«Das Initiativrecht sollte nicht der Mehrheit zur Diktatur verhelfen»

Rolf Soiron stand lange ganz oben in der Schweizer Wirtschaft. Jetzt zieht sich der Basler zurück. Nicht ohne die Stimme zu erheben – gegen die SVP, gegen Economiesuisse und gegen den sorglosen Gebrauch der Sprache. Ein Gespräch über Macht und den Umgang damit.

«Die Durchsetzungsinitiative zertrümmert mit dem Vorschlaghammer das Kunstwerk der Schweizer Politik»: Rolf Soiron, wortgewaltiger Basler Unternehmer, redet Klartext.

(Bild: Nils Fisch)

Rolf Soiron stand lange ganz oben in der Schweizer Wirtschaft. Jetzt zieht sich der Basler zurück. Nicht ohne die Stimme zu erheben – gegen die SVP, gegen Economiesuisse und gegen den sorglosen Gebrauch der Sprache. Ein Gespräch über Macht und den Umgang damit.

Heute sind Rolf Soirons berufliche Tätigkeiten rasch aufgezählt: Der Basler Unternehmer präsidiert den Chemiekonzern Lonza, möglicherweise im letzten Jahr. Vor ein paar Jahren noch zählte Soiron zu den einflussreichsten Wirtschaftsführern der Schweiz. Er hielt neben Lonza Mandate beim Zementgiganten Holcim und beim Implantathersteller Nobel Biocare, er begründete die Bank am Bellevue mit. Davor arbeitete sich Soiron, Abkömmling der deutschen Minderheit in Belgien, beim Novartis-Vorgänger Sandoz hoch.

Vor allem aber leitete der 71-Jährige aus seinem beruflichen immer auch ein gesellschaftliches Engagement ab. Soiron war Präsident des Basler Universitätsrates, sass für die CVP im Grossen Rat und gehörte dem innersten Führungszirkel des Wirtschaftsverbands Economiesuisse an. «Schon seit Monaten nicht mehr!», betont Soiron. Warum ihm das wichtig ist, klärt sich im Gespräch.

Geblieben ist davon eine Mitgliedschaft im Rat des Internationalen Roten Kreuzes, sein zeitintensivstes Mandat, wie er selbst sagt. Ist Soiron der Profi-Verwaltungsrat, der Wirtschaftsübervater, der Strippenzieher, als der er gerne taxiert wird? Jedenfalls ist er ein Mensch, der wissen muss, wie es ist, Macht auszuüben.

Worauf ich hinaus will: Sie haben das Leben von Menschen verändert, mit denen Sie eigentlich nichts zu tun haben. Wie gehen Sie damit um?

Erstens, indem ich mir auf Positionen nichts einbilde, auch wenn sie im Organigramm oben stehen. Zweitens weiss ich sehr wohl, dass «abdrücken oder nicht» Verantwortung bedeutet. Drittens: Sie müssen ein Team um sich haben, das die guten Entscheidungen mit Ihnen zusammen ausarbeitet und sie dann auch mit Ihnen durchzieht.

Das tönt nach einem Absicherungsmechanismus, falls etwas schiefgeht.

Mag sein. Für mich ist das etwas anderes: Starke Teams sind ein starkes Element zur Sicherung der Entscheidungsqualität. Gute Gruppen sind nämlich immer intelligenter als Einzelne. Eine der Kernaufgaben von Vorsitzenden ist es darum, ihre Teams – Arbeitsgruppen, Direktionen, Verwaltungsräte – zu Hochleistungsteams zu machen, die sich auch so verstehen. Auch in solchen Spitzenteams gibt es zunächst immer wieder Vorurteile, schwache Argumente, Emotionen. Aber in diesen Teams werden diese Schwächen angesprochen und korrigiert. In Spitzenteams hört man sich zu, hinterfragt, korrigiert die eigene Position, wo nötig. Die Entscheide, die daraus resultieren, sind dann ein Entscheid der ganzen Gruppe und nicht des Vorsitzenden allein. Teams zu solchen Prozessen zu bringen, hat mich in meinen Jobs immer am meisten begeistert.

«Die Schweiz als Ganzes oder als Organismus hat konstant versucht, aus verschiedenen Meinungen eine gemeinsame zu machen.» (Bild: Nils Fisch)

Lassen Sie uns versuchen, diese Erkenntnisse auf die politische Schweiz zu übertragen, auf die SVP als mächtigste Partei und deren Umgang mit Macht.

Das ist ein interessanter Gedanke! Ja, die Schweiz als Ganzes oder als Organismus hat genau das gepflegt, was ich vorher beschrieben habe. Man hat konstant versucht, aus verschiedenen Meinungen eine gemeinsame zu machen. Nicht indem man die eine bestimmte Position allen anderen aufgezwungen hätte, sondern indem man die Lösungen so lange modulierte, bis alle dahinterstehen konnten. Das nannte man dann «Konsens» oder «Kompromiss». Genau diese Grundmethode hat die SVP, die Sie genannt haben, in den letzten zwei Jahrzehnten stark geschwächt. Ich bedaure das. Damit ist eine Stärke dieses Landes in Gefahr. Als pessimistischer Optimist – oder umgekehrt – halte ich es allerdings für möglich, dass der Generationenwechsel bei der SVP, die Stärke im Parlament und die zusätzliche Einbindung in die Regierung eine Chance offerieren, dies zu korrigieren.

Sie glauben an die Selbstheilungskräfte des Systems?

Besser als «glauben»: Ich hoffe darauf.

Dieser Optimismus, die SVP werde zurück auf den Pfad der Tugend finden, hat sich in der Vergangenheit wiederholt als naiv herausgestellt.

Ich bin inzwischen 71 Jahre alt. Das hilft, um zu sehen, dass es in fast allem Zyklen gibt. Was raufkommt, muss runter und umgekehrt. Nichts währt ewig. Übrigens denke ich auch, dass die SVP klug genug ist zu erkennen, dass es für zusätzliche Wähleranteile nicht genug Hardliner im Lande gibt. Und dann muss man sich auch hüten, die SVP grundsätzlich als nicht-konstruktiv zu verschreien. Schauen Sie sich in den Kantonen um. Da gibt es Beispiele von Regierungsräten und Parlamentariern zuhauf, die durchaus konstruktive Politik betreiben.

Ihr Parteikollege, Bundesrichter Thomas Stadelmann, befürchtet eine Entwicklung wie im Deutschland der 1930er-Jahre, als eine Mehrheit politischen und religiösen Minderheiten nach und nach die bürgerlichen Rechte aberkannte. Teilen Sie diese düstere Prognose?

Solche dramatischen Vergleiche helfen nicht, sondern vergiften die Situation. Aber Herr Stadelmann hat schon recht: In Demokratien müssen Mehrheiten sich davor hüten, Minderheiten zu überstimmen und dann nur das zu tun, was die Sieger wollen. «The winner takes it all» ist ja leider ein Gedanke des Zeitgeistes, der auch in der Finanzwelt und der Wirtschaft anzutreffen ist. Aber Demokratien hält er sicher nicht zusammen. Das Schweizer Initiativrecht sollte, als es konzipiert wurde, nicht der Mehrheit zur Diktatur verhelfen, sondern Minderheiten eine Chance geben, sich gegen die damals freisinnige Mehrheit des 19. Jahrhunderts durchzusetzen.

Die direkte Demokratie wurde zum Machtinstrument der Mehrheit – braucht es dazu ein Korrektiv, einen Schutzschild, etwa in Form eines Verfassungsgerichts?

Sie haben das Gespräch mit der Frage nach der Macht begonnen. Ich habe Ihnen zu antworten versucht, dass Positionen, die missbraucht werden können, nicht missbraucht werden dürfen. Als Präsident habe ich nicht das Recht, meine Meinung als die einzige anzusehen und durchzusetzen. Der Freisinn hat das im 19. Jahrhundert gelernt. Ich hoffe, das lernt auch die Führung der SVP, gerade in und wegen der Stärke ihrer Position. Ich kenne übrigens genügend SVP-Politiker, in kantonalen aber auch in Bundespositionen, mit denen man über solche Dinge sprechen kann.

«Ich hoffe, dass sich die Einsicht durchsetzt. Machen Sie mir daraus einen Vorwurf?» (Bild: Nils Fisch)

Sie verlassen sich darauf, dass sich diese Einsicht durchsetzt?

Ich hoffe es. Machen Sie mir daraus einen Vorwurf?

Ja, den Vorwurf, dass das eine passive Haltung ist.

Was heisst hier «passiv»? Ist eine klare Position, gepaart mit Gesprächsbereitschaft, falsch? Wollen Sie 30 Prozent der Wählenden ausgrenzen?

Sie äussern sich jetzt, das ist eine aktive Haltung. Viele andere Vertreter der Wirtschaft und der grossen Verbände schweigen oder engagieren sich nur halbherzig…

…das stimmt doch nicht! Das sagen die Medien. Sogar die von Ihnen gern gescholtene Economiesuisse hat früh und deutlich Nein zur Durchsetzungsinitiative gesagt. Gewiss: Economiesuisse unterstützt die Gegenkampagne nicht finanziell. Dafür gibt es sehr praktische Gründe: Auch Economiesuisse kann kein Geld drucken. Aber an der klaren Haltung des Verbandes bestanden nie Zweifel.

Und das Heilmittel?

Es gibt keine Wunderformel und kein Allheilrezept. Die Menschen bei uns wollen sehen, dass die Regierenden das Problem auf allen Ebenen angehen, wo es nötig ist. Natürlich will man sehen, dass die Mächtigen die Kriege wirklich beenden wollen, koste es was es wolle! Denn die Floskeln der Grossen können Hilflosigkeit und Zynismus nicht mehr verbergen. Es braucht ein massives Engagement, um die Vertriebenen nahe ihrer Heimatländer menschenwürdig zu versorgen. Dieser Appell gilt auch für die Schweiz. Der Verunsicherung bei uns muss die sichtbare Präsenz von Ordnungskräften entgegenwirken, auch wenn das etwas kostet. Es braucht klare Regeln, was wir von Flüchtlingen erwarten, die bei uns sind. Das wird – viertens – Geld kosten. Aber die Schweiz hat oft genug gezeigt, dass sie bereit ist, etwas zu tun. Vielleicht müssen – fünftens – Persönlichkeiten wie die neu gewählte Basler Nationalrätin Sibel Arslan noch mehr gesehen werden und Bilder dafür liefern, dass Integration möglich ist. Das Allerwichtigste aber ist, dass wir bei uns den hilflosen Groll und die Wut verhindern, wie sie «Köln» ausgelöst hat. Sonst werden die kritischen Abstimmungen verloren gehen. 

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