«Das politische System macht die Generation»

Der in New York lebende Regisseur Konstantin Bojanov erzählt von der Realisierung seines ersten Roadmovie und vom Bedürfnis, Heimat immer wieder neu zu finden. Seit dem 12. April läuft «Avé» im Mittagskino des kult.kinos Atelier.

Mit seinem ersten Roadmovie «Avé» auf Durchreise: Der bulgarische Regisseur Konstantin Bojanov. (Bild: zVg)

Der in New York lebende Regisseur Konstantin Bojanov erzählt von der Realisierung seines ersten Roadmovie und vom Bedürfnis, Heimat immer wieder neu zu finden. Seit dem 12. April läuft «Avé» im Mittagskino des kult.kinos Atelier.

Im Zentrum von «Avé» steht das Dilemma von Wahrheit und Lüge. Der bulgarische Regisseur Konstantin Bojanov erzählt die Geschichte der zwei Jugendlichen Kamen (Ovanes Torosyan) und Avé (Anjela Nedyalkova), die sich per Zufall beim Trampen von Sofia nach Ruse treffen. «Avé» stand in Cannes 2011 in der «Critic’s Week» auf dem Programm und wurde mit zahlreichen europäischen Film-Awards ausgezeichnet, unter anderem am Fantasporto 2012 in Portugal für «Best Film» und «Best Screenplay». 

Herr Bojanov, ihr Film «Avé» erzählt vom Misstrauen der Menschen untereinander, auch der Tod nimmt eine prominente Rolle ein. Wieso diese düstere Haltung gegenüber dem Leben?

Konstantin Bojanov: Der Konflikt der Charaktere ist so gewollt. Ich wollte die zwei sehr unterschiedlichen Charaktere von Avé und Kamen haben, die entfremdet sind von der Gesellschaft, die sich unvorhergesehen treffen und sich ab der ersten Minute ihres Kennenlernens bereits schon im Konflikt miteinander befinden.

Der Film spielt vor einer Kulisse der Trostlosigkeit, die heruntergekommenen urbanen Plattenbauten und die halbverlassenen ländlichen Dörfer in Bulgarien sind für den Kinobesucher erschütternd. Immer ist da aber auch die Suche nach menschlicher Wärme der beiden Protagonisten. Ist der Film ein Porträt über ein desillusioniertes Land?

Nein. Die Essenz des Films würde ich als eine Geschichte des Erwachsenwerdens beschreiben. Die zwei Hauptcharaktere Avé und Kamen werden gezwungen, sich zum ersten Mal unvorbereitet mit dem Tod und der Liebe auseinanderzusetzen. Auch wenn der Film eher düster ist, gibt es eine optimistische Note: Avé und Kamen treffen sich und hinterlassen einen starken Eindruck im Leben des anderen.

Avé lügt und gibt fremde Lebensgeschichten als die eigene aus. Denken Sie, es ist einfacher, die Geschichte eines anderen zu erzählen, als sich selbst der eigenen Vergangenheit oder der eigenen Lebenssituation zu stellen? Ist es auch ein Art Flucht?

Beide Charaktere im Film suchen nach einem Ausweg aus ihrem tristen Dasein, beide sind sozusagen auf der Flucht. Dass sich die zwei überhaupt finden, ist etwas sehr Schönes und Optimistisches und ein hochdramatisches Element der Geschichte. Sie ändern nicht nur ihre Haltung gegenüber dem Leben, sondern auch gegenüber dem Tod. Kamen sieht den Tod seines Freundes zunächst nicht als tragisch an. Als er dann aber bei dessen trauernder Familie am Tisch sitzt, stürzt die Realität auf ihn ein. Ich versuche im Film eine sehr komplexe Geschichte mit sehr einfachen Mitteln zu erzählen, und dabei so subtil und untertrieben wie möglich vorzugehen. Vieles passiert unterschwellig, ausserhalb des Bilderrahmens.

Obwohl der Film ruhig wirkt, wird man von der Geschichte innerlich aufgewühlt.

Das war meine Absicht, als ich das Script, zusammen mit Arnold Barkus, schrieb. Die Story wurde zuerst von ihm auf Englisch geschrieben und dann von mir ins Bulgarische übersetzt.

Im Film wird der Bruch zwischen der Elterngeneration und der jüngeren Generation betont. Sie sind selbst in Bulgarien aufgewachsen: Sind Sie der Meinung, dass dieser Bruch zwischen den Generationen in Bulgarien, einem Land mit sozialistischer Vergangenheit, verstärkt spürbar ist? Hat die junge Generation Probleme mit den «neuen» Möglichkeiten?

Mich beschäftigt die Frage nach dem Bruch zwischen der älteren und der jüngeren Generation sehr. Auch mein neuer Film handelt von diesem Phänomen des Generationenkonflikts. Es gibt auch einen kulturellen Bruch. Für mich zeigt die Szene mit der trauernden Familie in «Avé» genau diesen Generationenkonflikt und den kulturellen und existentiellen Bruch. Die Familie in «Avé» ist nicht fähig, die Nöte und das Verhalten der Jungen zu verstehen.

Es kommt einem vor, als ob die Generationen verschiedene Sprachen sprechen.

Genau. Die einzige Person im Film, die mit den Jugendlichen etwas gemeinsam hat, ist der senile Grossvater: Er ist ein Aussenseiter, ein Träumer. Mit diesem baut Kamen für wenige Minuten ein emotionale Nähe auf. Ich versuchte, die Dialoge so stark wie möglich zu reduzieren. Zum einen ist die Szene emotional, zum anderen enthält sie schwarzen Humor.
Aufgewachsen bin in Bulgarien und habe in den letzten 20 Jahren in vielen Ländern gelebt, ich kann mich sehr mit dem Bedürfnis irgendwo anders hinzugehen identifizieren. Doch das «Andere» verändert sich immer wieder. Jetzt wo ich in einer gigantischen urbanen Stadt wie New York wohne, träume ich davon, ganz einfach mit Ureinwohnern zu leben.

Prägt die Veränderung des politischen Systems auch die heutigen Jugendlichen in Bulgarien?

Es machte die Generation so, wie sie jetzt ist. Am Preview hier in Basel waren viele Menschen mit bulgarischen Vorfahren und Verwandten im Kino. Sie fragten, wie der Film Bulgarien repräsentiere. Für mich stand das nie im Vordergrund, ich wollte eine universelle Geschichte erzählen, die in einer sehr spezifischen Realität wie dem heutigen Bulgarien spielt. Mein Hauptfokus liegt auf den menschlichen Beziehungen der Personen. Und auf der kurz gelebten Freundschaft und möglichen Liebe der beiden Protagonisten.

«Wahrheit» ist auch ein Hauptthema ihres Films. Sollte man die Konsquenzen, die eine ehrliche Aussage haben kann, immer mitbedenken?

Die Frage, was die persönliche Wahrheit eines Menschen ist, steht im Zentrum der Story von «Avé». Ich wollte zwei Charaktere zeigen, die entgegengesetzt mit der Wahrheit umgehen. Avé lügt, erfindet Geschichten, Kamen will immer die Wahrheit sagen, ohne sich der Konsequenzen bewusst zu sein. Seine Art von Wahrheit kann jemanden verletzen. Er findet es besser, zu sterben, als ein sinnloses Leben zu führen. Kamen ist, was die Wahrheit angeht, das Gegenteil von Avé.

Wollten sie mit dem spielerischen Umgang mit der Wahrheit dem Film die Leichtigkeit geben, die man sonst vermissen würde?

Wenn du einen Filmcharakter entwirfst, hast du immer die eigene Idealvorstellung, die mit der Realität konkurriert. Die ersten Absichten und dann das Ergebnis. In meiner Vorstellung war der Film viel bunter und leichter, heiterer. Das war das Ziel. Doch die Realität sah anders aus: Ich castete über ein Jahr 700-800 Schauspielerinnen, um die Rolle von Avé zu besetzen. Diese hatten teilweise kaum Erfahrung. Ich war aber nicht zufrieden mit meiner Auswahl, obwohl ich schon angefangen hatte, mit den Kandidatinnen Szenen zu proben. Zwei Wochen vor der Produktion stiess ich auf Anjela Nedyalkova (die nun in der Hauptrolle zu sehen ist, Anm. d. Red.), sie war ursprünglich für eine Nebenrolle im Film vorgesehen. Ovanes Torosyan (Kamen) kannte ich seit zwei Jahren, doch er sagte, er könne nicht einen Liebhaber spielen. Ich hatte also zwei junge Schauspieler, an die ich glaubte, aber sie waren wie Öl und Wasser! Sehr distanziert – keine knisternde Chemie, keine Sexualität. Da ich den Produktionsstart schon zwei Mal verschoben hatte wegen Finanzierungsgründen, musste ich im Herbst mit der Produktion beginnen. Die Jahreszeit gibt eine düstere Nuance dazu. Ich versuchte also, dies alles positiv zu nutzen. Dass sich das Produkt von meiner ursprünglichen Idee unterscheiden würde, wusste ich. «Avé» ist mein erster Fiction-Film, bisher habe ich für Galerien und Ausstellungen gefilmt und Kurzfilme gemacht.

Sie sind studierter Bildhauer, wie beeinflusst die Kunst ihre filmerische Schaffensweise?

Das Geschichten-Erzählen war schon immer ein Teil von mir. Filme zu machen war eine natürliche Entwicklung. Die visuellen Elemente des Films sind von meinen fotografischen Werken beeinflusst. Selbst mache ich immer noch bildende Kunst. Sie unterscheidet sich aber sehr von meinen Filmen, sie ist viel weniger narrativ. Im Moment organisiere ich eine neue Ausstellung, die später dieses Jahr in L.A. stattfinden wird. Sie wird grossformatige Fotografien und 3-4 Skulpturen von mir zeigen.

Unter anderem haben sie die Kunst-Plattform «KB-Projects» ins Leben gerufen, die für namhafte Künstler wie Barbara Kruger oder Paul McCarthy Werke realisiert. Wie stark sind Sie dort immer noch involviert?

Eigentlich ist die Plattform eine Firma, die ich gegründet habe, als ich nach New York gezogen bin – sie war mein «Bartending-Job». Ich verdiente meine Brötchen damit, bevor meine Karriere als Filmemacher ins Rollen kam. Wenn ein Künstler ein Idee hat für ein Werk, versuche ich gemeinsam mit diesem eine Strategie zu entwickeln, die Werke umzusetzen. Bildhauer helfen bei der Umsetzung der Werke. Früher habe ich bildhauerisch mitgearbeitet, jetzt versuche ich da rauszukommen, weil ich keine Zeit mehr habe. Ich kann nicht mehr 50 Stunden pro Woche arbeiten, wie in den letzten Jahren. Am Besten wird die Firma von meinen Angestellten weitergeführt, und ich werde weiterhin als Berater zur Verfügung stehen, weil ich noch auf ein gewisses Einkommen angewiesen bin.

Die Verwendung des Solo-Stücks «Flicker» des renommierten Underground-Szenegitarristen Marc Ribot (Tom Waits, Marc Ribot y Los Cubanos Postizos) in der Filmmusik fällt auf. Wie kam die Zusammenarbeit mit Ribot zustande?

Die Idee war, die Musik sehr minimal zu halten und repetitiv zu arbeiten. Mein Music Supervisor war Susan Jacobs, die Managerin von Ribot war. Ursprünglich war geplant, dass Ribot ein Stück komponiert und aufnimmt – leider hatte er nur zwei Tage Zeit, weil er gerade auf Tour war. Seiner Meinung nach war es aber zu riskant, mit so wenig Zeit einen Song schreiben zu müssen. So integrierten wir einen bereits existierenden Song von Ribot. Zudem sprang ein Sounddesigner ein, der ein bisschen herumtüftelte und zwei Solo-Piano-Stücke schrieb. Diese passten spontan. Alles, was mit diesem Film zu tun hatte, war extrem schwierig aufzugleisen. Ich war über vier Jahre damit beschäftigt. Die Musik war da keine Ausnahme.

 

 

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