Der Filme- und Theatermacher Stephan Laur über die Villa Rosenau, seine «wilde Zeit» als Hausbesetzer in den 1980er-Jahren und die Bedeutung von Freiräumen für Junge.
Das Sudhaus auf dem Areal der ehemaligen Warteck-Brauerei, das Unternehmen Mitte, die einstigen Zwischennutzungen auf dem Bell-Areal, in der Stückfärberei oder in der Schlotterbeck-Garage beim Bahnhof – all dies wäre in Basel nicht entstanden ohne jene Handvoll Jugendlicher, die zu Beginn der 1980er-Jahre für mehr Freiräume auf die Strasse gegangen waren.
Der Filme- und Theatermacher Stephan Laur gehörte zu den Basler Freiraum-Aktivisten der ersten Stunde. Im Gespräch zieht der 49-Jährige schonungslos Bilanz über das Scheitern der Hausbesetzer- und Punkbewegung im Basler AJZ von 1981, das im Drogensumpf endete – und er erklärt, weshalb die Wiederauferstehung der Freiraumbewegung vor 25 Jahren auf dem Areal der «Alten Stadtgärtnerei» glückte.
Laur hat sich in den letzten Jahren einen Namen mit Film- und Theaterprojekten von und mit Menschen in besonderen Lebenslagen gemacht. So arbeitete er etwa mit krebskranken Kindern und Jugendlichen, Migranten und Drogenabhängigen. Derzeit arbeitet Laur an einem Film über den «Waldplatz»: ein Projekt der kantonalen Tagesstätten, das Schwerst- und Mehrfachbehinderten ein würdevolles Leben ermöglicht.
Sobald die Finanzierung gesichert ist, will er mit dem Verein «Fokus Leben» ein Film- und Theaterprojekt mit jungen Menschen starten, die an Anorexie und Bulimie leiden. «All diese Arbeiten sowie meine partizipative Vorgehensweise gehen auf meine Anfänge in den 1980er-Jahren zurück», sagt Laur, «ohne die ‹Alte Stadtgärtnerei› wäre ich nicht dort, wo ich heute bin.»
Herr Laur, Sie sind dreifacher Familienvater, Dokumentarfilmer und Theaterschaffender – eine erstaunlich bürgerliche Karriere für einen einstigen Besetzer.
Bürgerlich würde ich meine Karriere nicht gerade bezeichnen. Vieles, was ich heute als Kulturschaffender mache, hat seinen direkten Ursprung in der Freiraumbewegung.
Was war denn so prägend?
Die Kreativität und das Engagement. Plötzlich hatte man die Möglichkeit, etwas zu machen, zu gestalten. Ich machte schon als Jugendlicher Theater. Aber in der ab 1986 besetzten «Alten Stadtgärtnerei» beim St. Johanns-Tor konnte ich aus dem Vollen schöpfen.
«Bürgerlich würde ich meine Karriere nicht gerade bezeichnen.»
Wie sah das Basel Ihrer Jugendzeit aus?
Mit 14 bewegte ich mich in der Punkszene; wir trafen uns meistens im «Rialto» oder ab und zu im Migros-Restaurant. Stellen Sie sich das mal vor! Damals war Basel wirklich eine sehr verknorzte, biedere und tote Stadt. Ausgangsmöglichkeiten gab es für uns kaum. In die Discos liess man uns nicht rein. Nur am Mittwochnachmittag in die «Drämmli-Disco im Sommercasino und einmal im Monat in die mobile Grossdisco namens «Elec». Es gab kaum Angebote für junge Leute. Wer ausgehen wollte, landete bei den Alkoholikern in Kleinbasler Bars oder im Drogenmilieu – was sich für viele meiner Generation als tödliche Kombination erwies.
Wie wurden Sie eigentlich damals «radikalisiert» und zum Punk?
Zum Punk wurde ich, nachdem ich einen Dokumentarfilm über die britische Musikszene gesehen hatte. Ich war elektrisiert von der Musik und den Leuten. Schon zuvor bewegte ich mich in der alternativen Szene. Meine beiden älteren Brüder waren in der 68er-Bewegung aktiv. Ich bewunderte sie, ging in den 1970er-Jahren mit Ihnen aus und lernte die letzten Ausläufer der Hippie-Zeit kennen. Dabei hatte ich wie viele meiner Altersgenossen das Gefühl, das Tolle dieser Bewegung verpasst zu haben. Wir sehnten uns förmlich danach, dass endlich irgendetwas passiert.
Die meisten Bewegten der 1980er-Jahre hatten einen bildungsbürgerlichen Hintergrund: War es eine «Revolution der Wohlstandsverwahrlosten»?
Mein Vater war Buchhändler und Korrektor – ich würde das nicht gerade als bildungsbürgerlich bezeichnen, aber er war sehr belesen. Aber Sie haben Recht: Die meisten entstammten stabilen Familienverhältnissen.
Sie waren Sänger von Basels erster Punkband Vandal-Ex: Wo traten Sie damals auf?
Den ersten Auftritt hatten wir auf dem Petersplatz an einem illegalen Fest, die AJZ-Bewegung war dann schon im Gange. Später durften wir in einem besetzten Haus der Jugendorganisation der Progressiven Organisationen Basel (POB) auftreten. Man musste die Orte wirklich suchen damals.
In den POB fand die 1980er-Jahre-Bewegung eine parlamentarische Fürsprecherin – was nicht von allen Bewegten goutiert wurde. Wie war Ihr Verhältnis zu den POB?
Zum Teil hatten wir direkte Beziehungen zu POB-Leuten, da diese ja die einzigen waren, die uns unterstützten. Meine Ansicht damals war allerdings, dass sich unsere Anliegen nicht institutionell regeln lassen würden.
In einem Ihrer damaligen Songtexte heisst es «S’isch kai Schpass uff dr Gass, Basel isch en abgschlaffts Kaff» – kurz darauf, 1981, besetzten Sie ein altes Postgebäude an der Hochstrasse und gründeten ein AJZ. Wie kam es dazu?
(lacht) Es war fast eine generalstabsmässig geplante Aktion. Irgendjemand meinte, es gebe ein leeres Gebäude an der Hochstrasse. Dann entwarfen wir einen Plan, wie wir die Polizei austricksen konnten, die uns ständig auf den Fersen war…
Und wie sah dieser Plan aus?
An einer Demo gaben wir vor, zum Sommercasino gehen zu wollen. Irgendwann rannten wir Richtung Hochstrasse los und nahmen das alte Postgebäude in Beschlag.
War Ihnen klar, worauf was Sie sich einliessen?
Überhaupt nicht. Wir hatten nur ein grosses Bedürfnis: Freiraum. Wir waren damals wirklich naiv, niemand konnte mit der Situation umgehen. Schnell wurden wir überrannt, was auch dazu führte, dass die ganze Drogenszene und der Gundeli-Strich teilweise im AJZ landeten. Das Haus war bald Hauptumschlageplatz für sämtliche Drogen. Wir liefen völlig ins Messer.
Inwiefern?
Drogen- und Jugendszene kamen zusammen – man konnte regelrecht zusehen, wie einer nach dem anderen draufging…
Ein paar Jahre nach dem gescheiterten AJZ startete 1986 auf dem Areal Stadtgärtnerei beim St- Johanns-Tor ein anderes Freiraumprojekt. Was machten Sie dort besser als im AJZ?
Die «Stadtgärtnerei» war ein viel grösserer Erfolg als das AJZ, weil es hier gelang, etwas Positives zu erschaffen. Das AJZ dagegen hatte vor allem destruktive Kräfte freigesetzt – und auch viele Opfer produziert. Die Stadtgärtnerei zog auch viel mehr Leute an.
Gab es noch weitere Unterschiede?
Das AJZ war radikal basisdemokratisch organisiert. Jeder durfte kommen und gehen, wie er wollte, jeder mitbestimmen. In der «Stadtgärtnerei» dagegen behielten die Macher das Heft in der Hand und bestimmten massgeblich, was gemacht wurde und was nicht. In einem gewissen Sinn hatten wir begonnen, pragmatisch und sehr viel realitätsnaher und professioneller zu handeln. Ganz entscheidend war aber, dass sich in der «Stadtgärtnerei» Leute aus sehr vielen gesellschaftlichen Schichten und Szenen zusammengerauft hatten und an einem Strick zogen. Das Ganze war viel breiter abgestützt und weniger anarchistisch. Die gelebte Kultur stand hier im Zentrum und nicht Politik. Und was wohl das wichtigste war: alle waren irgendwie kreativ tätig dort, das setzte eine Menge positiver Energien frei.
Was sich dann auch in der legendären Volksabstimmung vom 8. Mai 1988 wiederspiegelte, als sich 44 Prozent der Basler Stimmbevölkerung für die Stadtgärtnerei als «permanentes Provisorium» ausgesprochen hatten.
Wir waren total überrascht über den grossen Zuspruch der Baslerinnen und Basler. Es gab am selben Abend noch ein Riesenfest! Das Ergebnis war sicher auch das Resultat unseres Abstimmungskampfes, den wir sehr akribisch vorbereitet und konsequent durchgezogen hatten. Wir produzierten zum Beispiel eine Abstimmungszeitung, die an jede Haushaltung in Basel verteilt wurde. Es war kein Propagandablatt, sondern eine sehr kreativ und witzig gemachte Postille, die den Leuten offenbar viel Freude bereitete.
Einen weiteren Schritt in Richtung «Professionalisierung» machte die Kulturraumbewegung zu Beginn der 1990er-Jahre in der Schlotterbeck-Garage beim Bahnhof. Erstmals wurde kein Haus besetzt, sondern es wurde ein Zwischennutzungs-Deal abgeschlossen – was in Teilen der Hausbesetzerszene als Verrat gedeutet wurde. Wie war damals Ihre Position?
Ich konnte mich damals weder für die eine noch für die andere Fraktion erwärmen. Ich glaube, dass es damals vielen Leuten so ging. Die polarisierenden Stimmen wurden wahrscheinlich einfach besser gehört, weil sie lauter waren… Für mich war diese Diskussion viel zu ideologisch.
Was geht Ihnen, durch den Kopf, wenn Sie heute Orte wie die «Mitte» oder das «Sudhaus» besuchen, die aus der Schlotterbeck-Bewegung herausgewachsen sind?
(lacht) Ich bin hier Gast und Konsument.
Es sind keine Orte des Aufbruchs mehr, sondern Institutionen wie viele andere auch.
Das ist sicher so. Ich nehme diese Orte aber trotzdem als Bereicherung wahr. Wo gibt es denn Restaurants wie zum Beispiel die «Mitte», wo man am Mittwochnachmittag mit den Kindern herumhängen kann?
Mit Markus Ritter, einem der Drahtzieher der «Stadtgärtnerei» und des «Schlotterbeck»-Projekts, ist die Kulturraumbewegung inzwischen ganz oben angelangt: Heute ist Ritter Berater von Regierungspräsident Guy Morin. Die Revolutionäre von einst wurden gezähmt …
Ich kann nicht für andere sprechen. Aber ich glaube schon, dass in Basel heute ein anderer Geist spürbar ist als in den 1980er-Jahren, als die Stadt kulturell tot war. Aber jene Leute aus der 1980er-Bewegung, die heute politisch oder wirtschaftlich Einfluss auf die Gesellschaft ausüben, mussten sich natürlich arrangieren. Wer in der Politik etwas verändern will, verstrickt sich automatisch in Widersprüche.
Sie gingen einen anderen Weg.
Für mich war es immer wichtig, selbstbestimmt arbeiten zu können. Grossprojekte oder Parteiarbeit waren nie mein Ding. Und ich ich bin mir auch sicher, dass ich mit meiner Arbeit, mit Film- und Theaterprojekten mit Menschen in speziellen Lebenslagen, sehr viel mehr bewirken kann als zum Beispiel in der Politik.
Wie beurteilen Sie die emotionale Debatte rund um die Villa Rosenau, in der sich bis vor kurzem Freiraum-Aktivisten verschanzt hatten?
Ich kenne die Villa Rosenau nicht. Was ich aber mit Distanz feststelle: Die Bewegung stand nie im Zentrum. Die ehemalige Stadtgärtnerei war in den 1980er-Jahren ein extremes Thema in der Stadt, die Villa Rosenau heute aber nicht.
Woran liegt das?
Die Möglichkeiten für junge Leute haben sich fundamental verändert. Man kann heute fast rund um die Uhr feiern. Es gibt heute keine grosse Bewegung von zornigen jungen Menschen mehr, nur noch vereinzelte Splittergruppen.
Ehemalige Bewegte werfen den heutigen Jungen vor, nur noch zu konsumieren und rumzuhängen. Können Sie die Kritik nachvollziehen?
Solche Aussagen finde ich problematisch. Wir ärgerten uns damals selber über solche pauschale Äusserungen – und plötzlich gehört man selber zu den Alten und hat das Gefühl, über die Jungen urteilen zu können. Ich arbeite in meinen Projekten regelmässig mit Jugendlichen zusammen und erlebe dort sehr engagierte junge Menschen. Aber die vermeintlichen Antworten sind nicht mehr so klar…
Wie meinen Sie das?
Die Gesellschaft ist nicht mehr so verkrustet, miefig und bünzlig wie damals. Wir wussten ganz klar, wogegen wir kämpfen wollten.
Gibt es deshalb seit der Räumung der Alten Stadtgärtnerei vor 25 Jahren keine ernstzunehmende Subkulturszene oder Bewegung mehr in Basel?
Genau beurteilen kann ich das nicht, ich gehe jedoch davon aus. Ich finde es heute schwieriger zu sagen, woran die Welt oder Basel krankt. Damals meinte man noch, klar zu wissen, was man verändern muss, damit alles besser wird. Aber wer weiss das heute noch?
Wenn Sie heute Jugendlicher wäre – wären Sie dann in der Villa Rosenau anzutreffen gewesen?
Keine Ahnung. Ich wurde von der spezifischen Situation in der 1980er-Jahren geprägt – was mich ich heute als Jugendlicher beschäftigen würde, kann ich nicht sagen.
Bis vor kurzem gab es das n/t-Areal, das mit dem Treiben in der Alten Stadtgärtnerei vergleichbar war. Heute gibt es keinen solchen Freiraum mehr. Bedauern Sie das?
Ich konnte das Geschehen auf dem n/t-Areal nicht so genau mitverfolgen, weil ich zu der Zeit beruflich vor allem in Deutschland tätig war. Grundsätzlich glaube ich aber schon, dass jede Stadt Freiräume braucht, wo Leute ihr Umfeld kreativ mitgestalten und sich selber definieren können. Genau an solchen Orten kann Neues entstehen, das positiv in die Gesellschaft zurückstrahlt. Ich glaube aber nicht, dass es Aufgabe des Staates ist, solche Orte zu organisieren: Dann werden diese Räume zu etablierten Orten und eben nicht zu Freiräumen.
Genau diese Forderung war aber kürzlich von Seiten der heutigen Kulturraum-Aktivisten zu hören – dass der Staat Freiräume ermöglichen solle.
Ich glaube, dass das ein Widerspruch in sich ist. Das ist dasselbe wie die offiziellen Spraywände: solche behördlich bewilligten Wände bringen eine junge Kreativszene nicht wirklich weiter. Jugendliches Mitteilungsbedürfnis kann man nicht organisieren, denn es lebt davon, dass es nicht die offiziellen Kanäle benutzt, die die Gesellschaft bereitstellt. Was die Gesellschaft tun kann, ist, vernünftig auf solche Bedürfnisse zu reagieren – was ja in den 1980er-Jahren nicht immer der Fall war.
Sie glauben also, dass sich heute etwas zum Besseren gekehrt hat?
Ganz klar! Damals hätten uns aufgebrachte Bürger ja am liebsten den Kopf abgeschnitten. Die Forderung «Ab nach Moskau!» war ja noch das Netteste, was man uns wünschte. Im Fall der Villa Rosenau regte sich ja nur noch sein sehr kleiner Teil unser Bevölkerung wirklich auf. Leider sind diese engstirnigen Menschen oft auch die Lautesten, weshalb man am besten nicht hinhört.
Wo verkehren eigentlich Ihre drei Kinder?
(lacht) Wenn ich das wüsste! Meine älteste Tochter, die 21 ist, verkehrt auch eher in alternativen Kreisen.
Wahrscheinlich führt sie aber nicht so wildes Leben wie Sie damals in diesem Alter.
Zum Glück nicht!
Können Ihre Kinder eigentlich nachvollziehen, was Sie früher so trieben?
Das ist selten ein Thema. Meine wilde Phase dauerte ja relativ kurz, seit langer Zeit lebe ich ein eher ruhiges und zielgerichtetes Leben. Ich merkte schon bald nach der «Stadtgärtnerei», dass ein Mindestmass an Organisation nötig ist, um als Theater- und Filmschaffender Fuss fassen zu können (lacht).
Stephan Laur
Stephan Laur, 49, schlug sich nach der Schule mit Gelegenheitsjobs durch, studierte zwischen 1986 und 1988 Publizistik an der Schule für angewandte Linguistik in Zürich und arbeitete zwischen 1989 und 1991 als Journalist. 1993 drehte Laur seinen ersten Dok-Film: «Klatschmohn – aus dem Leben mit Heroin». Kurz darauf erschienen weitere Filme: «Solange wir noch atmen – das ganz normale Leben mit Aids» (1996), «Schneller Dezember» (1998). Nach diversen Film- und Theaterprojekten in Deutschland arbeitet Laur seit drei Jahren wieder vermehrt in Basel, wo er unter anderem einen Film über das Leben im Waisenhaus, ein Theaterprojekt zum Thema Migration und einen Film mit einer Klasse der Schule für Brückenangebote realisierte. Nebst seinen Film- und Theaterprojekten gibt er seit Jahren Qi-Gong-Unterricht. Stephan Laur ist Vater von drei Kindern im Teenager- und Erwachsenenalter.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 22.02.13