«Desinformation trifft auf Desinteresse und Vertrauensverlust»

Während die grossen Kampagnenkassen leer sind, führen Einzelpersonen den Kampf gegen die SVP-Durchsetzungsinitiative. Einer davon ist der Nunninger Jurist Matthias Bertschinger. Im Interview sucht Bertschinger nach Erklärungen für den fehlenden Widerstand – und die Verführbarkeit des Stimmvolkes.

Seine wichtigste Botschaft: Grundrechte, sagt der Nunninger Jurist und Publizist Matthias Bertschinger, sind keine Begrenzung des eigenen Systems – sondern dessen Voraussetzung.

(Bild: Nils Fisch)

Während die grossen Kampagnenkassen leer sind, führen Einzelpersonen den Kampf gegen die SVP-Durchsetzungsinitiative. Einer davon ist der Nunninger Jurist Matthias Bertschinger. Im Interview sucht Bertschinger nach Erklärungen für den fehlenden Widerstand – und die Verführbarkeit des Stimmvolkes.

Matthias Bertschinger ist nicht erst seit der Durchsetzungsinitiative ein aktiver Kämpfer gegen politische Angriffe auf den Rechtsstaat. Seit der Minarettinitiative engagiert sich der Nunninger Jurist in Diskussionszirkeln. Aber erst jetzt stossen seine Aussagen auf ein Echo. Die «Zeit» stellte ein juristisches Gutachten vor, das Bertschinger in einer Fachzeitschrift veröffentlicht hat. Darin schildert er anschaulich, wie geringfügig Vergehen sein können, die eine Ausschaffung zur Folge haben. 

Das Papier hat die Diskussion um die Durchsetzungsinitiative verändert, es hat das Bild des «Ausschaffungs-Automaten», der in den Worten Bertschingers die Richter bei einer Annahme ersetzen wird, in die Debatte getragen.

Herr Bertschinger, Sie verfassen juristische und rechtsphilosophische Analysen gegen die Durchsetzungsinitiative. Aussergewöhnlich viel Engagement für eine Privatperson.

Eigentlich sind wir alle primär Bürger. Die ausschliessliche Unterscheidung in privat und beruflich ist fragwürdig. Als Bürger sind wir dazu verpflichtet, unserer freiheitlichen Ordnung zu dienen. Das ist die Voraussetzung für die Demokratie. Was ich gemacht habe, habe ich aus eigenem Antrieb gemacht. Ich glaube, das hat vieles angestossen und einigen die Augen geöffnet, was für Folgen eine Annahme hätte.

Weshalb zeigt sich der Widerstand gegen die Initiative so spät und so verhalten?

Wir stellen eine derart hohe Kadenz von Initiativen aus dieser Ecke fest, dass Kräften, die dagegen mobilisieren können, der Atem ausgegangen ist. Sämtliche Kampagnenkassen sind leer, es war ja eben erst Wahlkampf. Wer sich jetzt engagiert, tut das durchs Band ehrenamtlich. Die Wirtschaft hält sich zurück, da keine Kerninteressen betroffen seien. Eine kurzsichtige Betrachtung. Staatliche Stellen verstecken sich hinter der politischen Neutralität. Immerhin äussern sich jetzt einige Juristen und Richter mit deutlichen Voten.

Sie behaupten, eine Annahme der Initiative käme einem Verfassungsbruch gleich. Mit was würde gebrochen?

Mit dem Prinzip der Einzelfallgerechtigkeit. Alles staatliche Handeln ist gemäss unserer Verfassung dem Recht und der Gerechtigkeit verpflichtet – auch jenes des Souveräns. Dass man jeden Fall für sich betrachtet, ist eines der zentralen Prinzipien der Gerechtigkeit. Das zweite Prinzip, das verletzt wird, ist jenes der richterlichen Unabhängigkeit. Wenn der Katalog der Initiative über die Bestrafung entscheidet, braucht es keine Richter mehr. Für diesen Job reicht ein Ausschaffungs-Automat, der schaut, welches Delikt vorliegt und welche Rechtsfolge vorgeschrieben ist.

Recht ist letztlich gesellschaftlicher Konsens und ebenso Ausdruck des Zeitgeistes. Will die Gesellschaft eine Änderung, und sei es eine extreme Verschärfung, ist das doch prinzipiell legitim.

Würden Sie das auch behaupten, wenn das Fundament der Meinungsbildung eine grosse Lügengeschichte, ein grosses Verwirrspiel ist?

Was geschieht bei einer Annahme? Wird das Bundesgericht die Umsetzung stoppen?

Das kann keiner sagen, es kursieren die unterschiedlichsten Szenarien dazu. Die einen behaupten, die Verfassungsbestimmung sei direkt anwendbar, so etwa der Bundesrat in seiner Botschaft …

… also, dass die übliche parlamentarische Beratung wegfällt.

Ja. Andere behaupten das Gegenteil: Das Umsetzungsgesetz zur Ausschaffungsinitiative müsse in Kraft gesetzt werden oder zurück in die parlamentarische Beratung, weil es in der Schweiz keine Verfassungsgerichtsbarkeit auf Bundesebene gibt. Es herrscht grosse Verwirrung.

Die Frage ist auch, ob das Bundesgericht auf die Wahrung der Verhältnismässigkeit pocht, auch wenn das Volk diese aussetzt.

Gewisse Politiker und Juristen meinen, der Volkswille gehe in jedem Fall vor, so etwa FDP-Nationalrat Kurt Fluri. Etliche Juristen und Richter meinen, die Verhältnismässigkeit könne nicht ausser Kraft gesetzt werden. Bei einer Annahme sei «bloss» eine massive Verschärfung die Folge – aber auch nur solange der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nicht einschreitet.

Nochmals: Warum ist angesichts dessen, was auf dem Spiel steht, der Widerstand gegen diese Tendenzen nicht vehementer?

Da fragen Sie den Falschen, ich lege mich ziemlich ins Zeug. Vielleicht hat es mit der anfangs angesprochenen, ausschliesslichen Unterscheidung zwischen privat und beruflich zu tun. Der Bürger als dritte Kategorie, der Mensch in der öffentlichen Sphäre, ist verschwunden. Aber das Leben ist politisch, es muss politisch sein in einer freiheitlichen Demokratie. Was wir erleben, ist eine andauernde Entpolitisierung des Lebens. Erst diese schafft die Voraussetzungen dafür, dass gewisse Kräfte mit einfachen Botschaften und Verkürzungen leichtes Spiel haben.

Ist es so leicht?

Ein weiteres Problem ist, dass Grundrechte, Menschenrechte als Begrenzung des eigenen Systems wahrgenommen werden. Tatsächlich sind sie die Grundlage des Souveräns. Damit wir Souverän sein können, brauchen wir diese Grundrechte. Damit sind sie auch Zweck, Ziel staatlichen Handelns – auch des Handelns der Mehrheit.

Der Widerstand lahmt aber auf allen Ebenen. Woran liegt das?

Eine originelle Antwort hat der Schweizer Philosoph Jonas Lüscher gegeben: In einer übersättigten Gesellschaft stellt sich irgendwann die Sinnfrage. Und diese führt zu einer tiefen Verunsicherung, sie erschreckt einen. Parteien wie die SVP bieten eine Fluchtmöglichkeit. Sie ermöglichen den Leuten, ihren Schrecken auf irgendwelche Feindbilder zu projizieren und der Sinnfrage auszuweichen.

 

Matthias Bertschinger

Wohnhaft in Nunningen, führte Bertschinger 20 Jahre ein Gartenbaugeschäft und arbeitete danach im Rechtsdienst der Basler Sozialhilfe. Der 47-Jährige ist zweifacher Familienvater. Bertschinger engagiert sich seit Jahren politisch, auch als Sektionspräsident der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz (Nebs). Bertschinger spricht sich für einen EU-Beitritt aus, weil er davon überzeugt ist, dass die Demokratie einen transnationalen Rahmen braucht, um sie etwa gegen Übergriffe globaler Konzerne zu schützen.

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