 45 Prozent der Bevölkerung konfessionslos. Andere zahlen zwar noch Kirchen­steuern, erziehen ihre Kinder aber religionsfrei.

Kann das gut kommen? Das fragt sich Philipp Loser, selber Vater eines Kindes, in unserer Titelgeschichte. Was bedeutet diese Religions­ferne für die heranwachsende Generation? Nach welchen Werten wird sie leben? Wird sie freier sein? Was kommt nach Gott? Es ist ein soziales Expe­riment mit offenem Ausgang.

Nina Hagen übrigens singt heute gerne Gospelsongs. Und in ihrer Autobiografie «Bekenntnisse» (2010) inszeniert sich die Skandalsängerin als gläubige ­Evan­gelistin: feuriges Christentum als ultimative Form der Provo­kation.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 02.08.13

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