«In der Luft fühle ich mich sicherer»: Wie Chrigel Maurer über die Alpen flog

Chrigel Maurer, der Adler von Adelboden, hat zum fünften Mal in Serie den Alpenkamm als Schnellster per pedes und Gleitschirm gequert. Bevor er 11 Tage und 23 Stunden nach dem Start in Salzburg das Ziel in Monaco erreichte, gab er auf einer Hauptstrasse in der
Po-Ebene marschierend ein Interview.

12 Tage lang lief und fliegt Chrigel Maurer durch die Alpen. (Bild: Harald Tauderer/Red Bull Content Pool)

Trotz Krankheit im Vorfeld des X-Alps-Rennens und Knieproblemen kurz nach Start liegt Seriensieger Chrigel Maurer nach über 1100 Kilometern längs des Alpenkamms in Führung. Sein Live Tracker gibt zur Zeit des Interviews noch 50 Kilometer Luftlinie bis zum Ziel in Monaco an. Eigentlich keine Distanz für den Langstreckenspezialisten, der im Juni mit 333 Kilometern einen neuen Rekord im Gleitschirmfliegen aufgestellt hat und noch vor zwei Tagen mit 124 Kilometern pro Stunde durch die Berge flog.

Gewitterzellen machten solche Flüge seither unmöglich. So kämpft sich der 34-Jährige mit schmerzenden Knien zu Fuss durch die Po-Ebene, während sein nächster Verfolger, der französische Ultramarathonläufer Benoît Outters Boden gutmacht. Deshalb versucht Maurer auf einer Strasse möglichst schnell in höhere Lagen zu kommen, wo er wieder den Schirm ausfalten kann. Trotzdem nimmt er den Telefonanruf entgegen und gibt spontan ein Interview.

Chrigel Maurer, heute ist der Entscheidungstag des Rennes. Nun geben Sie bereits ein Interview und der Verkehrslärm im Hintergrund ist lauter als Ihr Atem. Sind Sie nach den letzten vier Erfolgen bereits so siegessicher?

Nein, sogar der drittplatzierte Paul Guschlbauer könnte mich fliegend noch überholen. Darum habe ich wie die anderen meinen Night Pass aktiviert, damit ich die Nacht durchmarschieren könnte. Schon jetzt zu stark Tempo zu machen wäre aber kontraproduktiv.

Könnten Ihre Knie denn noch schneller?

Die Schmerzen der Entzündung kommen und gehen. Gestern Abend ging es joggend sogar besser als gehend. Aber es geht nicht nur um die Schmerzen: Wenn der Körper überstrapaziert wird, zahlst du böse. Das haben mich die letzten Rennen definitiv gelehrt und das sieht man auch bei Athleten, die ihren Night Pass bereits eingesetzt haben und im weiteren Verlauf eingebrochen sind. So kurz vor dem Ziel kann ich meinen Joker nun spielen.

Sie stiegen geschwächt ins Rennen. Den neu eingeführten Prolog mussten Sie krankheitsbedingt sogar absagen.

Das war nachträglich sogar mein Glück. Wer sich schon im Prolog verausgabt hat, um Bonuspunkte zu sammeln, etwa einen zweiten Night Pass, der hat im Rennen gebüsst.

Im Reglement steht, dass nur zu den X-Alps starten darf, wer den neu eingeführten Prolog absolviert hat. Wurden Sie als Seriensieger verschont?

Nein, das Reglement wurde nachträglich angepasst, weil nach meiner Absage auch andere Athleten nicht starten wollten, um Energie zu sparen.

Die X-Alps sind ja schon sehr strapazenreich und kräftezehrend. Nun schrauben die Veranstalter und Sponsoren die Anforderungen noch höher, um mehr Spektakel zu generieren. Setzt man Ihre Sicherheit aufs Spiel?

Bei der Auswahl der 32 Teams wird sicher geprüft, dass alle Athleten Risiken abwägen können. Als Bergsportler sind wir das gewohnt. Passieren kann immer etwas. Übrigens fühle ich mich in der Luft und in den Bergen sicherer als jetzt gerade. Dort kann ich das Risiko besser einschätzen.

Angst vorm Schlenker eines Autolenkers?

Es muss ja nicht mal ein Fahrfehler sein. Vorhin drehte der Gedanke im Kopf: Was, wenn sich nun bei einem Auto eine Radkappe löst und wie eine rotierende Sägescheibe über meinen Kopf zieht? Da kann weder der Fahrer noch ich etwas dafür.

Gegen das Restrisiko kann man nichts machen. Können sich Sportler gegen den Sponsorendruck nach immer extremeren Leistungen zur Wehr setzen?

Wir sind ja nicht wehrlos gegen Auflagen und Änderungen. Gemeinsam sitzen wir am längeren Hebel. So haben wir anfangs den Start verweigert wegen kurzfristig geänderten Regelungen, wie dass wir nur noch Kameras und Handys von Sponsoren verwenden dürfen.

Ihr Output an Videos und Mitteilungen aus der Luft oder vom Boden ist enorm. Ist das auch Pflicht? Das nimmt doch die Konzentration auf das Rennen.

Nein, in gewissen Phasen ist das kein Problem. So wie jetzt zu telefonieren ist unterhaltsamer als einsam am Strassenrand zu marschieren. Meine Fotos und Filmchen mache ich auch mehr für meine Anhänger, meist andere Gleitschirmpiloten, die mein Rennen im Internet über meine Facebook-Seite oder den offiziellen Live Tracker verfolgen. Die Rennsponsoren haben eigene professionelle Equipen.

Am Boden unterstützte Sie bei den letzten vier Siegen nur der Basler Psychologe und Bergführer Thomas Theurillat. Nun haben Sie ein grösseres Team beisammen.

Früher durfte man die X-Alps nur als Zweierteam bestreiten. Auch diese Regel hat geändert, denn die Bodencrew muss abhängig von der Wetterentwicklung die Routen planen und von Lande- und Schlafplätzen bis zur Versorgung mit Medizin und Essen alles organisieren. Nun haben ein paar Sportler bis zu acht Betreuer am Boden. Da bin ich mit meinem Dreierteam immer noch spartanisch. Aber die Qualität des Essens hat sich so definitiv verbessert. So schlief ich auch besser, konnte mich besser regenerieren als bei früheren Rennen und fühle mich nun frischer.

Ihre Knie sprechen eine andere Sprache.

Mit der Belastbarkeit meiner Beine kämpfe ich schon länger. Aber das zeigt nur noch deutlicher: Entscheidender als jeder Muskel ist bei diesem Rennen ein fittes Hirn. Um über fast zwei Wochen leistungsfähig zu bleiben, braucht es gute Regeneration. Bei Muskeln kann man mit Massage oder anderen Mitteln nachhelfen. Ein Hirn braucht schlicht genug Schlaf, um wieder Energie zu haben für alle Entscheidungen unterwegs.

Mit Köpfchen haben Sie Ihren Gegnern gleich zu Beginn mit einem geschickten Schlenker ein Schnippchen geschlagen.

Da ich nicht besonders laufstark bin, zog ich anders als das Feld trotz Nebel gleich einen Berg hoch. Zwei Mitstreiter folgten mir. Doch als oben immer noch Suppe war, gingen die beiden erst ins Restaurant, um sich zu verpflegen, während ich den Schirm bereit machte und so genau das Wolkenloch erwischte, um starten zu können. Da ging es jedoch mehr um ein Bauchgefühl. Dieses unterstützt das Hirn noch oft bei der Routenwahl durch die Alpen. [Bis auf sieben Kontrollpunkte können die Athleten frei entscheiden, wo sie durchziehen – die Red.] Das Hirn muss auch Risiken einschätzen und notfalls richtig reagieren können.

Guckt man sich die Akrobatik-Flüge auf Ihrer Homepage an, sieht das mehr nach Hirn ausschalten aus.

Diese Figuren sind das beste Training für Extremsituationen. So kann man sich kontrolliert an Risikobereiche herantasten und, falls sie eintreffen, richtig reagieren. Darum übe ich diese Figuren wieder und wieder.

Trotzdem hatten Sie vor drei Jahren ihren ersten Flugunfall.

Ja. Allerdings ganz unspektakulär bei einer Landung. Ich schätzte die Situation als ungefährlich ein, dann hat es mich unerwartet nach unten gedrückt und der Fuss war futsch. Solche Situationen und die weitaus tragischeren Unfälle von Freunden und anderen Athleten lehren mich immer, dass ich umso wacher bleiben muss.

Wie lange sind Sie mental und körperlich noch bereit, solche Risiken und Strapazen wie die X-Alps einzugehen?

Nun, ich fand es dieses Jahr mein entspanntestes Rennen. Die neuen Kontrollpunkte liessen mich neue Gegenden entdecken, und ich schloss unterwegs ein, zwei schöne Bekanntschaften. Etwa mit dem 60-jährigen italienischen Jogger, der mich gestern spontan begleitete. Die X-Alps sind für mich noch immer das schönste sportliche Abenteuer. Aber nun freue ich mich, wenn mich die Strasse endlich auf den Berg geführt hat, und ich hoffentlich noch heute ins Ziel fliegen und gut schlafen kann!

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