«Der böse Bünzli ist immer der andere»

Peter Schneider über den neuen Stolz auf die eigene Bünzligkeit, warum sie gegen Neurosen hilft und warum das Nachdenken über Bünzlis bereits bünzlig ist.

«Diese ständige Beschäf­tigung mit Stil- und Benimmfragen selbst erscheint mir ausserordentlich bünzlig»: Peter Schneider über Bünzlis, die Angst haben Bünzlis zu sein (Bild: Hans-Jörg Walter)

Peter Schneider über den neuen Stolz auf die eigene Bünzligkeit, warum sie gegen Neurosen hilft und warum das Nachdenken über Bünzlis bereits bünzlig ist.

Er ist viel beschäftigt und noch mehr unterwegs – wir haben den Psychoanalytiker Peter Schneider dennoch erwischt. Der bekannte Satiriker hat sich gewohnt pointiert zum Bünzlitum geäussert. Im schriftlich geführten Interview verrät er die richtige Strategie gegen die eigene Spiessigkeit. Aber Vorsicht: Wer sich zu viel Gedanken darüber macht, ist keinen Deut besser als die anderen Bünzlis.

(Bild: peterschneider.info)

Peter Schneider ist Psychoanalytiker. Bekannt sind seine satirischen Kolumnen auf Radio SRF 3 und in der «SonntagsZeitung». Im «Tages-Anzeiger» und «Bund» beschäftigt er sich mit Leser-Fragen zu Alltäglichem und weniger ­Alltäglichem. Der 56-Jährige hat Philosophie, Germanistik und Psychologie in Bochum, Münster und Zürich studiert.

Herr Schneider, Sie beschäftigen sich in Ihrer «Tages-Anzeiger»-Kolumne mit Alltagsfragen. Täuscht der Eindruck, dass es dabei oft – versteckt oder ­weniger versteckt – um die Angst der Leute geht, als Bünzli abgestempelt zu werden?

Der Bünzli ist in letzter Zeit eher zu einem Topos positiver Selbstbeschreibung geworden. «Ich bin halt ein Bünzli», sagen die Leute und meinen: Das ist auch gut so. Und wenn sie fragen, ob Sie etwa ein Bünzli sind, nur weil Sie von ihren Gästen verlangen, die Schuhe aus­zuziehen, dann wollen sie vor allem hören, dass die Gäste falsch liegen, wenn sie sich nicht selbstverständlich beim Überschreiten der Schwelle ihrer Schuhe entledigen. Dann gibt es aber auch noch so etwas wie eine Art Meta-Bünzligkeit: Die Leute regen sich unglaublich darüber auf, dass es Leute gibt, die von ihren Gästen verlangen, die Schuhe aus­zuziehen. Diese ständige Beschäf­tigung mit Stil- und Benimmfragen selbst erscheint mir ausserordentlich bünzlig.

Warum haben denn viele Leute so sehr ein Problem damit, ein Bünzli zu sein?

Ich glaube, sie haben weniger ein Problem damit, ein Bünzli zu sein, als damit, «Bünzli» genannt zu ­werden. Wobei man sagen muss – Stichwort: Meta-Bünzlitum: Die ­obsessive Beschäftigung mit der Frage, wer oder was denn nun ­bünzlig ist, ist selber ein Symptom des Bünzlitums ist.

Aufgesetzte Coolness als ­Bünzlitum?

Alles ist möglich – man sollte sich davor hüten, das Bünzlitum inhaltlich exakt fassen zu wollen.

«Selbst der Ich-bin-halt-ein-Bünzli-Typ wird Leute kennen, die er für richtige Bünzlis hält.»

War einst von Bünzlis die Rede, hatte man Schrebergärtner oder Leute, die am Samstagnachmittag ihr Auto vor der Haustür wuschen, vor Augen. Diese Spezies ist am Aussterben – wer taugt denn heute noch als Feindbild des Bünzlis?

Im Prinzip jeder. Selbst der Ich-­bin-halt-ein-Bünzli-Typus wird ­Leute kennen, die er für richtige Bünzlis hält. Der böse Bünzli ist ­immer der andere.

Kariertes Hemd, Schnauz, ­Unterhemd, Brille – viele bisher «bünzlige» Merkmale sind ­inzwischen als Stil von den ­heutigen Hipsters übernommen worden. Wie ist diese Entwicklung zu erklären?

Unter dem Vorzeichen der Ironie ist alles möglich. Oder frei nach Shake-speare: «In is out and out is in.» Out ist der, der beim schnellen Spiel der Moden nicht ­mitkommt. Aber selbst das ist nicht sicher: Vielleicht ist er auch der Avantgardist von morgen.

Was ist für Sie ein ­typischer Bünzli?

Die Marotten, die der Bünzli nicht als solche wahrnimmt und die ihm darum auch nicht peinlich sind, wenn sie aus der Sphäre des Privaten in die Öffentlichkeit dringen. Er hält seine Aversion gegen Zigarettenrauch nicht für eine Eigenheit, die, wenn er sie nicht hätte, das soziale Leben erleichtern würde – er hält sie für eine Tugend und schickt seine Gäste zum Rauchen auf den Balkon hinaus. Er erklärt seine Empfindlichkeiten zur «richtigen» Lebensform. Der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf nennt das «Stolz auf die eigene Kleinkariertheit». Dazu gehört der Unwille oder auch die Unfähigkeit, sich vorzustellen, dass andere Menschen anders leben. Der Bünzli schwafelt angesichts dieser Tatsache von «Parallelgesellschaften», deren Entstehung man im Keim ersticken müsse.

Können sich aus dem Bünzli-Sein Neurosen entwickeln?

Eher im Gegenteil – es ist ein Versuch, Neurosen zu vermeiden, indem man mit Menschen, die anders leben, in jene Konflikte gerät, die man nicht als inneren Konflikt mit sich austragen möchte. Statt einen Reinlichkeitszwang zu entwickeln, verstrickt man sich in querulatorische Diskussionen mit den Nachbarn, welche den Müllsack schon am Abend herausstellen, weil sie keine Lust haben, am Tag der Müllabfuhr spätestens um sieben Uhr in der Früh aufzustehen.

«Man sollte seine Äusserungen und sein Verhalten daraufhin überprüfen, ob man nicht aus irgendwelchen Nöten Tugenden macht.»

Kann man überhaupt verhindern bünzlig zu sein?

Sicher kann man das. Man sollte seine Äusserungen und sein Verhalten daraufhin überprüfen, ob man nicht aus irgendwelchen Nöten Tugenden macht. Selbstzufriedenheit mit der eigenen Beschränktheit ist das wichtigste Charakteristikum des Bünzlitums. Wer seine Urteile – wenigstens hin und wieder – infrage stellt und seine eigenen Vorlieben daraufhin überprüft, ob sie wirklich zu gesellschaftlichen Maximen verallgemeinert werden müssen, treibt eine sinnvolle Bünzli-Prophylaxe.

Das Leben der Eltern gilt in der Regel als bünzlig. Der Nachwuchs will nie so werden – ­dennoch scheint der Bünzli nicht auszusterben, sondern nur seine Attribute zu ändern. Warum eigentlich?

Im Moment ist ja sogar ein, wenn auch leicht verschämtes Bekenntnis zur elterlichen Bünzligkeit salon­fähig. Gesellschaftliche Konflikte ändern sich nicht automatisch mit einem Generationenwechsel, sie verändern allenfalls ihre Form. Die eigene Lebensform gilt als selbstverständlich, die der anderen als problematisch. Diese Bünzli-Maxime lässt sich in inhaltlich sehr unterschiedliche Formen giessen.

In welche denn?

In die Form des pietistischen Öko-Bünzlis genauso wie in die des hedonistischen Anti-Bünzlis. Die Berliner Schwaben-Welten sind so bünzlig wie die Anti-Gentrifizierungs-Aktivisten («Der Kiez soll schwabenfrei bleiben!»). Wer zuerst «Bünzli!» ruft hat gewonnen, und der so Etikettierte hat sich umständlich zu rechtfertigen. Was ihn nur noch bünzliger erscheinen lässt.

Braucht es im Alter womöglich eine gewisse Bünzligkeit?

Nein, das braucht es nicht. Aber es gehört zum Bünzlitum, auf eine Art mühsam erworbene ­Altersweisheit hinzuweisen. Die Inflexibilität, die zwangsläufig mit dem Alter einhergeht, wird nicht bedauert, sondern als Erkenntnisfortschritt ausgegeben. Dabei handelt es sich bloss um einen Fortschritt in der Verfestigung der eigenen geistigen Provinzialität. Und die ist so überflüssig wie eine Arthrose. Für die Arthrose kann man nichts, für den Stolz auf die ­eigene Bünzligkeit schon.

 
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Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 05.04.13

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