«Die direkte Demokratie gerät in ein gefährliches Fahrwasser»

Der Historiker Jakob Tanner sieht die Entwicklungen der Gegenwart mit Sorgen. Die SVP stelle Dinge infrage, die seit über 100 Jahren zu den Grundpfeilern der Schweiz gehörten.

Der Historiker Jakob Tanner war lange Jahre Professor an der Universität Zürich, seit Kurzem ist er emeritiert.

(Bild: Nils Fisch)

Der Historiker Jakob Tanner sieht die Entwicklungen der Gegenwart mit Sorgen. Die SVP stelle Dinge infrage, die seit über 100 Jahren zu den Grundpfeilern der Schweiz gehörten.

Jakob Tanner gehört zu jenen Menschen, die schnell vergessen, wo sie ihren Mantel aufgehängt haben, dafür aber Jahreszahlen und Namen aus dem Stand wiedergeben können– etwa diejenigen einzelner Bundesräte aus dem 19. Jahrhundert. Im Gespräch, das wir in den Redaktionsräumen der TagesWoche führen, spricht Tanner, als könne er sein soeben erschienenes 500-Seiten-Opus auswendig.

Jakob Tanner (65) war bis vor Kurzem Professor für Geschichte der Neuzeit und Schweizer Geschichte an der Universität Zürich. Daneben war er unter anderem Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin sowie an der School of History in Freiburg (Breisgau). Tanner war Mitglied der Bergier-Kommission, die die Geschäfte der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs untersuchte. Er gehört zu den renommiertesten Historikern des Landes. Seine Schwerpunkte sind die Wissenschafts- und Wirtschaftsgeschichte.

Die Erstauflage von Tanners «Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert» ist bereits vier Wochen nach Erscheinen ausverkauft (zweite Auflage wird nachgedruckt). Das Buch löste heftige Reaktionen aus. NZZ und «Weltwoche» haben es zerfetzt, der «Blick» rezensierte das Werk mit wohlwollendem Gestus.

Tanners Thesen sind in der Schweiz umstritten, hier entwickeln sie eine politische Brisanz. Das internationale Fachpublikum zollt dem Historiker hingegen unumwundenen Respekt. So ist Tanner, der vor Kurzem von der Universität Zürich emeritiert wurde, beispielsweise Herausgeber der renommierten «Zeitschrift für Historische Anthropologie» – ein Zugang, der in Geschichtswissenschaften seit einigen Jahren als Trend gilt. Von diesem Zugang, einer Geschichte «von unten», ist in Tanners neuestem Werk jedoch wenig zu sehen.

Der Autor betrachtet sein Territorium aus der Adlerperspektive und setzt nur vereinzelt zum Sinkflug an – um sogleich wieder aus bequemer Höhe die Geschehnisse zu beschreiben. Und genauso spricht Tanner im Interview: mit abwägender Distanz und wohlüberlegten Formulierungen.

Sie nennen die Schweiz in Ihrem Buch eine «Trittbrettfahrerin». Das heisst, dass die Schweiz quasi als Profiteurin auf dem Zug der «Grossen» mitfährt. Nicht gerade ein positives Bild der Schweiz, das Sie so zeichnen.

Trittbrettfahren ist tatsächlich ein Problem. Man kann es aber auch positiv als Ausdruck von Cleverness sehen. Wenn die anderen es zulassen, dass jemand einfach so mitfährt, warum sollte man es dann nicht tun? Vom humanitären Selbstbild her sah sich die Schweiz vorwiegend als eine Moralveranstaltung. Wenn es um wirtschaftliche Interessen ging, tönte diese moralische Stimme nur noch schwach. Das taten andere Länder auch, aber die Schweiz war erfolgreicher darin.

Woran machen Sie das Trittbrettfahren fest?

Das zeigte sich schon während der Kolonialzeit. Vor dem Ersten Weltkrieg wurde das europäische Kolonialsystem aufgrund der Rüstungskonkurrenz zunehmend kostspielig. Da konnte und wollte die Schweiz nicht mitmachen. Sie besann sich auf die Neutralität und unterlief die Rivalitäten der imperialistischen Mächte. Man sagte sich: Wir können ohnehin mit allen Staaten Handel treiben, da braucht es auch keine Kolonien. Schweizerische Unternehmen und Auswanderer richteten sich in den Nischen eines Systems ein, das die Grossmächte aufrechterhielten. Im Nachhinein wollte man sich dann auch nicht verantwortlich fühlen für die verheerenden Auswirkungen des Kolonialismus.

Und heute zeigt sich dasselbe im Verhältnis mit der EU?

Ohne das Kolonialsystem mit der EU vergleichen zu wollen, lässt sich diese Haltung der Schweiz von damals mit der Situation heute im Umgang mit der EU beobachten. Der europäische Integrationsprozess beruhte auf rechtlich-normativen Grundlagen, die auch von der Schweiz geteilt werden. Die Schweiz blieb jedoch von Anfang an auf Distanz und versucht heute, die Vorteile der EU zu optimieren und Nachteile und Beteiligungskosten zu minimieren.

Sie beschreiben die Schweiz auch als Experimentierfeld und «politisches Labor». Warum?

In den Quellen, die ich ausgewertet habe, finden sich solche Begriffe häufig. Die Schweiz stellt sich selbst als politisches Versuchsfeld dar, als Land, das es eigentlich gar nicht geben dürfte, gemessen an der Vorstellung von sprachlich oder kulturell einheitlichen Nationalstaaten, die im 19. Jahrhundert aufkam. So musste sie neue Lösungen für den nationalen Zusammenhalt entwickeln, die sich stark am Motiv der Vielfalt und des Föderalismus festmachten.




«Die direkte Demokratie wird zur permanenten Empörungsbewirtschaftung, zur gut geölten Kampagnenmaschinerie, die einen ausgeprägt europa- und fremdenfeindlichen Drall aufweist.» (Bild: Nils Fisch)

Wo zeigt sich das Versuchslabor?

Politisch vor allem im Funktionieren der Demokratie, die in der modernen Schweiz eine spannende Geschichte aufweist. 1874 wurde das Referendum, 1891 die Volksinitiative eingeführt. Es gab zwar immer wieder Stimmen, welche die direktdemokratischen Instrumente gegen die parlamentarische Demokratie positionierten. In vielen europäischen Ländern wurde ja damals eine nationalistische, völkische Ideologie populär, die ein hyperdemokratisches Kurzschliessen von Volk und Führer propagierte. Im faschistischen Italien und im nationalsozialistischen Deutschland setzten sich diese Kräfte durch. In der Schweiz praktizierte man hingegen – von Ausnahmen abgesehen – ein austariertes System, in dem Volksrechte, Parlamentarismus und Administration einigermassen konstruktiv zusammenwirkten. Die meisten Initiativen wurden abgelehnt, hinterliessen aber in vielen Fällen nachhaltige Spuren in der politischen Meinungsbildung.

Heute ist das anders?

Heute wird oft von einer Entgegensetzung von «Volk» und «Classe politique» ausgegangen. Direkte Demokratie geht mit einer Verabsolutierung des Volkes einher. 2012 wurde eine rechtsradikale direktdemokratische Partei gegründet. Im Europa-Parlament schwenken extreme Nationalisten die Schweizerfahne. Da verliert die direkte Demokratie an Vertrauen und gerät in ein gefährliches Fahrwasser. Sie transportiert nicht mehr Sachpolitik, sondern wird zur permanenten Empörungsbewirtschaftung, zur gut geölten Kampagnenmaschinerie, die einen ausgeprägt europa- und fremdenfeindlichen Drall aufweist. In der heutigen experimentellen Versuchsanordnung sind grössere Unfälle nicht auszuschliessen.

Mit «Unfällen» meinen Sie zum Beispiel die SVP-Initiative «gegen fremde Richter», die das Völkerrecht zumindest teilweise infrage stellt?

Richtig. Hier findet eine Kategorienverwechslung statt. Landesrecht und Völkerrecht lassen sich nicht einfach gegenüberstellen. Die Schweiz wurde um 1900 von Paul Seippel, einem ETH-Professor, als «Artikel des Völkerrechts» bezeichnet. Der Autor hatte im Bewusstsein, dass die Schweiz stark auf den völkerrechtlichen Respekt von anderen angewiesen war. Dass diese Rechtssicherheit abrupt einbrechen konnte, sah man 1914 am Beispiel von Belgien, das von den Deutschen besetzt und zum Kriegsgebiet gemacht wurde. Oder noch viel deutlicher während des Zweiten Weltkriegs, als die Wehrmacht grosse Teile Europas besetzte. Das Völkerrecht war also keine Rückversicherung, mit der sich alle Krisen überstehen liessen. Aber die Schweiz war immer ein Land, welches sich an der Entwicklung von völkerrechtlichen Normen beteiligte und welches in seiner eigenen Rechtsentwicklung durch diese stark beeinflusst wurde. Heute haben wir eine sture Entgegensetzung von Landes- und Völkerrecht, mit einem klaren Akzent gegen die Menschenrechte.

«Heute herrscht eine Professionalisierung der Politik vor. Kampagnenplanung, Expertenberatung und Ressourceneinsatz erreichen eine neue Grössenordnung.» 

Sind wir dabei, bestimmte Rechte durch direktdemokratische Mittel abzuschaffen?

Auch in der Schweiz warnten Ende des 19. Jahrhunderts Freisinnige vor den Unberechenbarkeiten einer direktdemokratischen Politik. Einem Schwergewicht wie dem «Eisenbahnkönig» Alfred Escher vermochte sie nie einzuleuchten. Sie wurde dann von einer unheiligen Allianz zwischen Konservativen und Sozialdemokraten durchgesetzt.

Und heute sind wir in einer ähnlichen Phase, in der die Grenzen der Demokratie neu ausgelotet werden?

Heute könnten sich die Befürchtungen eines Escher doch noch als wahr erweisen. Wir vernehmen ein besorgniserregendes Echo eines Volksnationalismus, der Parlamente als «Schwatzbuden» schlecht machte.

Eine Haltung, die nun der SVP-Doyen Christoph Blocher verbreitet, wenn er sagt, er wolle seine Zeit nicht im Parlament «verplempern».

Heute vernehmen wir wieder solche Töne, dieses Mal vonseiten einer rechtskonservativen Partei, die eigentlich eine starke Präsenz im Parlament anstrebt. Es gibt aber keine Fortschreibung populistischer Tendenzen aus dem 19. Jahrhundert, sondern heute herrscht eine Professionalisierung der Politik vor. Kampagnenplanung, Expertenberatung und Ressourceneinsatz erreichen eine neue Grössenordnung, womit auch neue Ungleichheiten in Wahl- und Abstimmungskämpfen entstehen. Dieses Polit-Management wirkt vor allem auf die Problemwahrnehmung ein. Statt dass sich die Schweiz auf die Vorteile einer Einwanderungsgesellschaft fokussiert, wird grösstenteils das Bedrohungsbild einer «Masseneinwanderung» gezeichnet. Dies wird auch nach den Wahlen gleich weitergehen.

Würden Sie so weit gehen und eine Analogie zu 1933 ziehen, wo Deutschland aus einem demokratischen System zum Faschismus überging?

Ich würde sagen, dass wir wieder verstärkt völkische Töne hören und dass ein Verständnis von Demokratie vorherrscht, das auf Ausschluss und der Schaffung von Sündenböcken abzielt. Diese Volksideologie produzierte im 19. und 20. Jahrhundert einen massiven Ausgrenzungseffekt. Durch den Ersten Weltkrieg entwickelte sie einen Drive, auf dem auch die Nazi-Ideologie aufbaute. Ein historischer Direktvergleich lässt sich jedoch nicht ziehen, die Bedingungen sind heute anders. Wissenschaftliche Politikberatung, Social Media und Big Data haben den Funktionsmodus moderner Demokratien stark verändert. Wir müssen diese neuen Faktoren analysieren, das ist wichtiger als Direktvergleiche mit der Vergangenheit.

«Die Sonderfall-Ideologie diente dazu, eine Abgrenzungs-Souveränität zu stärken, also dazu, zu sagen: Lasst uns gefälligst mit unseren speziellen Regulierungen und unserem Bankgeheimnis alleine.»

Politiker betonen nun, wir stünden am 18. Oktober vor «Richtungswahlen», zwischen Offenheit und Abschottung. Sehen Sie das auch so dramatisch?

Die Rhetorik der «Richtungswahl» ist alt, sie dient in erster Linie der Mobilisierung von Wählerinnen und Wählern. Ich selbst gehe nicht davon aus, dass Abschottung oder Öffnung die grossen Alternativen der Schweiz sind. Die Schweiz war immer ein Land, das sich die Abschottung überhaupt erst leisten konnte, weil die Öffnung bereits da war.

Das klingt paradox.

Wenn die Abschottung in der Nachkriegszeit dazu geführt hätte, dass die Schweiz eine verarmte Alpenrepublik geworden wäre, dann hätten Reduit-Idee und das Sich-Einigeln weit weniger Ausstrahlung gehabt. Gemessen am Pro-Kopf-Einkommen lag die Schweiz im 20. Jahrhundert lange an der Weltspitze. Die Sonderfall-Ideologie diente in der Nachkriegszeit dazu, eine Abgrenzungs-Souveränität zu stärken, also dazu, zu sagen: Lasst uns gefälligst mit unseren speziellen Regulierungen, unserem Holding-Privileg und unserem Bankgeheimnis alleine. Und damit machte man dann international Geschäfte. Das funktionierte während längerer Zeit erstaunlich gut. Heute ist dieses Argumentationsmuster aber unwirksam geworden. Deshalb stellt sich die Frage, wie die Verbindung zwischen Selbstbezug und Öffnung neu organisiert wird.

Und wie lässt sie sich organisieren?

Es gibt das eine Modell, bei dem die Schweiz durchaus selbstbewusst das Völkerrecht und die Menschenrechte ins Zentrum stellt, sich in Europa eingliedert und ein verbindliches Verhältnis zur EU anstrebt. Das würde die faktische Souveränität stärken, aber die Trittbrettfahrerrolle schwächen. Auf der anderen Seite gibt es die Vorstellung, dass Wirtschaftseliten und Unternehmen die Entwicklung der Aussenkontakte mit etwas Beihilfe der Bundesbehörden selber regulieren, was mit einem verstärkten Gewicht jener völkerrechtlichen Verträge einhergeht, in denen private Machtgruppen das Sagen haben.

Öffnung und Abschottung begreifen Sie als zwei Pole, die sich gegenseitig beeinflussen – das eine bedingt das andere.

Ja. Linke und Rechte haben andere Vorstellungen davon, wie die Selbstbilder der Schweiz und die Öffnung des Landes zusammenwirken sollen und welche Rechtssicherheiten eingebaut werden müssen. Beide Richtungen setzen auf die Schweiz und beide wollen sie nach aussen vernetzen. Die Alternative heisst: sind die Aussenbeziehungen demokratisch legitimiert oder zunehmend privatwirtschaftlich kontrolliert? Ist der Selbstbezug der Schweiz kooperativ oder nationalegoistisch?

«Nehmen Sie den Fall Kopp: Musterland und Schurkenstaat teilten hier im Imaginären Tisch und Bett.»

In Ihrem Buch sprechen Sie viel von den Bildern, wie die Schweiz wahrgenommen wird. Warum ist das wichtig?

Das politisch Imaginäre ist zentral für die Geschichte der Nationalstaaten. Nationen sieht man nicht, es sind imaginierte Gemeinschaften, die von den Bürgerinnen und Bürgern als souverän und begrenzt vorgestellt und die mit Mythen verwoben werden.

Nationalstaaten sind auch eine Realität, die sich zum Beispiel an Grenzen oder Parlamenten zeigt.

Klar, es gibt nationalstaatliche Regulierungen, es gibt administrative und polizeiliche Kräfte sowie ein Mediensystem, die diesen nationalen Raum als Ordnungs- und Orientierungsrahmen organisieren. Schon die Alte Eidgenossenschaft wurde immer wieder als «irdisches Paradies» beschrieben, so etwa nach Mitte des 17. Jahrhunderts im Simplicissimus von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen. Gleichzeitig hatte die Schweiz ein sehr altes Reputationsproblem, wurde sie doch fortgesetzt als verruchtes Land wahrgenommen, in dem nur Geld zählt.

Welches Bild der Schweiz überwiegt?

Das Interessante ist das Nebeneinander dieser polaren Beschreibungsregister. Verschiedene Ereignisse erhielten ihre politische Sprengkraft durch genau diesen Doppelcharakter. Nehmen Sie den Fall Kopp der Jahre 1988 und 1989. Der Skandal war auch deshalb so dramatisch, weil hier im Imaginären gleichsam Musterland und Schurkenstaat Tisch und Bett teilten: Auf der einen Seite Elisabeth Kopp, die als Bundesrätin ein Gesetz gegen Geldwäscherei vorantreibt, auf der anderen Seite ihr Mann, der in dubiose Geschäfte verwickelt und möglicherweise selbst an Geldwäscherei-Geschäften beteiligt ist. In dieser medialen Inszenierung zeigte sich symptomatisch das gespaltene Bild der Schweiz. Das ist auch heute wieder so: Einerseits wird die Schweiz bewundert nach dem Motto «Die Probleme möchten wir haben». Andererseits steht das Land mit seinen Banken und seiner Steuerpolitik fortgesetzt in der Kritik. Mir geht es darum, diese Probleme zusammen zu denken und zu zeigen, wie in der Schweiz Demokratie, Kapitalismus und Nationalstereotypen zusammengewirkt und sich in Wechselbeziehung mit Europa und der Welt verändert haben.




Das Buch von Jakob Tanner «Die Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert» rangiert auf den oberen Rängen der Bestsellerlisten. Nach vier Wochen ist die erste Auflage bereits ausverkauft, eine zweite Auflage wird gedruckt. (Bild: Nils Fisch)

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