Der schwedische Erfolgsautor Henning Mankell spricht über Sherlock Holmes, seine Wallander-Krimis, seine Wahlheimat Moçambique und die seelische Verwandtschaft mit August Strindberg.
Henning Mankell (64) müsste sich eigentlich nicht mehr mit den Strapazen des Reisens herumschlagen. Mit über 40 Millionen verkauften Büchern ist der Schwede einer der erfolgreichsten Schriftsteller der Welt; er könnte es sich gemütlich einrichten. Doch der Vater der Wallander-Krimis mag sich noch nicht zur Ruhe setzen, weder als Autor und Dramatiker noch als politischer Aktivist und Botschafter Afrikas, der sich als Betreiber eines kleinen Verlages mit der Globalisierung auseinandersetzt. Ehe er am Festival Afro-Pfingsten im Winterthurer Theater mit einer Lesung einen nachdenklichen Schlusspunkt setzte und weiterreiste, trafen wir ihn zum Gespräch.
Henning Mankell, so umtriebig Sie auch sind: Alle kennen Sie in erster Linie als Autor der Wallander-Krimis. Welcher ist eigentlich Ihr Lieblingsdetektiv?
Sherlock Holmes.
Der gute alte …
… Conan Doyle, ja. Er lässt einen entdecken, an seinem Denken teilhaben und verführt den Geist. Er gebraucht seinen Kopf in meinem, rekonstruiert Begebenheiten, indem er sie gedanklich durchdringt.
Das macht ihn zu einem Verwandten Ihres Kommissars Wallander?
Ja. Ich lese noch heute hin und wieder einen Holmes. Mit grösstem Vergnügen. Gut geschriebene, durchdachte Geschichten regen mich an. Doyle folgt den Dingen und zieht uns mit hinein.
Das klingt wie das eigenwillige Rezept für die Anwendung von Literatur auf die Wirklichkeit. Sie lassen Wallander Verbrechen aufklären, er selber aber ist zunehmend ratlos, hilflos …
Die Gesellschaften gehen heute auf grosse Umwälzungen zu, ebenso die Kriminalität. Vor 15 Jahren gab es kaum Internetstraftaten. Kriminalität verändert sich permanent, mit der Gesellschaft. Die Art, wie über Verbrechen gedacht oder geschrieben wird, verändert sich auch. Erst in den letzten Jahren redet man über häusliche Gewalt, vor 20 Jahren war das nicht auf unserem Radar. Gewalt in der Familie spielte sich hinter dem Vorhang der Scham ab. Von aussen besehen mag es aussehen, als hätten sich die Gewaltverbrechen in Stockholm vermehrt. Es wird bestimmt zunehmend darüber berichtet. Wollte man Stockholm wirklich mit einer gewaltbereiten Bevölkerung erleben, müsste man sich im Schweden des 17./18. Jahrhunderts bewegen. Damals herrschte eine riesige Armut, mit hohem Aggressionspotenzial. Stockholm war eine Stadt der Dritten Welt.
Wie Maputo, die Hauptstadt von Moçambique, in der Sie seit 25 Jahren ein Theater führen und die Hälfte Ihrer Zeit verbringen?
Die Widersprüche in Moçambique sind komplexer. Als ich vor drei Jahrzehnten eingeladen wurde, das Theater zu beraten, fand ich ein Land vor, das durch den Kolonialismus um 400 Jahre zurückgeworfen worden war. Bis heute liegt jedem Problem Afrikas erst einmal die Armut zugrunde. Und jeder Armut liegt der Analphabetismus zugrunde: Wie sollen Analphabeten von einer Aids-Kampagne, von einem Jobangebot, von einem Wahlbetrug erfahren, wenn sie nicht lesen können? Wir brauchen gewissermassen nur daran zu denken, wie es in Europa vor vierhundert Jahren aussah, um Afrika besser zu verstehen.
Wir können nachlesen, was die europäischen Entdecker schrieben, als sie Timbuktu besuchten: «Wir haben keine so prächtige Stadt auf dem Kontinent!» Wir hören aber auch heute hin, hören die Seite der Gewalt, die auf der heutigen Armut wächst.
Wir vergessen oft, dass wir noch nicht einmal ein Jahrhundert im Wohlstand leben. Hunderttausende Schweden sind im 18. Jahrhundert übers Meer nach Amerika ausgewandert. Da ging es um das nackte Überleben. Umgekehrt haben die Portugiesen 1974 Moçambique geistig und materiell ausgeblutet hinterlassen. Es gab damals gerade mal sieben Akademiker, die die erste Regierung des Landes hätten beraten können. Sieben!
In einem Land, das dreimal so viel Einwohner hat wie die Schweiz.
Genau. Der Grossteil kann weder lesen noch schreiben. Die Kosten für eine Alphabetisierungskampagne in Afrika entspräche jener Summe, die Europäer jährlich für Katzen- und Hundefutter aufwenden. Dabei sollten wir nicht vergessen, dass wir alle einmal schwarze Vorfahren hatten.
Sie haben in Moçambique Stücke geschrieben, das Theater mit aufgebaut, inszeniert.
Ich stehe mit einem Fuss im Schnee, mit einem im Sand. Das öffnet die Augen für die Gemeinsamkeiten. Fragte mich ein Junge am Sandstrand: «Wer soll beim Küssen die Augen schliessen?» Er stellt mir die Frage nach einem langen Zögern. «Wozu will er das wissen?», fragte ich den Dorfältesten. «Der Kuss gehört nicht zu unserem Vorspiel. Wir kennen ihn nicht. Unsere Kinder kennen ihn. Vom Fernsehen. Sie wollen von euch lernen.» Das ist etwas Verbindendes: Wir kommen uns in Geschichten näher.
Treibt Sie das dazu, nebst Wallander-Krimis auch afrikanische Geschichten zu erzählen? Wir denken an «Der Chronist der Winde» oder «Die rote Antilope»?
Ja. Ich liebe Geschichten. Es gibt Autoren, die darauf bestehen, dass sie losschreiben, ohne zu wissen, wohin es sie führt. Das ist für mich nicht denkbar. Ich weiss immer, wie die Geschichte endet. Manchmal ist der Schluss gar das Erste, das ich niederschreibe. Manchmal schreibe ich chronologisch. Manchmal einzelne Abschnitte. Aber ich habe die Geschichte immer vor mir, wenn ich anfange zu schreiben. Das, was sich vor mir abspielt, ist oft unerwartet. Ich weiche vielleicht vom Weg ab, aber nicht vom Ziel. Sonst könnte ich nicht improvisieren. Das ist ein wenig wie im Theater, wenn ich inszeniere: Wenn ich Schauspieler improvisieren lasse, gebe ich ihnen klare Ziele.
Heisst das, ein Buch entsteht wie eine Inszenierung, mit einem ähnlichen Gestus der Behauptung zwischen Improvisation und Festlegung?
Im Einzelnen spielt da auch der Zufall mit. Bei allen aufgeführten Theaterstücken ist vielleicht ein Drittel der Wirklichkeit geschuldet. Bei den Büchern verhält es sich ähnlich: Drei Viertel sind keine Kriminalromane.
Sie haben sich als Autor auch immer in den politischen Diskurs begeben – wie ein anderer grosser Schwede: August Strindberg (1849-1912). Eben sind neun Einakter von Ihnen über ihn erschienen, die demnächst am Stockholms Stadsteater aufgeführt werden. Was führte dazu?
Die Auseinandersetzung mit Strindberg begann vor 25 Jahren. Ich stiess auf eine Beschreibung des Treffens des 27-jährigen Strindberg mit Hjalmar Branting, dem führenden Sozialisten Schwedens, in der damaligen Sozialdemokratie. Die beiden trafen sich auf der Hochzeit eines Verwandten, fanden diese langweilig, kletterten im Hof auf ein Kutschendach, tranken und redeten bis in die frühen Morgenstunden. Worüber? Ich habe versucht zu spekulieren. Strindberg war ein politischer Zeitgenosse Ibsens. Ibsen war der gewieftere Dramaturg. Strindberg war der kompromisslosere Sucher. Strindberg grübelte in der Wirklichkeit. Er probierte Soziolekte aus.
Sie lassen Strindberg ins Stockholmer Armenviertel gehen. Sie lassen den relativ Armen zu den wirklich Armen gehen.
Ich lasse da eine Figur des Autors auf den Autor treffen.
Das ist, als ob sich Wallander zu uns setzen würde.
Ja. Ich wurde einmal in Stockholm von einem Taxifahrer gefragt: «Wen wählt dieser Wallander?» «Ich weiss es nicht, ich muss ihn vielleicht einmal fragen», sagte ich. «Tun Sie das», antwortete er.
Strindberg hat Sie über Jahre begleitet. Warum?
Weil er keine Angst hatte. Er wagte sich in politische und gesellschaftliche Diskurse, die andere mieden.
War Strindberg einer, der stets Streit suchte und brauchte?
Ich glaube, er war mutig im Öffentlichen, aber eher feige als Privatperson.
Sind Sie darin mit ihm verwandt?
Nein, Angst bereitet mir nur weniges.
Auch wenn Sie – wie 2010 – als Aktivist auf dem «Ship to Gaza» mitreisen und von der israelischen Armee beschossen werden?
Ich nutze die Möglichkeiten, die meine Arbeit mir bietet. Ich kann von meiner Kreativität leben, aber ich wende sie auch an, um mich in Diskurse zu begeben, die Widerspruch herausfordern. Was Strindberg sagte und was er tat, muss man trennen. Er schrieb immerhin unter monarchistischer Zensur. Er war so etwas wie ein mit sich selbst beschäftigter Vulkan, der jederzeit ausbrechen konnte. Strindberg schrieb mit einem starken Bedürfnis, sich, seine Wahrnehmung mitzuteilen, und tat dies zweifelnd, zuspitzend, verdichtend. Er prüfte seine Wahrheit an den Reaktionen der Umgebung. Das lässt sich in den Briefen verfolgen ebenso wie in seinen Reportagen und Pamphleten. Er wusste immer, dass er früher oder später Öffentlichkeit sein würde.
Liegt da der Unterschied zu Strindberg? Dass der Autor Mankell mehr Distanz hält zur Fiktion seiner selbst?
Der grosse Unterschied ist Strindbergs Methode, sein eigenes Leben zu plündern. Das tue ich nicht. Ich halte mich fern. Ich suche meine privaten Grenzen anderswo. Das Drehbuch über Ingmar Bergmans Leben etwa zwang mich, das Leben meiner Frau, die Bergmans Tochter ist, zu fiktionalisieren. Ich habe bei Vertragsabschluss mit den Produzenten darauf bestanden, dass das Buch nicht verfilmt werden durfte, ohne dass sie das Manuskript gutgeheissen hatte. Sie las. Sie willigte ein. Und sagte, dass es ihr leichter fallen würde, sich mit ihrem Vater zu versöhnen.
Das heisst, demnächst kommt ein Ingmar-Bergman-Film von Ihnen?
Ja. Susanne Bier wird das Drehbuch inszenieren. Das wird keine biografische Chronik von A bis Z. Mich interessieren die zugrunde liegenden Konflikte der Kreativität. Seien es nun Künstlerinnen oder Taxichauffeure oder Pizzaköchinnen, die mit Hingabe Opfer bringen. Um der Produktivität willen kann Kreativität verheerende Opfer fordern.
Bringen Sie auch Opfer?
Die Opfer der anderen sind gravierender. Die der Familie, die den Preis der Kreativität bezahlt. Vor allem die Kinder. Meine Annäherung an diesen Grossen der Filmgeschichte soll eine grössere Gültigkeit haben, als nur ein Genie zu schildern.
Was kommt als Nächstes?
Gestern haben in Schweden die Dreharbeiten zu drei weiteren Wallander-Filmen begonnen, Kenneth Branagh hat zudem für weitere Folgen zugesagt. Die Filme laufen im Kongo, Südafrika, Australien. Und zum ersten Mal auch in Moçambique. Das freut mich besonders.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 01.06.12