«Das Preisgeld werde ich auf jeden Fall weiterschenken!»

Der Musiker, Komponist und Dirigent Heinz Holliger spricht über seine Bewunderung für die Universalgelehrten, seine Sorge über die Zukunft der Musik – und auch darüber, was er mit den 100’000 Franken machen will, die ihm der Grand Prix Musik in die Kasse spült.

(Bild: Hans-Jörg Walter)

Der Musiker, Komponist und Dirigent Heinz Holliger spricht über seine Bewunderung für die Universalgelehrten, seine Sorge über die Zukunft der Musik – und auch darüber, was er mit den 100’000 Franken machen will, die ihm der Grand Prix Musik in die Kasse spült.

Heinz Holliger sieht man die Flugmeilen nicht an, die er im respektablen Alter von 76 Jahren zurücklegt. Eben noch war er in Japan auf Tournee und erfuhr dort, dass er mit dem eidgenössischen Grand Prix Musik ausgezeichnet wird (wir haben berichtet). Und schon steht er im Festsaal des Basler Volkshauses, wo er das Kammerorchester Basel zu Höchstleistungen anspornt. Gemeinsam studieren sie ein Konzertprogramm ein, das nebst Holligers Komposition «Meta arca» auch die Sinfonie Nr. 3 a-Moll op. 56 von Felix Mendelssohn-Bartholdy enthält. Ein Werk, das in seinen Jugendjahren nicht zu hören war in Europa, weil von einem Juden komponiert und von den Nazis verboten. «Möge Hitler es in der Hölle ständig hören müssen», sagt Holliger am Ende der Probe in inbrünstigem Ton. 

Publikum und Orchester lachen und klatschen. Recht hat er! Überhaupt trifft Holliger den Ton der Leute, die da vor und hinter ihm sitzen. 45 Minuten lang hat er an der «Schottischen» von Mendelssohn-Bartholdy geprobt, konnte man ihm bei der Arbeit zuschauen.

«Kostprobe» heisst der Anlass, eine originelle Reihe im Volkshaus, bei der man gegen 30 Franken Eintritt dem Orchester und Dirigenten über die Schulter schauen kann, ehe man zu einem Stehlunch bei Suppe und Sandwich übergeht. Ein Mittagskonzert der aufschlussreicheren Art. Keine Frage, dass wir diese Gelegenheit nutzen wollten, um mit dem frisch preisgekrönten Mann ein Gespräch zu führen.

Herr Holliger, wie gefällt Ihnen dieses Konzept, vor Publikum zu proben?

Mir gefällt das sehr gut. So kann das Publikum in die Musik hineinhören und sich darauf achten, worauf es ankommt. 

Verhalten Sie sich als Dirigent versöhnlicher mit dem Ensemble, wenn Besucher an den Proben sind?

Nein, sicher nicht. Ich sage immer, was ich denke! Aber man soll als Dirigent ja sowieso niemanden desillusionieren, auch wenn etwas nicht klappt.

Am Freitag waren Sie schon in Basel präsent, allerdings nur auf einer Leinwand: Sie gehörten zu den 15 Nominierten für den Schweizer Musikpreis 2015 und wurden aus Japan ins Münster projiziert. Wussten Sie da schon, dass Sie den Hauptpreis, 100’000 Franken, gewinnen würden?

Nein, aber ich wunderte mich schon ein bisschen, als sie in Japan für mich ein kleines Übertragungsstudio aufbauen wollten.

Sie haben bereits 15 Preise erhalten, darunter den Ernst-von-Siemens-Preis, für viele der Musik-Nobelpreis. Was bedeutet Ihnen da der Preis der Eidgenossenschaft? Kommt diese Ehrung im Heimatland zu spät?

Nein, der Zeitpunkt spielt für mich keine Rolle. Ich bin von der Schweiz nie gehindert worden an meiner Entwicklung, wofür ich dankbar bin. Ich konnte immer machen, was ich wollte, nicht wie andere, in kommunistischen oder totalitären Staaten. Doch würde ich mir wünschen, dass hinter der Auszeichnung auch eine geistige Idee steht. Dass unsere Regierung wirklich bestrebt ist, die Musik zu fördern. Denn sonst geht die Menschheit vor die Hunde. Durch die ständige Berieselung verliert die Musik ihren Sprach- und Zeichencharakter. Früher haben alle gesungen, auch bei der Arbeit … heute ist da bei uns einfach nichts mehr, gar nichts mehr.

«Wir sind uns unserer Verblödung gar nicht bewusst!»

Was stimmt Sie so pessimistisch?

Dass die Musik nicht mehr Ausdruck der menschlichen Seele ist. Alle haben ihre Ohren mit Kopfhörern zugekleistert…

… aber über Kopfhörer kann ja auch gute Musik zu hören sein!

Unter Umständen, ja. Aber man kann so auch zum Autisten werden. In der Natur gibt es so wunderbare Klänge und Musik: vom Wind bis zu den Vogelstimmen. Aber immer weniger Leute nehmen diese auch wahr. Früher konnte eine Mutter Hunderte Kinderlieder singen, wodurch das Kind an Sprachhaftigkeit und Emotionalität gewann. Heute kennen Eltern vielleicht noch zwei Lieder. Wir merken gar nicht, was da verloren geht! Wir sind uns dieser Verblödung gar nicht bewusst, das ist ja das Verrückte am Ganzen. Die Berieselung durch den Fernseher lenkt uns von dieser Erkenntnis ab! 

Wir orientieren uns nur noch über die Augen, die Ohren haben aber keine Lider, die man schliessen kann, also hören wir weg, weil so viel Lärm in uns eindringt. Das ist eine ganz gefährliche Entwicklung. Ich hoffe da sehr auf die junge kritische Generation, die nicht mehr alles mitmacht und unsere Rettung sein wird.

Sehen Sie denn positive Anzeichen für diese «Rettung»?

Ja, durchaus. Ich treffe auf sehr viele kritisch denkende, kritisch eingestellte Studenten. Allerdings führt der Wettbewerbsdruck dazu, dass sie sich in ein Schema einfügen müssen. Da hat der Musiker einen Vorteil, er ist nicht so abhängig wie jemand, der in der Industrie tätig ist.

Sie rufen also dazu auf, schräg zu bleiben, anders zu sein?

Kritisch zu bleiben! Unsere sogenannte Bauernpartei besteht aus Pseudo-Landwirten, die in Verwaltungsposten tätig sind. Allein das sollte uns hellhörig machen! Wir gehören zu den wenigen Ländern, in denen mit Sommaruga und Berset zwei Berufsmusiker in der Regierung sitzen, was ein Privileg ist und vielleicht auch unseren Parlamentariern etwas bewusster werden sollte. 

Wie meinen Sie das?

Es scheint viel mehr Verständnis für Jugend+Sport zu geben wie für Jugend+Musik. Dabei wäre das doch ebenso wichtig! Es harzt hierzulande unglaublich, was Musikförderung angeht, vielleicht, weil die wenigsten Politiker Universalmenschen sind, sondern Vertreter von irgendwelchen Lobbys.  

Fühlen Sie sich selber als Universalmensch?

Ja, sicher. Ich konnte neben der Matur auch meinen Konservatoriumsabschluss machen, das zu einer Zeit, als so etwas nicht selbstverständlich war. Ich fühle mich privilegiert, bin neugierig und wissbegierig.

Im positiven Sinn auch verrückt, haben Sie doch als Jugendlicher schon so viel gemacht und erreicht.

Ja, aber das gehörte doch alles zusammen! Die Musik zur Mathematik, zur Malerei, Philosophie, Poesie zur Astronomie … all diese Instrumente bilden eine Einheit. Das Schubladendenken der heutigen Zeit, dieser Wahn zur Spezialisierung, ist eine Degenerierung. Ich war immer Bewunderer des «Homo universalis». Johann Sebastian Bach beschäftigte sich auch mit Rhetorik und musste noch Latein unterrichten – daneben war er Geiger, Cembalist, Organist und der grösste Komponist, den es je gegeben hat.

«Unser auf Spezialisten fixiertes System macht Symbiosen, macht die Offenheit kaputt.»

Die von Ihnen erwähnte Spezialisierung wird von unserem Bildungssystem aber eher forciert…

… was ich sehr bedaure! Die grössten Mathematiker waren unangepasste Typen, die sich auch mit Metaphysik befassten oder religiösen Fragen. Unser System und der Konkurrenzdruck macht diese Symbiosen, diese Offenheit zu leichtfertig kaputt. 

Sie könnten ja jetzt mit gutem Beispiel vorangehen und das Preisgeld, immerhin 100’000 Franken, in die Jugendförderung stecken.

Ich gebe das Geld ganz sicher weg. Bei all den Preisen, die ich in meinem Leben gewonnen habe, habe ich das Geld nie für mich behalten. 

Bewundernswert.

Aber das ist doch selbstverständlich!

Sagen Sie!

Auf jeden Fall werde ich dieses Preisgeld weiterschenken.

An wen oder was?

Da habe ich viele Ideen, aber noch keinen Entscheid gefällt. Es wäre zum Beispiel gar nicht abwegig, das Geld den Médecins sans frontières zu spenden. Unglaublich mutige Leute, die nur halbe Anerkennung erhalten, aber für mich zu den versteckten Helden unserer Zeit gehören.  

«Für mich ist Musik etwas Heiliges, was man nicht verhunzen darf.»

Ebenfalls bewundernswert ist Ihre Vitalität: Eben in Japan, nun in Basel, stehen Sie demnächst in Bukarest und Besançon auf der Bühne. Halten Sie diese Erfahrungen am Leben?

Ja, klar. Wenn die Neugierde weg ist, ist man tot. So wie ein Kind ständig etwas erfahren und herausfinden möchte, so geht es mir selber auch. Die Welt der Musik ist nie ganz zu enträtseln, man kommt nie an ein Ende! 

Sind Sie mit Ihrer Neugierde auch schon an Grenzen gestossen?

Sobald Musik epigonal wird, sobald sie kopiert wird, fehlt auch die Kreativität, langweilt sie mich. Allergisch und kritisch stehe ich auch modischen Entwicklungen gegenüber. Für mich ist Musik etwas Heiliges, was man nicht verhunzen darf.

Wie reagierten Sie denn auf die Rockmusik, als diese aufkam?

Meine Tochter brachte ziemlich viele Platten nach Hause. Ich erinnere mich etwa an Manfred Mann’s Earth Band und wunderte mich, wo die doch überall ihre Ideen stahlen! Aber mir gefiel durchaus, was sie machten. Heute habe ich keinen Bezug mehr dazu, weil eine Normisierung stattfand. Zudem klingt für mich vieles sehr faschistisch, auch wenn die Rockmusik zur linken Bewegung gehörte. Das Machtpowerplay mit der Elektronik missfällt mir. Und dann sind da die Sänger, die sich an einem Mikrofon halten wie an einem Rettungsring – sowas finde ich dann doch relativ lächerlich. 

Sie selber sind ja nicht nur Dirigent und Komponist, sondern auch weltberühmter Oboist. Nun gibt die Oboe bei Orchestern im eigentlich Sinn den Ton an – was auch auf Sie als ganze Person zutrifft. Waren Sie immer schon so?

Ich glaube schon, ja. Ich habe mein Leben lang gesagt, was ich denke.

Unter anderem auch diesen schönen Satz mit den Gartenzwergen…

Alle grosse Kunst ist an der Grenze, es gibt nichts in der Mitte – ausser Gartenzwerge. Ja. Und so ist es doch auch!

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