Hofesh Shechter: «Nicht alle, die mich holen, mögen meine Arbeit. Die merken nur, dass ihr Publikum durchgerüttelt werden muss.»

Hofesh Shechter bricht mit «The Fools» die Konventionen des klassischen Balletts. Im Interview zeigt der Starchoreograf, dass er auch abseits der Bühne ein spannender Querdenker ist.

Hofesh Shechter mag lieber urtümlich wilde Stammestänze als hübsch hüpfende Ballerinas. (Bild: Eleni Kougionis)

Hofesh Shechter, Sie schienen nach der Probe am Mittwoch sehr beschäftigt. Kurz vor der Premiere: Gibt es noch viel zu tun?

Mein Team hat das Stück mit den Tänzern wunderbar vorbereitet. Aber es gibt immer was zu tun: Timing, Licht, Sound.

Die Musik hätten Sie wohl gerne lauter. Bei Ihren Stücken wird sonst gerne Gehörschutz gereicht?
Ja, da hat es schon noch Luft nach oben, oder?

Da muss man nur den Regler drehen. Wieviel können Sie bei den Tänzerinnen und Tänzern in den zwei Tagen, die Sie hier vor Ort verbringen, verändern?

Ich bin drei Tage hier – schon einer reicht für grundsätzliche Änderungen. Klar kann ich die Choreografie nicht mehr ändern. Aber der psychologische Schub ist massiv. Es ist wie der Peptalk, mit dem Trainer ihr Team vor dem Spiel heiss machen. Es ist mein Werk und die Tänzer schenken mir entsprechend Gehör. Das nutze ich, lenke sie in die von mir gewünschte Richtung und motiviere sie bis in die Haarspitzen, damit sie den Nagel auf den Kopf treffen. Dann strotzt ein Part, der nett war aber langweilig, plötzlich vor Energie und hat das mysteriöse Etwas. Ich manipuliere ihr Hirn in einem positiven Sinn – hoffentlich.

Die Hirnwäsche funktioniert auch bei den Zuschauern: Ihr letztes Stück «Violet Kid» entliess mich angenehm verstört.
Ich mag es, wenn mein Werk die Leute irritiert. Dann hat sie etwas durchgeschüttelt und vielleicht auch wachgerüttelt. Der zeitgenössische Tanz ist eine wunderbar freie Kunstform, die dein Hirn und Befinden sehr stark manipulieren kann. Tanz hat den Ruf, nettes Entertainment zu sein. Aber es ist wie im Film: Dieselbe Kunstform kann gut, schlecht, unterhaltsam und lustig sein. Aber sie kann auch nachhaltig verstören.

«Wir kommunizieren wie Affenstämme: Anfangs versuchen wir Probleme zu lösen, doch am Ende wollen wir uns töten.»

Ich habe gelesen, dass nicht die Kunst, sondern Politik Sie antrieb, Choreograf zu werden.
Wer hat das geschrieben? Eigentlich wollte ich Musiker werden, endete aber als professioneller Tänzer. Choreograf war die logische Folge, altersbedingt und weil ich etwas kreieren wollte. Politik ist, gewollt oder nicht, ein grosser Teil meiner Biografie. Ich bin in Israel aufgewachsen und musste wie alle in die Armee. Das warf viele Fragen auf: zu mir, meiner Umgebung und den sozialen Strukturen. Ist das alles das Resultat bösartiger Ideen oder organisieren sich Menschen instinktiv so? Ich bin besessen von solchen Fragen und die finden immer ihren Weg in meine Arbeit.

Das ist durchaus politisch.
Politik interessiert mich nicht, ich glaube nicht an sie. Sie bereichert weder unser Sein, noch unsere kulturelle Harmonie. Politik passiert einfach und sie folgt noch immer urtümlichem Verhalten. Wir kommunizieren wie Affenstämme: Anfangs versuchen wir Probleme zu lösen, doch am Ende wollen wir uns meistens töten. Politik ist noch immer sehr primitiv.

Primitive Performances sind für Sie dagegen positiv. Ihre Musikkompositionen basieren auf hypnotischen Stammes-Rhythmen, Ihr Tanz ist mehr Bewegung als eigentlich Tanz und beschwört ursprüngliche Instinkte und Emotionen.
Tanz startet mit Emotionen, lebt von Emotionen und am Ende bleibt auch nichts als ein Gefühl. Bei meinen Performances kommen Tänzer und Publikum in einem Raum zusammen wie die ersten Gemeinschaften. Stimmt der Geist, ist Tanz das Mittel, gemeinsam Mächtiges und Mysteriöses zu fühlen. Dieses urtümliche Prinzip kann man überall aufleben lassen, selbst an Orten die so gross und sauber sind wie das Theater Basel. Das liebe ich.

Hübsche Geschichten mit hüpfenden Ballerinas eher nicht?
Mein Werk ist nicht so (und zeigt auf einen Schwanensee Flyer auf dem Tisch).

«Nicht alle, die mich holen, mögen meine Arbeit. Die merken nur, dass ihr Publikum durchgerüttelt werden muss.»

Dennoch haben Sie mit renommierten klassischen Ensembles wie etwa dem Royal Ballet in London gearbeitet. Die Tanzphilosophie dieser Häuser der Hochkultur ist das Gegenstück zu primitiv und urtümlich.
Darum holen sie mich ins Gebäude.

Als Punk im Porzellanladen?
Durchaus. Nicht alle Direktoren, die mich holen, mögen meine Arbeit. Die merken nur, dass ihr Gebäude und Publikum mal durchgerüttelt werden muss. Also holt man diesen Typen. Oder auch, um die Tänzer neu zusammenzubringen. Als ich vor zwei Jahren mit dem Royal Ballet arbeitete, hatte sich während 20 Jahren niemand um das Tanz-Corps gekümmert. Alle waren fokussiert auf die Solisten. Ich machte gleich klar, mich interessieren weder Solisten noch Primadonnen. Ich wollte ein Gruppenstück machen.

Wieso?
Die Tänzer müssen zusammenarbeiten. Mein Leben und Werk handelt von der Harmonie. Ich mag es, Leute zusammenzubringen und gemeinsam etwas zu erschaffen. Ich glaube daran, dass Tanz das kann. Er gibt dir das Gefühl, im selben Boot zu sitzen. Sogar das Publikum sitzt darin. Und vielleicht kann man das Gefühl ins reale Leben übertragen.

Sie schwärmen von der Gleichheit aller Beteiligten. Als Choreograf haben Sie im Ensemble jedoch eine klare Machtposition inne.
Temporär habe ich die. Ich hoffe, das ist kein Problem. Es ist sehr urtümlich und primitiv, dass in einer Gruppe von 20 Menschen einer den Lead übernimmt. Warum das so sein muss, weiss ich nicht. Aber ich sehe meine Position als Möglichkeit, etwas in einem Sinne zu machen, den ich gut finde. Sicher machen das eigentlich alle, oder denken zumindest, sie tun Gutes. Ich hoffe mir gelingt es. Aber da müssen Sie die Tänzer fragen, wie ich sie behandle.

Hofesh Shechter weiss, das Tänzer sensible Geschöpfe sind. Trotzdem findet er: «Hey, es ist nur ein Tanzstück.»

Ich hörte kein böses Wort. Aber ist es nicht Psychoterror, wenn die Tanzenden erst am Tag vor der Premiere wissen, wer auf der Bühne stehen wird?
Ach, das kommt darauf an, welchen Wert man der Premiere schenkt! Hey, es ist nur ein Tanzstück. Setzt das mal in die richtige Relation: Niemand wird sterben! Mein Job ist es, die beste Wahl zu treffen für das Werk und das Publikum. Klar geht es auch um Egos. Tänzer sind sehr sensible Geschöpfe. Die arbeiten ihr ganzes Leben, um auf der Bühne zu Tanzen und alles zu geben, und dann sage ich ihnen: Du bist nicht gut genug, next. Autsch! Das schmerzt. Aber Schmerzen gehören zum Leben.

Schmerzt Sie das selbst auch?
Wenn Sie wirklich von Machtposition sprechen wollen, sollten Sie mal an eine Audition kommen. Da fühle ich mich selbst nicht sehr wohl. Gerade erst bewarben sich 1200 Tänzer für die acht Plätze meiner Junior Company. Also enttäusche und beleidige ich 99,99 Prozent der jungen Tänzer. Wie gehe ich damit um? Manchmal leide ich mit, aber dann denke ich auch: Hey, da draussen ist ein Dschungel.

Und Sie sind derzeit der König des Ballet-Dschungels.
Ich versuche, die Füsse auf dem Boden zu behalten. Ich wurde ja nicht wegen einer höheren Bestimmung in meine Position erhoben. Ich habe sehr hart dafür gearbeitet. Ich hatte einen sehr strengen Vater, der mich lehrte: Egal was oder in welcher Position man ist, bleib freundlich, bescheiden und gockle niemals rum. Aber klar, es gibt Choreografen, die sind blasierte Motherfuckers.

«Emotionen sind zu kompliziert, um sie mit Worten zu fassen.»

Sie haben Schlagzeug studiert und Tanz – beides Künste mit starker physischer Komponente.
Man kann psychologisch deuten, weshalb ich diese beiden gewählt habe. Ich studiere eigentlich viel und gerne rum. Schlagzeug und Tanz sind wohl gute Ventile, mich davon zu befreien. Beides ist sehr direkt und ich bin unmittelbar mit etwas verbunden, das sich echt anfühlt. Was man sieht, ist, was man bekommt. Da gibt es keine grossen Meta-Ebenen.

So können Sie Gefühle vermitteln ohne Geschichte darum herum?
Genau. Wörtern traue ich sowieso nicht. Ich kann sprechen, lesen und mich artikulieren. Aber am Ende habe ich grosse Schwierigkeiten, die treffenden Worte zu finden, um mich auszudrücken. Wörter sind für mich eher eine Quelle der Verwirrung. Emotionen sind zu kompliziert, um sie mit Worten zu fassen. Wenn dich jemand von der Bühne richtig anstarrt, liegt ein Ozean aus Emotionen dahinter. Nur Poeten können das vielleicht in Worten wiedergeben. Darum wünschte ich, dass nur Poeten Tanzkritiker werden dürfen. Dann ginge es weniger um gut oder schlecht, weniger darum, etwas zu kanalisieren und auf den Punkt zu bringen. Dabei geht so viel Atmosphäre verloren, die nicht in den Strang passt, aber mitschwingt.

Sie mögen generell kein Erzählballett?
Normalerweise mag ich das nicht.

 «Wenn ich ein Musical mache, verkaufe ich damit meine Seele dem Teufel?»

Dennoch machten Sie ein Musical wie «Fiddler on the Roof» am Broadway oder eine Oper wie «Orphée et Eurydice».
Ey, ich muss auch Rechnungen bezahlen! Man bot mir einige Musicals an. Bei «Fiddler on the Roof» habe ich Ja gesagt, weil die Geschichte und die Musik gut waren – die Bindung zur Musik ist die Basis. Dann bin ich glücklich und kann etwas aufbauen. Auch bei der Oper «Orpheus und Eurydike» reizte es mich, Bewegungen zu dieser schönen Barockmusik zu kreieren. Es geht darum, zu experimentieren, was mit Körpersprache möglich ist.

Reizte es Sie wie beim Royal Ballet in London auch am Broadway in New York zu rütteln?
Ich machte mir zunächst echt Sorgen: Wenn ich ein Musical mache, verkaufe ich damit meine Seele dem Teufel? Werde ich dafür leiden? Es war schlussendlich eines meiner besten Projekte. Das Team und der Direktor waren grossartig. Ich lernte viel von ihrer Kunst. Am Broadway geht es in erster Linie darum, das Publikum dauernd zu begeistern und zu berühren. Und das sehr unmittelbar und geradlinig. Das Musical hat «Grande Finale», die neuste Produktion meiner eigenen Company, stark beeinflusst. Aus meinem kleinen Kreis des zeitgenössischen Tanzes auszubrechen, bringt mir sehr viel für meine eigene Kunst.

Die Probe von «The Fools» von Hofesh Shechter im Schauspielhaus.

«The Fools» haben Sie 2008 für das Ballett Bern geschrieben. Wie ist es, nun eines Ihrer älteren Stücke zu sehen?
Es ist lustig. Ich sehe den jungen Choreografen darin. Ich schätze das Stück, wofür es steht, aber ich würde jetzt andere Entscheidungen treffen. Es ist etwas süss: eine liebliche Bemühung. Aber so geht es mir stets, wenn ich eines meiner Stücke wiedersehe. Schon drei Jahre später denke ich: Uuuh, das ist ziemlich veraltet. Ich stehe woanders. Lange habe ich mich für meine alten Werke selbst abgekanzelt.

Warum tun Sie sich diese Aufführung denn an?
Weil ich sehr gerne mit den Tänzern hier in Basel und anderswo arbeite. Das inspiriert mich. Leider kann ich nicht dauernd neue Stücke schreiben. Darum mag ich es mittlerweile, meine alten Stücke als Zeitaufnahme zu sehen, wie ein Bild in einem Museum oder eine Fotografie.

Wie eine alte Platte, die man gerne wieder einmal geniesst?
Genau so war es nun bei «The Fools». An gewisse Stellen konnte ich mich nicht mehr erinnern und war nun sehr angetan, und selber überrascht: Ah, ein Blackout, oh die Projektion – das ist cool!

Das Stück handelt von dunklen Schatten, die über die Welt wachen. Klingt sehr zeitgemäss.
Leider ja. Und so wie wir leben, wird es in absehbarer Zeit auch nicht besser. Ich mag nicht zu viel zum Stück sagen. Ich will dem Publikum nicht vorgeben, was es vom Stück zu denken hat. Aber die dunklen Schatten auf der Bühne, sind für mich der tragende Hintergrund, welcher der Action die Energie verleiht.

Und wer sind die Schatten übertragen auf die Gesellschaft?
Man hat Big Brother und die Masters of the World, die immer im Hintergrund agieren. Lesen sie dazu Noam Chomsky. Er beschreibt die Leute, die man nie sieht und auch nicht wirklich kennt. Vielleicht bilden wir sie uns auch nur ein, weil wir Verschwörungstheorien lieben. Aber es gibt natürlich Mächte, die weit über unserem Verständnis stehen und ziemlich sicher mit Geld zu tun haben. Wir leben in einer Welt, wo jeder wie ein Pferd nur nach dem nächsten Zucker lechzt. Wir schicken Menschen in den Krieg, in den Tod, warum? Wegen Geld! Aber was kann ich schon tun?

Geboren in Jerusalem, tanzte Hofesh Shechter nach seiner Ausbildung in der renommierten Batsheva Dance Company. 2002 verliess er Israel. Nach verschiedenen Stationen in Europa lebt der 42-jährige Familienvater heute in London und gehört knapp fünfzehn Jahre nach seinen ersten Stücken zu den weltweit gefragtesten Choreografen für zeitgenössischen Tanz.

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