«Die AHV ist ein stabiles System»

Der Soziologe François Höpflinger erklärt, weshalb es falsch ist, Prognosen zur Zukunft der Renten einzig auf die demografische Entwicklung zu stützen.

(Bild: BlackYard)

Der Soziologe François Höpflinger erklärt, weshalb es falsch ist, Prognosen zur Zukunft der Renten einzig auf die demografische Entwicklung zu stützen.

Seit Jahren heisst es, das Rentensystem in der Schweiz müsse dringend umgebaut werden, die zweite Säule und die AHV seien nicht mehr finanzierbar. Man führte dabei stets die tiefe Geburtenrate und die gestiegene Lebenserwartung ins Feld. Trotzdem sind alle bisherigen Vorschläge, mit denen man die Altersvorsorge reformieren wollte, vom Volk abgelehnt worden.

Derzeit arbeitet Bundesrat Alain Berset an einem neuen Reformvorschlag. Er und sein Departement stützen sich dabei auf verschiedene Studien, die der Bund in Auftrag gegeben hat. Eine davon befasst sich zum Beispiel mit den «Auswirkungen der Babyboom-Generation auf die AHV 2010 bis 2060». Aber: Könnte es nicht sein, dass ohnehin alles anders wird, wenn nun wieder mehr Kinder zur Welt kommen?

(Bild: zVG)

Herr Höpflinger, die Reform der AHV ist in vollem Gang, dabei stützt man sich auch auf eine Studie, die von einer «sehr grossen Belastung der AHV im Jahr 2060» durch die «Babyboomer-Generation» ausgehen. Ist diese Analyse richtig oder Schwarzmalerei?

Zunächst einmal ist diese Generation im Jahr 2060 gar nicht mehr da. Aber es ist grundsätzlich problematisch, Zukunftsanalysen auf demografische Trends abzustützen und den steten Wandel der Gesellschaft und ihrer Rahmenbedingungen – also diese Wechselwirkung – zu vernachlässigen. Das kann man bis weit in die Vergangenheit zurück beobachten: Es gab Zeiten, da warnte man vor einer Entvölkerung, später vor der Überfremdung; einst beklagte man zu viele Kinder, heute zu wenige.

In einer Studie beschreiben Sie tatsächlich, dass man schon Ende der 1930er-Jahre vor einer aussterbenden und überalterten Schweiz gewarnt habe. Man prognostizierte damals, dass sie bis im Jahr 2000 nur noch 2,8 Millionen Einwohner habe. Heute sind wir bei 8 Millionen, und nun klagt man über zu viele. Sind wir einfach immer am Jammern?

Das zeigt, wie falsch man mit solchen Prognosen liegen kann. Damals wurde zum Beispiel die Möglichkeit einer Zuwanderung völlig ausser Acht gelassen. Bekanntlich kamen dann aber während des Wirtschaftsaufschwungs in den Nachkriegsjahren enorm viele junge Arbeitskräfte in die Schweiz, weil es hier aufgrund des Geburtendefizits in den 1920er- und 1930er-Jahren zu wenig Arbeitskräfte gab. Diese Zuwanderung hat nicht nur zu einer starken Wohlstandsvermehrung, sondern bis heute auch zu einer demografischen Verjüngung der Schweiz geführt.

Die Politik kann die Schuld an Fehlentscheidungen von sich weisen.

Sie kritisieren, dass das Thema der demografischen Entwicklung immer pessimistisch aufgearbeitet werde. Weshalb ist das so?

Das hat sehr oft einen politischen Hintergrund. Auf die Zukunft pro­jizierte Katastrophenszenarien eignen sich gut als politische Instrumente. Damals, Ende der 1930er-Jahre, wurde das Schreckgespenst einer aussterbenden und überalterten Schweiz gezielt eingesetzt, um die Einführung einer AHV zu bekämpfen. 1948 wurde die heutige AHV dann eingeführt. Und Sie erinnern sich vielleicht: Zwischen 1980 und 1990 wurde sie von den Finanzkreisen bewusst schlechtgemacht, weil man einen Wechsel vom Umlage­system auf die zweite Säule wollte. Heute ist klar – das Pensionskassen-System ist nicht das Gelbe vom Ei. Die AHV hingegen ist ein soziales und stabiles System. Aber es wird manchmal so getan, wie wenn demografische Zahlen natürliche Gesetze seien, und die Politik kann so die Schuld an Fehlentscheidungen von sich weisen.

Rentner gelten in der Debatte um die Zukunft der Sozialwerke auch immer als Belastung. Ist diese Sichtweise gerechtfertigt?

Nein, weil es eine sehr einseitige ist. Schon ökonomisch gesehen sind die Rentner eine wichtige Konjunkturstütze. Man müsste sich einmal die wirtschaftlichen Folgen überlegen, wenn die Rentner als Konsumenten wegfielen. Wie der Tourismus leiden würde. Aber auch im Gesundheits- und Pflegebereich spricht man immer nur von den Kosten, dabei wurden dort Tausende von Arbeits­plätzen, ja, eine ganze Dienstleistungsindustrie geschaffen. Kommt hinzu, dass die Rentner sehr wichtige soziale Leistungen erbringen: Kinder betreuen, Nachbarschaftshilfe leisten, Verwandte pflegen und vieles mehr, das uns ein Vermögen kosten würde, wenn man diese Arbeit bezahlen müsste.

Seit dem Jahr 2005 steigt nun die Zahl der Geburten wieder an, sodass bereits von einem neuen Babyboom die Rede ist. Heisst das nicht ohnehin, dass die Warnungen vor dem nicht mehr finanzierbaren Rentensystem übertrieben sind?

Kurzfristig nimmt die Belastung auf die Rentensysteme zu – auch wenn es momentan mehr Kinder gibt. Sie sind ja vorerst noch Kinder und keine Erwerbstätigen. Rein demografisch gesehen kann man davon ausgehen, dass während der kommenden Jahre aufgrund der tiefen Geburtenrate in der jüngeren Vergangenheit sowie der höheren Lebenserwartung der Erwachsenen die Staatsbelastung grösser wird. Weil es weniger Erwerbstätige und mehr Rentenbezüger gibt. Aber wie gesagt, es gibt noch andere Faktoren, die das beeinflussen.

Wichtig sind ein gut funktionierender Arbeitsmarkt und ein sicheres Einkommen.

Welche im Besonderen?

Wichtiger als die demografische Entwicklung ist ein gut funktionierender Arbeitsmarkt und ein sicheres Einkommen. Sehen Sie: Dass sich die negativen Prognosen von früher nicht bewahrheitet haben, hat zu einem guten Teil auch mit dem starken Anstieg des Lohnniveaus und damit der Einlagen zu tun. Um die AHV für die jetzigen jungen Leute zu sichern, kommt man wohl um eine stufenweise Erhöhung des Rentenalters nicht herum. Das bedeutet aber auch, dass der Arbeitsmarkt für ältere Arbeitnehmer weiterhin attraktiv sein muss, dass ihre Erfahrungen geschätzt werden müssen, dass sie Weiterbildungsmöglichkeiten haben, dass der Gesundheitsschutz gewährleistet ist usw. Weitere Einnahmequellen, um der nachkommenden Generation nicht einen Schuldenberg zu hinterlassen, wären eine moderate Erhöhung der Mehrwertsteuer sowie die Wiedereinführung der Erbschaftssteuer. Wobei ich bezweifle, dass Letzteres bei einer Volksabstimmung eine Chance hat …

Und wie stark müsste die Geburtenrate steigen, damit die demografisch bedingte Gefährdung der Sozialwerke gebannt wäre?

Für die demografische Reproduktion der stationären, also der jetzigen Bevölkerung in der Schweiz bräuchte es eine Geburtenrate von 2,1. Ohne Kommastellen bedeutet das pro hundert Frauen 210 Geburten.

Man könnte nun Hoffnung darauf setzen, dass dank steigender Geburtenrate die Sozialwerke wieder in die Balance kommen. Doch ist die Aussicht, dass die Gesellschaft immer weiter wachsen soll, positiv?

Es kommt darauf an, wie man das bewältigt. Für die Schweiz könnte ich mir gut auch 10 Millionen Einwohner vorstellen. Die Schweiz ist immer noch ein sehr attraktives Land mit einer hohen Lebensqualität, deren Bevölkerung aber noch zu einem grossen Teil in ländlichen Strukturen denkt. Hier tun sich viele schwer mit der Vorstellung einer sogenannt verdichteten Schweiz mit urbanen Zentren. Aber unser ökologischer Fussabdruck ist sehr hoch, da müsste man ansetzen. Die Einwanderung beschränken, wie das etwa die Ecopop-Initiative will, scheint mir der falsche Weg zu sein. Begrenzte Zuwanderung würde einschliessen, dass – wegen Wegzug von Unternehmen – mehr qualifizierte Schweizer und Schweizerinnen auswandern würden, und eine schrumpfende Schweiz, die Fachwissen verliert, wäre das viel grössere Problem.

Der Zürcher Soziologieprofessor François Höpflinger gilt als einer der führenden Altersforscher in der Schweiz (www.hoepflinger.com).

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 29.03.13

Nächster Artikel