«Der Schwarze Peter wird den Gerichten zugeschoben»

Helen Keller, Schweizer Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, über ihre Arbeit in Strassburg und die Sündenbock-Politik der SVP.

Die Schweizer Voelkerrechtsprofessorin Helen Keller, aufgenommen am Freitag, 3. September 2010, in Zuerich. Keller ist am 2. September 2010 in den Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen gewaehlt worden. (KEYSTONE/Steffen Schmidt) (Bild: STEFFEN SCHMIDT)

Helen Keller, Schweizer Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, über ihre Arbeit in Strassburg und die Sündenbock-Politik der SVP.

Frau Keller, vor Kurzem gab es viel Wirbel um den Fall eines Ecuadorianers, der von der Schweiz nicht ausgeschafft werden darf. Auch in anderen Fällen sprachen manche von «Sozialhilfebetrügern» und «kriminellen Asylbetrügern». Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie solche Kommentare lesen?

Diese Kommentare machen mich traurig, sie sind völlig einseitig. Die menschliche Dimension geht dabei völlig verloren. Im Fall Hasanbasic gegen die Schweiz wurde zum Beispiel nie erwähnt, dass der Mann ein Vierteljahrhundert und die Frau über 40 Jahre in der Schweiz gelebt und gearbeitet haben. Das ist ein halbes Menschenleben! Da braucht es schon sehr gewichtige Gründe, um jemanden auszuweisen.

Warum hören wir aus Strassburg immer nur von Ausschaffungsfällen?

Die Medien greifen vor allem diese Fälle heraus und machen vorwiegend aus gestoppten Ausschaffungsfällen eine Story. Die vielen Fälle, in denen der Gerichtshof die Ausschaffungsentscheide der Schweizer Behörden geschützt hat, erscheinen kaum je in den Medien; ich erwähne etwa die Fälle Ukaj, Palanci, Vasquez und Berisha.

Alles Fälle, bei denen der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Ausschaffung der Schweiz als rechtmässig einstufte. Die Urteile betrafen den Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) «Recht auf Privat- und Familienleben». Warum gibt es zu diesem Artikel generell so viele Beschwerden?

Das Recht auf Privat- und Familienleben ist ein Auffanggrundrecht mit einem sehr weiten Anwendungsbereich. Da fällt von der Telefonüberwachung über die Familienzusammenführung bis zum Namensrecht alles darunter. Es geht also nicht immer nur um Ausschaffungen von Ausländern.

Aber fest steht: Strassburg kippt viele schweizerische Urteile. Im letzten Jahr 9 von 13 Urteilen. Viele empfinden das als Angriff auf die Souveränität. Können Sie diese Sicht verstehen?

Die einseitige Berichterstattung vermittelt einen völlig falschen Eindruck. Man könnte meinen, der Gerichtshof würde jedes zweite Urteil aus der Schweiz umdrehen. In Tat und Wahrheit kippt der Gerichtshof nur rund einen von hundert Schweizer Fällen. Hier von einem Angriff auf die schweizerische Souveränität zu sprechen, scheint mir völlig übertrieben.

«In der politischen Debatte ist es viel einfacher, die ‹fremden› Richter als Sündenböcke darzustellen, als das Bundesgericht selbst anzugreifen.»

Es könnte jedoch in Zukunft zu mehr Beschwerden kommen – durch die Ausschaffungsinitiative, Pädophilen-Initiative, die Entscheidung für lebenslange Verwahrung, das Verbot von Minaretten. Wird es in den nächsten Jahren eine Flut an Menschenrechtsbeschwerden aus der Schweiz geben?

Nein, das glaube ich nicht. In der Schweiz sorgen primär die Gerichte von Bund und Kantonen für die Einhaltung der Menschenrechte. Gerade das Bundesgericht macht seine Arbeit sehr gut. In den letzten Monaten sind ein paar wegweisende Urteile ergangen, so etwa zur Verbindlichkeit der EMRK oder der Stärkung der Flüchtlingsrechte.

Glauben Sie, dass einige Politiker in der Schweiz gezielt eine Konfrontation mit dem Strassburger Gericht provozieren?

Im Visier dieser Politiker steht nicht primär der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), sondern die Rechtsstaatlichkeit der Schweiz. Diese Initiativen – zum Beispiel die Ausschaffungsinitiative – verletzten nicht primär die EMRK, sondern die Schweizerische Bundesverfassung. Der Gerichtshof wäre einfach die allerletzte Instanz, die eine Menschenrechtsverletzung feststellen würde – aber erst, wenn alle innerstaatlichen Auffangnetze versagt haben. Es ist jedoch in der politischen Debatte viel einfacher, die «fremden» Richter als Sündenböcke darzustellen, als das Bundesgericht selbst anzugreifen. Da steckt viel politisches Kalkül der politischen Rechten dahinter.

Die Ausschaffungsinitiative widerspricht dem zwingenden Völkerrecht. Was ist da aus Ihrer Sicht schiefgelaufen?

National- und Ständerat haben ihre Aufgabe nicht gemacht. Laut Bundesverfassung ist das Parlament das höchste Organ, das auch die Verfassung schützen sollte. Vor lauter Angst vor der politischen Rechten und allfälligen Durchsetzungsinitiativen traut sich jedoch niemand mehr, klar zu sagen, dass fundamentale Werte der Schweiz verletzt werden. Der Schwarze Peter wird damit den Gerichten in die Schuhe geschoben.

Die SVP will die Europäische Menschenrechtskonvention kündigen. Wie ernst nehmen Sie diese Drohung?

(lacht) Dann würde ich arbeitslos! Aber Spass bei Seite: Der SVP ist es ernst damit. Wir sollten uns deshalb gut argumentativ auf einen Abstimmungskampf vorbereiten, damit der Souverän weiss, was er verlieren würde, wenn er der Kündigung zustimmen würde. Ich bin überzeugt, dass diese nicht mehrheitsfähig ist.

«Würde die Schweiz die Europäische Menschenrechtskonvention kündigen, könnte es gut sein, dass das eine Signalwirkung für andere Staaten hat.»

Was würde die Schweiz denn verlieren?

Am hohen Menschenrechtsstandard in der Schweiz würde sich unmittelbar kaum etwas Spürbares ändern. Der starke Schutz der Menschenrechte ist vor allem dem Wohlstand in unserem Land, dem starken Rechtsstaat und dem Bundesgericht zu verdanken. Die Kündigung der Menschenrechtskonvention geht aber einher mit dem Austritt der Schweiz aus dem Europarat, dem alle europäischen Länder ausser Weissrussland angehören. Damit würde sich unser Land in Europa völlig isolieren.

Würden dann vielleicht noch andere Länder diesen Schritt in Erwägung ziehen?

Es könnte gut sein, dass das eine Signalwirkung für andere Staaten (z.B. Russland) hat. Das wäre fatal für die Menschenrechte in diesen Ländern.

Wie nehmen Ihre Strassburger Kollegen diese Austritts-Debatte wahr?

Man reagiert mit Erstaunen. Man zieht eine Parallele zur Diskussion in Grossbritannien, kann es aber letztlich kaum fassen, dass die Schweiz zu einem solchen Schritt bereit wäre. Zu sehr wird die Schweiz im Ausland mit Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten und Demokratie assoziiert.

Machen Sie Ihre Arbeit in Strassburg noch gerne – trotz Kritik-Dauerfeuer?

Ja, die Arbeit ist spannend, wenn auch manchmal belastend. Ich kann sehr viel bewirken für die betroffenen Menschen, die Schweiz und die Menschenrechte – häufig mit einer Ausstrahlung auf die ganze Welt. Der EGMR gehört zu den prominentesten Gerichten. Seine Urteile werden von vielen Gerichten auch ausserhalb von Europa gelesen.

«Dem Gerichtshof hat man schon manchmal den Untergang vorausgesagt. Bisher hat er sich aber als sehr zähes Stehaufmännchen erwiesen.»

Was war für Sie ein Highlight Ihrer Laufbahn in Strassburg?

Tolle Momente hat man als Richterin, wenn man in den Verhandlungssaal geht und die Kolleginnen und Kollegen von einer anderen Entscheidung als im Urteilsentwurf vorgesehen überzeugen kann. Damit ist auch gesagt, dass es nicht zu den Highlights gehört, wenn man in der Minderheit landet. Man muss in diesem Job verlieren können. Ein kleiner Trost besteht darin, dass häufig die «dissenting opinion», die abweichende Urteilsbegründung der Minderheit, um die Welt geht und viel Zuspruch in der Öffentlichkeit erhält.

Was denken Sie, wo steht der EGMR in zwanzig Jahren? Wird die Gerichtsbarkeit dann weiter ausgebaut sein, oder gibt es das Gericht gar nicht mehr?

Dem Gerichtshof hat man schon manchmal den Untergang vorausgesagt: Er werde ein Opfer seines eigenen Erfolges und unter der explodierenden Beschwerdeflut zusammenkrachen. Bisher hat der Gerichtshof sich aber als sehr zähes Stehaufmännchen erwiesen. In den letzten zwei Jahren ist der Pendenzenberg um ein Drittel geschrumpft. Es wird den Gerichtshof deshalb auch in zwanzig Jahren geben, und er wird nötiger sein denn je.

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