Charles Lewinsky, Aushängeschild der Schweizer Literatur, schreibt Romane über die Weimarer Republik. Eine Zeit, die er so spannend findet wie die Schweizer Gegenwart langweilig. Was für ihn kein Hindernis für gute Kunst ist. Ein Gespräch.
Charles Lewinsky ist in der Schweizer Literaturszene ein Star. Und so verhält er sich auch. Beim Handschlag am Bahnhof Olten fragt er: «Wie heissen Sie nochmal? Chirmstedt? Chrimstedt?» Dann verlässt ihn die Lust und er winkt ab, was so viel heissen dürfte wie: Was soll ich mit einem weiteren Namen? Etwas klamm setzen wir uns ins Bahnhofsbuffet.
Dort klopft Lewinsky auf den Tisch und sagt: «Was wollen Sie von mir wissen?» Zeit für Begegnung hat er nicht. Einmal im Gespräch spricht er über die Faszination, die von der Zeit der Weimarer Republik ausgeht und für seine meisten Bücher eine zentrale Rolle spielt. Und er spricht über die Langweiligkeit des Lebens in der Schweiz – wofür er das Land liebt.
Nach 40 Minuten springt er auf, weil er an eine Lesung an der Oltener Buchmesse muss. Dass der Kaffee und die Vorspeise, die er bestellt hat, auf die Spesenrechnung gehen, ist für ihn nicht der Rede wert. Ohne uns nochmal die Hand zu geben, verlässt er das Lokal.
Herr Lewinsky, Sie schreiben in den meisten Formaten, von Glosse bis Literatur, über Satire und Schlagertext. Welches Thema beschäftigt Sie gerade?
Das nächste Buch. Aber darüber rede ich nicht. Erst Eier legen, dann gackern.
Geboren 1946 in Zürich. Lewinsky wurde in der Schweiz bekannt mit den Drehbüchern für die TV Sitcoms «Fascht e Familie» und «Fertig Lustig». Bei Giacobbo / Müller sagte er, er schreibe alles ausser Predigten, das mache schon Roger Köppel. Am bekanntesten wurden seine Romane «Melnitz» (2006), «Gerron» (2011) und jetzt «Kastelau» (2014). Lewinsky lebt in Zürich und Frankreich.
In Ihrem aktuellen Buch «Kastelau» geht es um einen, der um Wahrheit kämpft. Warum beschäftigt Sie dieses Thema?
In all meinen Büchern geht es darum, wie wir unsere Erinnerungen und unsere Geschichten so lange wiedererzählen, bis sie uns passen. Niemand erinnert sich so an die Dinge, wie sie waren. Dazu ist der Mensch nicht geeignet. Wir erinnern uns, wie wir uns erinnern wollen und wie wir es erzählt haben. Das finde ich faszinierend. «Kastelau» ist eine Versuchsanordnung. Alle sind am Heucheln. Es hat nur jeder einen anderen Grund zum Lügen.
Steckt in diesem Thema ein moralisches Problem?
Es ist das Grundproblem der menschlichen Gesellschaft. Die Geschichte wird meistens von den Siegern gemacht. Derjenige, der den Krieg verliert, war am Krieg schuld. Wie es wirklich war, interessiert niemanden. Sie können es überall in der Weltgeschichte sehen, etwa wenn es um die Anerkennung der Armenienmassaker als Völkermord geht. Die Türkei hat die Macht und Armenien ist schwach. Also hat die Türkei recht. Im kleineren Rahmen geht es genauso zu. Familien haben dieselben Probleme.
Der Starke erzählt, wie es war.
Oder ganz einfach der, der überlebt. Der kann die Geschichte bestimmen.
Was treibt den Forscher in «Kastelau» zu seiner Enthüllungsarbeit an, die Empörung über die falsch erzählte Geschichte?
Nein, das kommt erst später. Ich halte ihn nicht für einen besonders guten Menschen. Er hat eine tolle Geschichte und keiner will sie haben. Da werden Sie auch wütend.
Was bringt Sie immer wieder zur Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg?
Der Zweite Weltkrieg interessiert mich nicht so sehr. Er ist nur das Endkapitel, die spannende Zeit ist die der Weimarer Republik. Eine Zeit, die quasi an Punkt null begann. In Deutschland gab es eine Ordnung, die lange Zeit gegolten hatte. 1918 galt sie plötzlich nicht mehr. Es gab keinen Kaiser mehr, die Autoritäten waren weg, die bisherigen Regeln waren ausser Kraft gesetzt. Die Leute versuchten, eine neue Balance zu finden. Mit dem Kaiserreich fielen auch viele kleine Dinge weg, wie zum Beispiel die Kinozensur.
Eine Stunde null, die auch reizvoll war.
Es hätte ja auch etwas werden können! Wurde es
aber nicht. Es führte in die nächste Katastrophe. Wir hatten ja nie einen Zweiten Weltkrieg. Es gab einen Weltkrieg von 1914 bis 1945. Wie der 30-jährige Krieg: mit kleinen Pausen.
Auch wenn sie nur mit Katastrophe denkbar ist – wünschen Sie sich manchmal eine Stunde null?
Nein. Wenn die Chinesen jemanden wirklich schlimm beschimpfen wollen, dann wünschen sie ihm: «Mögest du in interessanten Zeiten leben.» Das ist das Schlimmste, was einem Menschen passieren kann. Langweilige Zeiten sind gute Zeiten.
Wo stehen wir heute?
Wir leben in einer schwierigen Situation. Die Zeiten werden gerade wieder interessant. Gerade die Schweiz ist dafür überhaupt nicht trainiert. Wir haben völlig vergessen, dass Chaos und Krise der Normalzustand sind. Wir meinen immer noch, Ordnung wäre die Normalität. Wir hatten ein erstaunlich langes friedliches Fenster. Was machen wir, wenn es schwierig wird? Was wir zur Vorbeugung tun, ist Stuss, wie Geisterbeschwörung. Wir schreiben ein Minarettverbot in die Verfassung. Es gibt das Gefühl, dass alles ins Wanken gerät, aber keine Ahnung, wie sich die wankende Welt festhalten lässt. Also macht man irgendein Gesetz, das völliger Quatsch ist.
Ist das Gefühl des Wankens berechtigt?
Als die Sowjetunion zusammenbrach und der Eiserne Vorhang sich öffnete, gab es eine Phase der Hoffnung. Jetzt stellt sich heraus, dass die grossen Probleme wieder anfangen. An ganz verschiedenen Fronten. Nehmen Sie an, jemand greift Deutschland an. Dann sagt die Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen: Tut mir leid, könnten Sie bitte ein paar Jahre warten? Wir müssen unsere Panzer erst wieder zum Fahren bringen.
Schwebt Ihnen vor, wohin das führt?
Ich bin kein Prophet. Aber es wird bestimmt nicht einfacher. Die ruhigen, friedlichen, satten Zeiten, die sind erst mal durch.
Muss sich die Schweiz jenseits ihrer Grenzen mehr einmischen?
Das können wir gar nicht. Wir sind viel zu klein und schwach. Wir haben uns 1815 zur ewigen Neutralität verpflichtet, und das war ja auch nicht schlecht. Ich bin auch der Meinung, dass die Schweiz nicht der EU beitreten sollte. Die EU ist ein sehr undemokratisch organisiertes Gebilde. Warum sollten wir einen solchen Rückschritt in der gelebten Demokratie mitmachen? Von der Abschottung halte ich hingegen nichts. Die beste Zeit hatte die Schweiz Ende des 19. Jahrhunderts. 21 Prozent der Bevölkerung der Stadt Zürich waren deutsch, viel mehr als heute. Es war eine Zeit der wirtschaftlichen und der wissenschaftlichen Blüte. Die Schweiz hat von Immigranten immer profitiert. Wovon die Schweiz nicht profitieren kann ist die undemokratische Form, in der sich Europa selber verfasst hat. Die Schweiz ist ein Land der Bürger, Europa ist ein Land der Politiker.
Ein Land der Bürger bringt auch Schwierigkeiten mit sich, weil mehr Inkompetenz mitentscheidet.
Natürlich. Aber ich bin nicht so pessimistisch. Mehrheiten sind nicht blöd. Das Argument würde ja bedeuten, dass man die Politiker ranlassen soll. Aber Politiker sind zu korrupt, als dass man sie entscheiden lassen sollte.
Sie glauben also an die Menschen, sofern sie in einem guten demokratischen System organisiert sind?
Ja. Manchmal ist es auch ein bisschen anstrengend, wenn man sechs mal im Jahr zur Urne gehen soll, darum ist die Stimmbeteiligung meistens niedrig. Aber unsere Abgeordneten machen nicht allzugrossen Unsinn, weil immer eine Volksabstimmung kommt, die ihre Vorschläge kontrolliert. Wenn Sie jetzt in Deutschland die grosse Koalition ansehen – da hat doch keiner mehr was mitzureden. Die machen, was sie wollen. Und die EU-Kommissare werden pro forma gewählt, aber von den Regierungen gelenkt. Das hat nichts mit den schweizerischen Vorstellungen von Demokratie zu tun.
Lewinsky auf der anderen Seite – als Gastmoderator in der «Sternstunde Philosophie» im Gespräch mit Harald Schmidt:
Sie unterstützen die Neutralität der Schweiz und finden das Land langweilig – wie geht das zusammen?
Die Schweiz ist langweilig. Aber ich liebe diese Langeweile. Ich bin nach dem Krieg in der Schweiz zur Welt gekommen. Eine bessere Zeit gab es in der Weltgeschichte nicht. Den grössten Teil meines Lebens ging es immer nur aufwärts. Als ich in Ihrem Alter war, konnte man sich eine Stelle aussuchen. Das war eine tolle Zeit. Nicht sehr interessant, aber toll. Die Schweiz ist von ihrer ganzen Konstruktion her ein langweiliges Land. Darin liegt seine Stärke. Wenn Ihnen eine Zehnrappenmünze in die Hand fällt, die 150 Jahre alt ist, dann ist die immer noch gültig. So langweilig ist dieses Land.
Ist das für Sie als Künstler nicht auch schwierig?
Wieso? Ich kann ja mit meiner Fantasie alles machen. Es kann gerade dazu führen, das sich die Leute gegen die Langeweile wehren wie wild und umso interessantere Kultur hervorbringen. Das ist kein Widerspruch. Man findet in der Schweiz nicht leicht etwas, an dem man sich reiben kann. Nach dem alten Satz: Nichts ist für einen Autoren förderlicher als eine starke Zensur. Haben wir halt nicht. Aber selbst wenn Sie mir sagen würden: Wenn Ihr Land so gut funktioniert, dann wird hier keine grosse Literatur entstehen – dann würde ich sagen: Diesen Tausch ist es mir wert.
Die Enthüllung wird zunächst durch Anwälte verhindert, später, der Schauspieler ist schon lange tot, stösst sie auf das Desinteresse der Verlage. Lewinskys Buch berührt Deutschlands empfindlichste Vergangenheit. Der Roman «Gerron», der die Biografie eines in Auschwitz ermordeten Juden erzählt, wurde von den deutschen Feuilletons noch besprochen, wenn auch unterschiedlich beurteilt (online nicht verfügbar, Rezension in der NZZ). «Kastelau» fand dort bis jetzt keine Beachtung, war aber für den deutschen Buchpreis nominiert.
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Charles Lewinsky liest aus «Kastelau»: 4. November, 19 Uhr, Kronenmattsaal, Weihermattstrasse 10, 4102 Binningen. www.kunstvereinbinningen.ch