In einem Ordner, dessen blaue Deckel sich wölben, bewahrt Tatjana Binggeli ihren Werdegang auf. IV-Anträge, Absagen, Gerichtsentscheide und Bewilligungen: Will eine Gehörlose in die Medizin, braucht sie Durchhaltewillen. Als Präsidentin des Schweizerischen Gehörlosenbundes (SGB) setzt sie sich nun für einfachere Zugänge für Gehörlose an Hochschulen ein. Das Interview mit Binggeli wurde mit Hilfe eines Dolmetschers in die Gebärdensprache geführt.
Tatjana Binggeli, Menschen mit Beeinträchtigungen erzählen von Einflussnahmen der IV auf ihre Fachwahl. Welche Beobachtungen macht der SGB?
Wir bekommen immer wieder mit, wie die IV sicherstellen will, dass das Studium «zum Gehörlosen passt». Das bedeutet direkte Einflussnahme auf die Studienwahl. Mit anderen Worten: Andere dürfen jedes Fach studieren, weil sie nicht beeinträchtigt sind, wir nicht. Nur weil wir gehörlos geboren wurden. Die IV meint damit bessere Chancen auf eine Anstellung nach dem Studium generieren zu können. In der Schweiz besteht das Recht auf freie Berufswahl. Ich zweifle an der Fähigkeit der IV vorauszusehen, wer mit welchem Studium erfolgreich eingegliedert werden kann.
Bei Fächern wie beispielsweise Philosophie sind die Anstellungschancen aber wirklich gering.
Ja, aber wer kann absehen, wo ein Philosophiestudent am Ende landet? Auch er arbeitet auf einen Beruf hin. Es ist nur weniger offensichtlich, welcher es sein wird.
Eine Lehre wäre aber sicherer.
Nicht wirklich. Auch viele Lehrabgänger, die direkt einen Beruf erlernen, sind arbeitslos. Hier muss die IV anders vorgehen: Statt den Versicherten Vorschriften zu machen, müsste sie bei den Firmen für mehr Akzeptanz werben. Das Problem ist nämlich hauptsächlich, dass Beeinträchtigte als Arbeitnehmer noch immer nicht gerne angestellt werden. Unter dem Strich lässt die IV Beeinträchtigte also um ihr Studium kämpfen, weil sie keine Arbeitslosen will, tut aber zu wenig, um überhaupt Arbeitsplätze sicherzustellen.
Sie sind mithilfe der IV Akademikerin mit einem Doktortitel geworden, mussten Sie auch darum kämpfen?
Ja, immer wieder, und es war eine sehr harte Zeit für mich. Zum ersten Mal, als ich ins Gymnasium wollte. Die IV und auch die Schulleitung der Sonderschule setzten bei mir und meinen Eltern Druck auf. Die Beamten wollten, dass ich eine Lehre mache. Ich weigerte mich, schliesslich hatte ich den nötigen Notenschnitt und die Aufnahmeprüfung bestand ich auch. Mit 17 gelang es mir – trotz grosser Skepsis seitens von Schulleitung und IV – in ein öffentliches Gymnasium aufgenommen zu werden. Die IV blieb trotzdem kritisch und liess mich sogar einen Intelligenztest machen. Sie hielten mich aufgrund meiner Hörbehinderung wohl für zu wenig gescheit.
Warum wollte die IV Sie nicht ins Gymnasium lassen?
Sie sahen wohl nur das Kosten-Risiko-Verhältnis. Ich brauchte häufig Dolmetscher, die den Unterricht in die Gebärdensprache übersetzten. Das ist teuer. Gleichzeitig war in ihren Augen nicht sicher, dass ich das Gym schaffen und danach einen Job finden würde.
Wie sah Ihr Kampf mit der IV genau aus?
Ich musste regelmässig um Gebärdensprach-Dolmetscher bitten, was die IV nicht bezahlen wollte. Sie hielten einen Übersetzer nicht überall für nötig, ich sollte von den Lippen lesen. Dabei war das nicht einmal bei allen IV-Beamten möglich, weil sie so undeutlich sprachen und die Gebärdensprache nicht konnten. Jeden Monat musste ich der IV einen Bericht schreiben, wie es um mein Studium steht. Verpasste ich zum Beispiel eine Prüfung, wollte die IV ihre Leistungen gleich stoppen. Irgendwann wurde es mir zu bunt, ich musste sogar das Studium kurz abbrechen. Ich holte mir ein Darlehen und Bankkredite, mit denen ich die Hilfsmittel selber bezahlte. So war ich die Scherereien mit der IV für eine gewisse Zeit los und konnte das Studium abschliessen. Gleichzeitig forderte ich mein Recht beim Verwaltungsgericht ein und bekam dieses zugesprochen.
Sie wussten bald, dass Sie Medizin studieren wollten. Wie nahm die IV den Vorschlag auf?
Nun, ich musste auch hier kämpfen. Es brauchte viel Überzeugungsarbeit, dass ich das Studium schaffen kann. Wieder hatte ich alle Voraussetzungen: die Matur und den Numerus Clausus. Aber wieder wollte die IV nicht an mich glauben: «Warum wählen Sie gerade das schwierigste Studium überhaupt?» Irgendwann setzte ich mich durch. Aber es kostete Kraft und war mit grossem Administrativaufwand verbunden. Meine Eltern waren eine wichtige Stütze. Dieses Glück haben nicht alle Gehörlosen. Sie knicken irgendwann ein und machen, was die IV vorschlägt, statt die eigenen Wünsche zu verfolgen.
Was fordern Sie von der IV und der Politik, die die Regeln der IV schreibt?
Es ist leider so, dass Menschen mit Behinderungen immer noch mit behindertenspezifischen Mehrkosten kämpfen müssen. Die IV-Beamten erledigen ihren Job gemäss Vorgaben, das ist auch okay so. Aber es ist nicht akzeptabel, dass sie den Werdegang oder das Leben der Betroffenen mitbestimmen und sogar Druck ausüben. Es gibt wie gesagt Verbesserungspotenzial. Besonders im Hinblick auf die UNO- Behindertenrechts-Konvention und das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG). Darauf poche ich. Konkret bedeutet das: Die IV soll Menschen mit Behinderungen vermehrt auf ihrem Weg begleiten statt fremdsteuern. Die persönliche Integrität muss von den Behörden und der Politik respektiert werden. Uns muss die gleiche Freiheit zustehen wie Menschen ohne IV. Darum müssen wir unseren Berufs- und Bildungsweg selber bestimmen dürfen.
Wie ist das umzusetzen?
Bei der gesetzlichen Grundlage sehen wir keinen grossen Handlungsbedarf, aber die Umsetzung ist mangelhaft. Da liegt noch ein weiter Weg vor uns. Bei den Gehörlosen sollte es damit beginnen, dass man uns wirklich zu verstehen versucht, auch unsere Kultur und Sprache. Viele Gehörlose geben auf, weil sie schon an der Sprache und Kommunikation scheitern. Weiter sollte sich die Politik dafür einsetzen, dass gehörlose Menschen besseren Zugang zu Bildung und gesellschaftlicher Partizipation bekommen. Nur so können wir auf jedem Gebiet als gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger teilnehmen. Das hat grossen Einfluss auf die Lebensqualität. Gegenüber Firmen plädiere ich für mehr Offenheit, Mut und Unternehmergeist. Sie sollen Gehörlose als normale Fachkräfte sehen – manche mit herausragenden Fähigkeiten. Ohne das nützt auch die beste Berufsbildung nichts. Wenn Gehörlose und andere Menschen mit Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt gleich behandelt werden, erübrigen sich auch die leidigen Geschichten rund um die Studienwahl, die viele heute erleben müssen. Und das entlastet dann auch wieder die IV.
Tatjana Binggeli ist 44 Jahre alt und arbeitet als medizinische Forscherin in der Augenklinik des Universitätsspitals Basel. Nach einem Abschluss in Zahnmedizin vertiefte sie ihr Interesse an der klinischen Forschung und studierte medizinische Parasitologie und Infektionsbiologie. Es folgte ein Doktoratsstudium in wissenschaftlicher Medizin. In ihrer Doktorarbeit untersuchte Binggeli die Barrierefreiheit medizinischer Dienstleistungen für Menschen mit Hörbehinderung. Tatjana Binggeli ist verheiratet und hat zwei Kinder.