Beim Schweizer Filmpreis blieb Simon Jaquemet die höchste Auszeichnung noch verwehrt. Dafür haben jetzt die Schweizer Filmjournalisten sein verstörendes Jugenddrama «Chrieg» zum besten Schweizer Film des Jahres 2015 gewählt. Im März erzählte uns der Basler Regisseur, wie ihn die Grün 80 zu seinem Höllentrip inspiriert hat.
Seit Johanna Spyris Klara in «Heidi» auf der Alp wieder gehen lernte, ist es eine ausgemachte Sache: Zivilisationsverkümmerte Städter werden in der Höhenluft an Leib und Seele gesund. Doch dann sitzt man in «Chrieg», dem ersten Langfilm von Simon Jaquemet, und der Alpöhi ist ein Säufer, der Geissenpeter kommt aus dem Kosovo, und Heidi hat sich die Haare abrasiert. 100 Minuten lang reissen Verstörung und Beklemmung nicht mehr ab.
Und plötzlich Krieg
Der 15-jährige Matteo (Benjamin Lutzke) schlafwandelt durch einen Alltag, der zähflüssig und grau wie vergammeltes Aspik auf dem ehemaligen Wirtschaftswunder Schweiz liegt. Der Vater rennt auf dem Laufband, die Mutter hätschelt ihr Neugeborenes, Matteo kauft sich seine Freundinnen auf dem Strich. Der diffuse Belagerungszustand in der wohlstandsverwahrlosten Zürcher Vorstadtsiedlung ist längst spürbar, als der Krieg plötzlich offen ausbricht.
Matteo wird von einem Überfallkommando von Sozialarbeitern auf eine Alp verschleppt, hier soll der Jugendliche chrampfen und sich besinnen. Doch es kommt ganz anders. Das Erziehungscamp wird in Wirklichkeit von einer Jugendgang geführt, die ihren Schlendrian mit militärischer Härte praktiziert, und Matteo ist bald rekrutiert. Das ist in seiner Ausweglosigkeit so konsequent inszeniert, dass man für Vergleiche schon in der benachbarten Alpennation Österreich suchen muss – und das nicht nur, weil eine Michael-Haneke-Mitarbeiterin das Casting zu «Chrieg» besorgte.
Ausgedacht hat sich diese Geschichte der 37-jährige Exil-Basler Simon Jaquemet, und man würde ihm den Anwärter auf den Schweizer Filmpreis 2015 nicht anmerken, wie er so geduldig in der «Mitte» sitzt und Fragen beantwortet.
Simon Jaquemet, von was für einem Krieg handelt Ihr Film?
Simon Jaquemet.
Eigentlich sind es die Jugendlichen, die mit den Erwachsenen kämpfen, aber es geht auch um den Krieg, den sie untereinander führen. Es ist ein Kampf gegen alles.
Da gibt es diese Stelle, wo der 1. August gefeiert wird und Raketen in den Himmel steigen. Der einzige Jugendliche, der das nicht sehen will, ist Serbe. Wegen seiner Kriegserfahrung?
Lustig, das ist das erste Mal, dass ich darauf angesprochen werde. Das war so beabsichtigt, aber ich wollte es nicht überbetonen. Es gab eine Szene, in der ausführlicher von der Vergangenheit des serbischen Jugendlichen erzählt wird, aber ich habe sie herausgenommen. Ich fand es schöner, wenn es nicht so offensichtlich thematisiert wird.
Trotz unterschiedlicher Lebenshintergründe zeichnen sich die Jugendlichen durch ihre Uniformität aus: dieselben kurzgeschorenen Haare, dieselbe Sprache. Wie viel davon ist einstudiert?
Ich habe den Schauspielern diesen Strassenslang natürlich ein Stück weit in den Mund gelegt. Aber die Jugendlichen haben auch viel Zeit miteinander verbracht und sich angeglichen. Zwei der Schauspieler sprechen tatsächlich so, und mit der Darstellerin von Ali habe ich dieses Bubenhafte und den Slang zusätzlich geübt. Ausdrücke wie «chillig» zum Beispiel, das hört man in Basel selten.
Die Schauspieler sind stark. Wie haben Sie sie gefunden?
Das war ein unglaublich grosses Casting, es dauerte fast so lange wie das Filmen selbst. Unterstützt wurde ich von der Österreicherin Lisa Oláh, die schon beim Casting für Michael Hanekes «Das weisse Band» mitgearbeitet hat. Wir haben sehr breit gesucht, bei Schauspielschulen und Theatern, haben aber auch Leute von der Strasse angefragt. Das war ein langer Prozess, und zuletzt setzten sich bis auf eine Ausnahme Laien durch, die zwar keine Schauspielerfahrung, dafür aber einen interessanten Hintergrund hatten. Den Hauptdarsteller, Benjamin Lutzke, habe ich am Zürcher Hauptbahnhof getroffen, beim Treffpunkt der Emo-Szene. Den Anführer der Gruppe haben wir in einer Jugendinstitution gecastet. Und den serbischen Darsteller fanden wir im Innenhof unserer Produktionsfirma, wo regelmässig Jugendliche abhängen.
Apropos Biografie: Sie sind zwar in Zürich geboren, aber an einem ziemlich aussergewöhnlichen Ort in der Region Basel aufgewachsen, richtig?
Ja, in der Grün 80. Meine Eltern waren nur kurze Zeit in Zürich, dann sind sie für anderthalb Jahre nach Afrika. Mein Vater arbeitete als Agronom und hat dort Entwicklungshilfe geleistet. Nach unserer Rückkehr sind wir ein bisschen überall in der Schweiz gewesen, bis wir auf diesem Show-Bauernhof, dem Brüglingerhof, gelandet sind. Ein super Haus und eine Umgebung wie ein riesiger Abenteuerspielplatz. Ich bin dort aufgewachsen, bis ich etwa acht oder neun war. Dann sind wir ins Kleinbasel gezogen.
Hat dieses Gefühl von Freiheit das Thema Ihres ersten Spielfilmes und die Wahl der einsamen Alp als Schauplatz beeinflusst?
Meine Kindheit hat wahrscheinlich schon etwas mit dem Film zu tun, ich denke aber erst im Nachhinein darüber nach. Für uns Kinder war die Grün 80 wirklich abgelegen, die nächste Tramhaltestelle war eine Viertelstunde zu Fuss entfernt. Klar war der Park am Wochenende voller Leute, aber sonst waren wir dort ziemlich allein. Was davon im Film steckt, ist vielleicht die Sehnsucht nach einem Ort ohne Erwachsene, an dem alles möglich ist.
Nur verwirklichen sich die Jugendlichen in «Chrieg» nicht als Biobauern auf der Alp, sondern sie gehen auf Raubzug ins Tal. Warum können sie ihre Freiheit nicht anders nutzen?
Ich denke, es ist doch so: Wenn man als Jugendlicher sich selbst überlassen wird, geht man zuerst mal ins Extreme. Und probiert alles aus, was man sonst nicht kann und darf. Die Figuren in meinem Film haben eine solche Wut im Bauch, dass sie die erst ausleben müssen. Es gibt schon Ansätze von einer friedlichen Verwirklichung: wie sie sich um die Geissen kümmern und Momente von spielerischem Glück, die aufblitzen. Aber wahrscheinlich sind die Figuren schon so beschädigt, dass sie es nicht schaffen, diese Chance zu packen.
Die Berge als Rückzugsgebiet mit eigenen Regeln kommen immer wieder vor in Schweizer Filmen, von Fredi M. Murers «Höhenfeuer» bis hin zu Ursula Meiers «L’enfant d’en haut». Waren das Vorbilder?
Das sind sicher zwei Filme, die mich sehr beeindruckt haben, auch wenn ich vielleicht nicht bewusst auf sie Bezug nehme. Ich kenne die Schweiz ziemlich gut, auch die Berge. Es ist das, worüber ich am meisten erzählen kann. Interessanterweise wird ja genau dieses spezifisch Schweizerische im Ausland besonders geschätzt.
Gipfel schlägt Siedlungsbrei.
Wobei das nächste Projekt, das mich interessieren würde, genau in einer solchen grauen, gesichtslosen Agglomeration spielt. Ich denke an einen Ort wie Uster oder das Gebiet um den Flugplatz, das ist gerade im Winter der absolute Horror. Es könnte auch Richtung Aargau gehen. Aber im Grund genommen ist ja alles zwischen Zürich und Basel eine einzige Agglo.
Sie haben vor «Chrieg» unter anderem Musikvideos für Gimma, Black Tiger und Breitbild gedreht. War der Schritt zum Langfilm nicht riesig?
Schon, aber ich hatte an der Zürcher Hochschule der Künste bereits einen dreissigminütigen Diplomfilm gedreht, dazu zwei Kurzfilme nach der Schule. Was das Drehen selbst angeht, macht es keinen grossen Unterschied, ob die Arbeit zwei oder sieben Wochen dauert. Aber das Schreiben und Schneiden eines Langfilmes ist schon anders. Alleine das viele Material zu sichten und sich dabei die Wirkung des fertigen Filmes vorzustellen, ist sehr schwierig.
Keine Probleme bei der Finanzierung?
Die Filmförderung für «Chrieg» hat von Anfang an super geklappt, nur war ich davor drei Jahre lang mit einem anderen Projekt beschäftigt, das ich mangels Finanzierung aufgeben musste. Vom Schreiben bis zur Fertigstellung von «Chrieg» hat es auch wieder fast vier Jahre gedauert.
Wie haben Sie sich in dieser Zeit über Wasser gehalten?
Eher knapp. Während des Drehs hatte ich einen Regielohn, dazu erhielt ich Drehbuchförderung. Ich habe auch Nebenjobs angenommen, Musikvideos zum Beispiel. Dafür gab es früher Budgets von bis zu 20’000 Franken, das ist jetzt vorbei. Heute werden Videos für tausend Franken oder gratis gedreht, die Einnahmen der Musikbranche sind komplett zusammengebrochen.
Sie wohnen in Zürich. In Basel hätten Sie wohl Mühe gehabt, diesen Film zu realisieren?
Stimmt, ich hätte sicher Zürcher Produktionsfirmen mit an Bord nehmen müssen. Das ist ein wichtiger Punkt: Die Zürcher Filmstiftung ist der zweitgrösste Geldgeber für den Schweizer Film, auch die ganze Industrie konzentriert sich dort.
In Saarbrücken haben Sie bereits den Max Ophüls Preis gewonnen, jetzt sind Sie fünfmal für den Schweizer Filmpreis nominiert. Liegt der Anzug schon bereit?
Ja, natürlich, aber er muss noch in die Reinigung. Ich bin sehr nervös. Als wir nominiert wurden, war ich schon sehr glücklich und fand es eigentlich nicht mehr wichtig, ob wir auch gewinnen. Aber jetzt steigt die Spannung. Für uns wäre es ein grosses Glück. Ein Preis würde sicher helfen, damit mehr Leute den Film im Kino anschauen gehen.
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Dieser Artikel ist erstmals am 11. März 2015 erschienen. Inzwischen hat «Chrieg» beim Schweizer Filmpreis Auszeichnung für die beste Kamera (Lorenz Merz) erhalten. Die Schweizer Filmkritikerinnen und Filmkritiker haben ihn nun zum besten Schweizer Film des Jahres 2015 gewählt.
» Zur Medienmitteilung des Schweizerischen Verbands der Filmjournalistinnen und Filmjournalisten (PDF)
» Zum Artikel der Nachrichtenagentur SDA