«Das Schöne an dem Film ist, dass ich ihn selbst nicht verstehe»

Der kanadische Regisseur Guy Maddin (59) hat einen festen Platz in der experimentellen Filmszene. Im Gespräch erklärt er, was Kunst mit Wahrheit zu tun hat und wie der Tod seines Vaters ihn zum Kino gebracht hat. Sein neuer Film läuft am Bildrausch Festival in Basel.

Guy Maddin dieses Jahr an den Filmfestspielen in Berlin. (Bild: imago)

Der kanadische Regisseur Guy Maddin (59) hat einen festen Platz in der experimentellen Filmszene. Im Gespräch erklärt er, was Kunst mit Wahrheit zu tun hat und wie der Tod seines Vaters ihn zum Kino gebracht hat. Sein neuer Film läuft am Bildrausch Festival in Basel.

«Ich bin gerade zufällig aufgewacht», sagt Guy Maddin, als er um 15 Uhr zu unserem Treffen in einer Basler Hotellobby die Treppe herunterkommt, den Jetlag noch in den Knochen. Er trägt schwarze Hose und T-Shirt, dazu Chucks. Ganz der Regisseur. Dabei ist er ohne Allüre, was man sich auch anders vorstellen könnte. Immerhin sind in seinem neuen Film «Forbidden Room» Schauspieler wie Charlotte Rampling, Mathieu Amalric, Udo Kier und Geraldine Chaplin dabei.

Möglich, dass sie auch eingefleischte Film-Fans nicht nicht auf den ersten Blick erkennen. Denn «Forbidden Room» ist wild und archaisch, mehr eine Folge von Geschichten als ein zusammenhängender Plot. Guy Maddin, geboren 1956 in Winnipeg, USA, hat dafür Szenen aus alten Filmen, die niemand mehr kennt, neu gedreht und zusammengefügt. Das ergibt einen Trip, der ohne Umweg in die Abgründe der Seele steigt, der aber auch sehr lustig ist. Denn es ist Maddins erklärtes Ziel, einmal einen Film hinzubekommen, der einen gleichzeitig lachen und weinen macht.

 

Ein wenig durch den Wind, sagt Guy Maddin, dass er am Abend noch eine Veranstaltung in Zürich habe, ein paar Stunden reden müsse, aber nicht wisse, worüber. Immerhin habe er daran gedacht, Hosen anzuziehen.

Herr Maddin, wenn einfach ein Pult dastehen würde mit einem Wasserglas drauf. Was würden Sie den Leuten erzählen?

Ich würde versuchen, als Experte aufzutreten, sagen wir, für Lost Cinema. Ich würde mich durchbluffen, auch wenn ein paar Kenner im Saal sitzen. Ich habe die letzten Jahre mit Studieren verbracht, auch wenn ich nie ein geordneter Schüler war. Ich steche irgendwo hinein, ohne das Ganze zu sehen. Wenn ich mich mit einem Monster beschäftige, sehe ich vielleicht nur sein Ohr. Also, der Titel des Vortrags wäre wohl «Das Ohr des Lost Cinema», präsentiert ohne Hosen von Guy Maddin.

Was ist Lost Cinema?

Filme, die gedreht wurden, die man aber nicht mehr sehen kann. 80 Prozent der Filme, die in Amerika bis 1940 gedreht wurden, gibt es nicht mehr. Manche Filme gingen während der Vorführung in Flammen auf, ganze Säle brannten nieder. Andere, die einen Oscar gewonnen haben, wurden zerstört, um Lagerplatz zu schaffen.

Machen Sie selber Lost Movies?

Auf eine Weise, ja. «Forbidden Room», der jetzt in Basel gezeigt wird, besteht aus lauter Plots von verlorenen Filmen. Ursprünglich wollte ich diesen Film als Gegenteil eines verlorenen Films machen und ihn in kleinen Teilen über das Internet verbreiten. Jeder, der sich dafür interessiert, soll ihn sehen können. Bis Herbst sollte das klappen.

Wo wir von Verlorenem reden: Was erzählt die Vergangenheit?

Das ist eine grosse Frage. Uns allen wurde beigebracht, dass die Geschichte sich wiederholt …

… Mark Twain sagt, die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich.

Das ist besser. Die Geschichte erzählt uns die erste Hälfte eines Reims. Ich schaue in meinen Filmen immer nach Reimen, ich bin froh, dass Sie das sagen. Reime und Überraschungen.

Aber warum die Vergangenheit?

Viele schauen in die Vergangenheit, weil sie einem Stil oder einem Charme nachhängen, den sie von Fotografien her kennen. Ich bin alt genug, dass ich mich an die frühen Sechziger erinnere. Die Musik, die politischen Haltungen, das war gut, aber ich bin nicht nostalgisch. Ich bin eher gejagt von gewissen Dingen. Und wenn man einen Film macht, wird man davon geheilt. Man verbringt etwa ein Jahr damit, Script, Casting, Drehen, Fetivals, und wenn man endlich aufhört darüber zu reden, hat man allen Saft aus der Materie gesogen und ist kuriert.

Klingt nach einem lästigen Prozess.

Manchmal will ich meine eigene Stimme nicht mehr hören, wie sie einen Film erklärt. Ich habe mir mal vorgenommen, nie zweimal den gleichen Satz über einen Film zu sagen, da verlässt man schnell die Wahrheit. Und nach einer Weile merkt man, dass man gerade dann, als man glaubte zu lügen, die Wahrheit gesagt hat. Wenn man diesen seltsamen Punkt erreicht, dann ist die Auseinandersetzung mit dem Thema abgeschlossen. Ich glaube sogar allgemein, dass ich von der Vergangenheit geheilt bin.

«Wichtig ist, dass man die Wahrheit nicht übertreibt, sondern nur entkleidet.»

Der Film heisst «Forbidden Room». Es ist verboten, vielleicht auch gefährlich, diesen Raum zu betreten. Warum?

Der Titel, übrigens übernommen von einem verlorenen Film, suggeriert das, ja. Das Schöne daran, diesen Film zu machen, war unter anderem, dass ich ihn selbst nicht verstehe.

Ihr Film ist jedenfalls sprung- und rätselhaft. Ist das so, weil Gefühle, Gedanken und Bilder auch im Geist nicht zusammenhängend auftreten?

Ja, es ist immer die Frage für einen Künstler, wie man einen Geisteszustand auf die Leinwand bekommt, ihn aus dem Marmor holt, ihn in Worte fasst. Immer wieder mal schafft es einer. Er reproduziert nicht das wahre Leben, aber er schafft etwas, was sich darauf reimt. Näher kann man nicht rankommen.

Wie gehen Sie vor?

Ich mag das Melodrama. Es behauptet, die Vorgänge zwischen Figuren unverdeckt zu zeigen. So wie ein Kind oder wie im Traum. Die Wahrheit ist nicht so verdeckt wie in der zivilisierten Gesellschaft. Wenn eine Figur im Melodram eine andere begehrt, dann kann sie sich einfach mal die Kleider vom Leib reissen. Oder sie schlägt zu, wenn sie Hass empfindet. In «Forbidden Room» habe ich versucht, eine Reihe solcher Melodramen aneinanderzureihen. So, als würde man durch eine Reihe von Bettlaken wandern, die an einer Wäscheleine im Wind hängen, und auf die je eine Geschichte projiziert wird. Wichtig ist, dass man die Wahrheit nicht übertreibt, sondern nur entkleidet.

Eine persönliche Frage: Sind Sie imstande, so zu handeln, wie Sie wirklich wollen?

Ich frage mich, ob selbst rasende Psychopathen das können. (Denkt nach). Ich bin vielleicht nicht die richtige Person, um das zu beantworten. Vielleicht weiss man nicht mal, was man eigentlich tun will.

Manchmal weiss man es.

Auf Alkohol (lacht). Ja, es gibt seltene Momente. Ich kenne ein paar Leute, die offensichtlich handeln, wie sie fühlen. Das Interessante ist, dass ich Ihnen viel mehr durchgehen lasse. Sie verletzen deine Gefühle, aber sie respektieren sie auch mehr. Zugleich ist es anstrengend, wenn die Person nicht gerade eine Ausgeburt an Charme oder Charisma ist.

Wie sind Sie zum Film gekommen?

Durch den Tod meines Vaters. Er starb, als ich 21 war. Während seiner Krankheit hatte ich Angst vor seinem Tod. Als er dann eines Tages starb, war ich schockiert, dass es gar nicht so schlimm war. Das Leben ging weiter, ich vermisste ihn ein bisschen, aber ich weinte nicht mal an seiner Beerdigung. Genaugenommen habe ich seine Beerdigung vergessen.

Fünf Jahre später begann ich, von ihm zu träumen. Im Traum war er nicht gestorben, sondern hatte uns verlassen für eine bessere Familie. Ich hatte den Traum bis zu fünf Mal die Woche. Es war wundervoll. Nur aus diesem Traum kenne ich seine Stimme; die aus dem realen Leben habe ich vergessen. In diesen Träumen kam er kurz nach Hause, weil er etwas vergessen hatte, etwa seinen Rasierapparat. Ich hatte ein oder zwei Minuten Zeit, um ihn zu überzeugen, zurückzukommen. Aber er verliess uns jedes Mal aufs Neue. Ich hatte im Traum so stark das Gefühl, er wäre bei mir, dass mir noch zehn Jahre nach seinem Tod schien, ich hätte ihn am Morgen des Tages gesehen.

«Ich will Ernsthaftigkeit nicht bloss loswerden, ich will sie verbannen.»

Ich hatte den Traum über 25 Jahre lang. Manchmal schlossen unsere Gespräche von Traum zu Traum aneinander an. Anstatt im Moment seines Todes zu trauern, trauerte ich Stück für Stück in den Nächten. Die Träume waren zugleich schön und verstörend, doch ich mochte den Zustand. Ich merkte, dass man das Verhältnis zu einem geliebten Menschen weiterführen kann, auch wenn er tot ist. Ich konnte im Traum zum Teil Gefühle ausdrücken, vor denen ich Angst hatte, als die Person noch lebte.

Daraus entstand die Idee, Filme zu machen?

Ja, ich wollte Filme machen, die sich den Gefühlen annähern, die ich im Traum hatte. Technisch konnte ich damals nichts. Nicht mal einen Snapshot von jemandem am Weihnachtsabend. Aber ich wusste von meiner kleinen Tochter, die mit Stift und Pinsel malte, dass der primitive Ausdruck von Wahrheit möglich ist. Auf eine Weise mussten meine Filme so primitiv sein wie ihre Bilder. Ich wusste, dass es chaotisch werden würde, aber ich dachte auch: Wenn ich so schnell arbeite wie ein Kind mit einem Stift, dann könnte etwas Wahrhaftiges dabei herausspringen.

Arbeiten Sie immer noch so?

Für «Forbidden Room» drehten wir pro Tag Material für 20 Minuten geschnittenen Film. Es war schnell und anstrengend.

Sie sagten, die Träume vom Vater waren angenehm, obwohl er Sie doch jedesmal aufs Neue verliess. Das erinnert mich daran, dass in Ihren Filmen selbst Themen wie Angst und Tod nie ohne Humor auskommen.

Wenn man sich fragt, wie man sich fühlt, rutscht man schnell ins Selbstmitleid. Wenn ich einen Film für andere Leute mache, will ich den Finger auf meine Gefühle legen, aber ich will mich nicht wichtig nehmen. Ich will nicht bloss loskommen von der Ernsthaftigkeit, ich will sie verbannen.

Das ist reflektiert. Fühlen Sie auch so, wenn Sie in sich hineinsehen?

Manchmal. Der stärkste Film, den man machen könnte, wäre wohl der, über den man im selben Moment lachen und weinen kann. Als Zuschauer bin ich dem bei «Imitation of Life» von Douglas Sirk am nächsten gekommen. Man lacht laut über die Imitation von Rock Hudson, und zugleich zeigt der Film die Verzweiflung über eine Liebe, die nicht stattfinden kann. Diese Verzweiflung wird durch Abwesenheit von Ernsthaftigkeit gezeigt, durch eine Art überlegene Heiterkeit. Das ist möglich, aber ich weiss nicht, ob man so ein Ergebnis planen kann.

Sie sagten anfangs, Sie hätten die Vergangenheit hinter sich. Stimmt das?

Ich weiss nicht, ob das stimmt. (lacht) Ich habe noch geschlafen am Anfang unseres Gesprächs. Ich frage mich aber selbst, warum ich elf Filme gemacht habe, die irgendwie mit der Vergangenheit zu tun haben. Mein erster Film sollte in der Gegenwart spielen. Ich konnte technisch wie gesagt nichts. Ich eignete mir an, dass man einen Raum mit drei Lichtquellen ausleuchtet. Ich war aber so schlecht, dass der Schauspieler drei Nasenschatten im Gesicht hatte. Also machte ich zwei Leuchten wieder aus. Zunächst sah der Schatten aus wie ein Hitlerbart, aber mit der Zeit gut. Ausserdem drehte ich in Schwarzweiss, weil ich Farbe nicht beherrschte. So entstanden Filme, die expressionistisch oder noir wirkten, ohne dass ich vorsätzlich in die Vergangenheit wollte.

In die Falle getappt.

Genau. Sobald ich eine Kamera anschaltete, trieb es mich in meine eigene Vorgeschichte. Ich glaube, ich sollte nicht weitere Filme über die Vergangenheit machen. Ich spüre seit einiger Zeit, dass meine Lebenszeit begrenzt ist. Vielleicht sollte ich anfangen, über die Zukunft nachzudenken. Oder wenigstens etwas Gegenwart wäre schön (lacht). 

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«Forbidden Room» am Bildrausch Festival: 30. Mai, 19:30, Stadtkino Basel. Guy Maddin ist anwesend.

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