Politologe Werner Seitz macht den Bürgerlichen keine falschen Hoffnungen: Rot-Grün sei in den Städten zu stark.
Herr Seitz, warum lebt es sich in den Schweizer Städten so gut? Wegen oder trotz Rot-Grün?
Rot-Grün hat ganz sicher einen Anteil daran. In den 1990er-Jahren waren die Städte in der Schweiz nämlich in einer schwierigen Situation. Der begüterte Mittelstand zog weg und man sprach etwas despektierlich von A-Städten: Alte, Arbeitslose, Auszubildende, Ausländer, Arme. Heute ist urbanes Leben ein positiv besetzter Begriff, und die Leute ziehen wieder in die Städte. Es sind Menschen, die gut ausgebildet sind und gute Jobs haben.
Hätte die Entwicklung zum Guten nicht auch unter bürgerlichen Regierungen stattfinden können?
Ja, natürlich. Die Bürgerlichen stellten ja über viele Jahrzehnte hinweg die Mehrheit in den Stadtregierungen, und die Städte waren gesellschaftliche Lokomotiven. Dann kamen aber die 1990er-Jahre, in denen die Bürgerlichen in den Städten die politische Hegemonie verloren.
Was haben sie falsch gemacht?
Wir haben es hier mit einem nationalen Phänomen zu tun. Die Freisinnigen kamen unter Druck der SVP und liessen sich nach rechts ziehen. Für die Städte bedeutete das, dass das Mitte-Milieu als Wählerpotenzial für die FDP verloren ging. Inhaltlich waren die Bürgerlichen in dieser Phase nicht sehr innovativ: Sie konzentrierten sich darauf, zu sparen und die Steuern zu senken.
Welche Themen haben die Bürgerlichen vernachlässigt?
Beim Drogenproblem wurden die Städte ziemlich alleine gelassen. Hier hat sich Rot-Grün – mit Unterstützung der FDP – ausgezeichnet. Andere Bereiche wurden erst von den rot-grünen Mehrheiten angepackt. Sie förderten den öffentlichen Verkehr und beruhigten den Verkehr in den Wohnzonen. Sie schufen Tagesschulen, Mittagstische und Kinderkrippen und setzten sich für mehr Kultur ein. Sie gaben sich zudem Mühe, attraktiven und bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. All das taten sie, ohne die Steuern zu erhöhen. Eine urbane FDP hätte das im Grunde alles auch tun können.
Waren die Freisinnigen, verzeihen Sie den Begriff, zu blöd dafür?
Nein, das war keine Frage der Intelligenz, sondern eine des politischen Drucks. Die Situation war für die FDP schwierig. Noch in den 1980er-Jahren hatten die Freisinnigen einen ökologischen Flügel und sie führten aktiv einen Öffnungsdiskurs. Gerade in diesen Themen aber kamen sie unter den Druck von rechts, dem sie teilweise nachgaben – und dabei noch mehr auf die Verliererstrasse kamen.
Nach ein paar Jahren in der Regierung heisst es heute über Rot-Grün, sie seien die besseren Bürgerlichen. Stimmt das?
Man kann dies auf der kommunalen Ebene schon so sehen, gerade auch weil die Kompetenzen der Städte nicht besonders gross sind. Es gibt aber selbstverständlich programmatische Unterschiede zwischen Rot-Grün und den Bürgerlichen.
Aber gewisse Dinge machen sie auch gleich: Gerade in Basel ist die rot-grüne Regierung sehr wirtschaftsnah.
Es ist nachvollziehbar, dass rot-grüne Oppositionspolitik nicht rot-grüne Regierungspolitik sein kann.
Sehen Sie eine Möglichkeit für die Bürgerlichen, die Städte wieder zurückzuerobern?
Dafür müssten sie sich urbaner aufstellen. Vergleicht man die Wahlergebnisse der letzten 20 Jahre, so ist die FDP in den grossen Städten von 23 auf 14 Prozent eingebrochen. Das gibt den Bürgerlichen wenig Anlass, zu hoffen. Die SVP war in den Städten nie ein wesentlicher Faktor, und bei den Grün-liberalen muss man noch abwarten, wie sie sich programmatisch positionieren und bewähren, bevor man ihre Bedeutung einschätzen kann. Es kommt erschwerend dazu, dass die Bürgerlichen in den Städten gespalten sind. Das verunmöglicht momentan jede Perspektive auf eine bürgerliche Wende.
Warum strahlen die Erfolge von Rot-Grün in den Städten nicht auf das ganze Land aus?
Das ist relativ banal: Weil die Kantone aus mehr als den Städten bestehen. Die meisten Kantone bestehen aus rot-grünen Städten und einer bürgerlich-konservativen Landschaft. Und weil das Land mit der Agglomeration stärker ist als die Stadt, sind die kantonale und die nationale Politik meistens bürgerlich dominiert. Allerdings gibt es zwei Gegenbeispiele: In der Waadt und in Bern hat Rot-Grün seit mehr als einer Legislatur die Mehrheit in der kantonalen Regierung.
Ist das eine längerfristige Entwicklung oder eine Laune des Systems?
In Bern stützt sich die rot-grüne Mehrheit auf eine Besonderheit des Wahlsystems ab, das den sogenannten Jura-Sitz nach einem speziellen Modus vergibt. Diesen hat seit sechs Jahren die SP inne. In der Waadt beobachten wir dagegen echte strukturelle und politische Veränderungen.
Die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer lebt in Städten. Da müsste deren Einfluss doch auch national grösser sein.
Das ist eine immer wiederkehrende Forderung, dass die Städte angesichts ihrer Aufgaben und Bedeutung national mehr Gewicht haben sollten. Allerdings lebt die Mehrheit der Schweizer in der Agglomeration oder auf dem Land – das erklärt, warum die Städte gelegentlich überstimmt werden.
Ist das ein Problem?
Eine solche Spaltung wird dann zum Problem, wenn sie regelmässig auftritt und wenn immer die gleichen Bevölkerungsteile überstimmt werden. In der Schweiz ist dies bei den vielen Volksabstimmungen kaum der Fall. Es gibt Themen, die nicht nach dem Schema Stadt–Land polarisieren. Wenn die Romandie zudem ähnlich stimmt wie die Städte, sind beide potenziell auf der Siegerseite. Bei der jüngsten Abstimmung über die Zweitwohnungsinitiative wurden die Landkantone von den Städten überstimmt.
Haben die Jahre an der Macht Rot-Grün verändert?
Mich dünkt es, die SP und die Grünen hätten sich gut in ihre neue Rolle eingelebt. Beide Parteien haben sich ursprünglich als Juniorpartner beziehungsweise Oppositionspartei verstanden und mussten in die alleinige Regierungsverantwortung hineinwachsen. Das haben sie gemacht und konnten dabei auch die Mitte einbinden.
Wir in Basel-Stadt rühmen uns gerne, ein Spezialfall zu sein. Nicht nur mit der rot-grünen Regierung, sondern gleich mit dem ganzen Kanton.
Natürlich stimmt Basel in vielen sozialen Fragen und Fragen nach der politischen Öffnung meistens so fortschrittlich wie die Romandie. Auch war Basel-Stadt der erste Deutschschweizer Kanton, der das Frauenstimmrecht einführte. Das hängt aber damit zusammen, dass Basel-Stadt ein Stadtkanton ohne Land ist. Im direkten Vergleich mit anderen Städten erscheint Basel nicht mehr so speziell.
Quellen
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 31.08.12