«Die Leichen gehören zu meinem Handwerk»

Markus Melzl (59) informiert die Öffentlichkeit regelmässig über Verbrechen. Nach 39 Jahren «Sex and Crime» bei der Staatsanwaltschaft wird er Ende Januar pensioniert – und mit ihm sein Dauerbegleiter, der Pager.

Eigentlich ist es umgekehrt: Markus Melzl von der Staatsanwaltschaft informiert auch über Menschen, die schiessen. (Bild: Michael Würtenberg)

Markus Melzl (59) informiert die Öffentlichkeit regelmässig über Verbrechen. Nach 39 Jahren «Sex and Crime» bei der Staatsanwaltschaft wird er Ende Januar pensioniert – und mit ihm sein Dauerbegleiter, der Pager.

Herr Melzl, wie viele Verbrechen haben Sie heute kommuniziert?

Keines. Es ist nichts passiert, das ich kommunizieren müsste. Es gab eine kleine Schlägerei unter Betrunkenen.

Dann können wir ja ausnahmsweise über Sie reden. Sie gingen kurz nach den 68er-Jahren zur Polizei. Sie waren wohl recht brav?

Ja. Ich komme aus einer Kaufmannsfamilie. Selber habe ich auch eine kaufmännische Lehre gemacht. Das war eher langweilig. Erst im Militär gefiel es mir, weniger das Militär, sondern das Draussensein. So kam ich auf die Idee, Polizist zu werden.

Mit der rebellischen Jugend von damals hatten Sie nichts zu tun?

Nein. Ich habe nie Steine geworfen.

Sie sagten einmal, Sie glaubten an den Sieg des Guten über das Böse. Ist das bei den rund 30 000 Strafverfahren, die Sie pro Jahr miterleben, wirklich möglich?

Ich habe mit vielen Leuten ausserhalb der Polizei Kontakt. Diese Freunde fragen mich nur bei grossen Verbrechen, was passiert ist. Diese Distanz ist wichtig. Wir gehen gemeinsam in den Hundesport. Das ist eine Art heile Welt. Mit meinen Hunden gehe ich zudem oft nachts in den Wald.

Das klingt unheimlich.

Die Gefahr, dass mir in der Stadt etwas zustösst, ist viel grösser. Ausserdem habe ich etwas Wichtiges gelernt in der Polizeischule: Wir sind nie die Gejagten, sondern immer die Jäger.

Sie dürfen nie alles über einen Fall sagen. Was sagen Sie nicht?

Wenn wir kurz vor der Festnahme eines Täters stehen und dieser merken könnte, dass er gemeint ist, sage ich nichts. Als vor einigen Jahren eine Prostituierte umgebracht wurde, hatten wir Anzeichen, dass der Täter mit dem Flugzeug flüchten will. Am Flughafen konnten wir ihn festnehmen.

Das klingt wie eine Geschichte aus einem Krimi. Der Alltag ist wahrscheinlich weniger spannend.

Doch, es ist wirklich fast wie im Fernsehen. Bloss der Papierkram wird im Film ausgeklammert. Und mit den Beweisverfahren nehmen sie es auch nicht so genau.

Welche Fälle kommunizieren Sie ohne Wenn und Aber?

Als vor einigen Wochen einer jungen Frau ins Gesicht geschossen wurde, war klar, dass wir das mitteilen. Das war ein Fall mit Blaulicht und Stras­senabsperrung. Da bestand ein öffentliches Interesse. Auch Tötungsdelikte und schwere Körperverletzungen teilen wir mit. Hauptargument ist das öffentliche Interesse und die Prävention.

Im Gegensatz zu den meisten Ihrer Mediensprecher-Kollegen können Sie davon ausgehen, dass Ihre Mitteilungen weiterverbreitet werden – andere Medienmitteilungen landen oft unbeachtet im Papierkorb. Warum ist das Interesse an Kriminellem so gross?

Werfen Sie einen Blick ins Fernsehprogramm: Da finden Sie Dutzende Sendungen über Kriminalität. Es geht um «Sex and Crime», so einfach ist das.

Nicht nur die Anzahl Verbrechen ist in den vergangenen Jahren gestiegen, auch die Qualität hat sich verändert. In welcher Hinsicht?

Ausser der Internet-Kriminalität gab es früher alles, was es heute gibt, auch. Bei Gewaltdelikten stellen wir aber eine zunehmende Verrohung fest. Früher gab es auch Schlägereien, aber wenn einer am Boden lag, wurde er in Ruhe gelassen. Oft tranken zwei Männer nach einer Schlägerei ein Bier zusammen. Schläger wurden häufig zum Ausnüchtern auf den Posten genommen. Am Morgen mussten sie die Aschenbecher leeren und Zeitungen bündeln – dafür gab es keine Busse.

Das klingt fast schon kollegial.

Das war zum Teil tatsächlich so. Ich habe vor Jahrzehnten einmal einen gewalttätigen Türsteher festgenommen. Heute ist er ein alter Mann und wir haben immer noch Kontakt. Ich helfe ihm bei der Steuererklärung und bei AHV-Problemen. Als ihm das Raucherbein amputiert werden musste, habe ich ihn ins Spital gebracht.

Wäre so etwas noch möglich?

Es ist alles anonymer geworden. Ein rumänischer Taschendieb bleibt nicht lange in Basel, da wäre es gar nicht möglich, eine Beziehung aufzubauen.

Ist Basel aus Ihrer Sicht viel gefährlicher geworden?

Nein, gefährlich ist es hier nicht. Aber bestimmt ist Basel heute unsicherer als in den 70er-Jahren, als ich noch Polizist war. Heute kann man nicht einfach zu jedem Zeitpunkt überall in Basel herumspazieren. Früher war dies noch der Fall. Aber die Sicherheitsslage ist hier nicht dramatisch.
Im Sommer 2004 mussten Sie innerhalb von 36 Stunden drei Tötungsdelikte kommunizieren, darunter auch den Mord eines Mannes an seiner Ehefrau auf dem Marktplatz. Das war wohl das traurige Highlight Ihrer Karriere.Das Traurigste war für mich, einen Polizeikollegen tot am Boden zu sehen. Da habe ich gedacht: Eine solche Uniform trug ich auch einmal. Das hätte auch mir passieren können. Die Stimmung auf dem Claraposten war grausam. Nur Stille. Der Mord an dem Kollegen war für mich schlimmer als die Tatsache, dass in kurzer Zeit drei Menschen getötet wurden – das war aber nicht mein schlimmstes Erlebnis.

Sondern?

Das allerschlimmste Verbrechen für mich passierte in den 90er-Jahren. Damals wurde einer Frau das Kind getötet – von ihrem Ex-Freund. Die Frau gab ihm den Laufpass, worauf er sich entschied, sie zu töten. An ihrem Geburtstagsfest klingelte es an der Türe. Sie öffnete im Bademantel die Tür – und hielt das gemeinsame Kind in den Händen. Der Mann wollte mit einem riesigen Messer auf die Frau einstechen, sie drehte sich reflexartig ab – und er schnitt seinem Kind praktisch den Kopf ab. Als ich am Tatort eintraf, sass die Frau in einem blutverschmierten Bademantel auf dem Sofa, sie hielt das tote Kind mit dem beinahe abgetrennten Kopf in den Händen und wimmerte. Ich werde diese Bilder wohl nie vergessen.

Und wie bekommen Sie die anderen Leichen aus dem Kopf?

Darüber mache ich mir nicht sehr gros­se Sorgen. Die vielen Leichen gehören nun einmal zu meinem Hand-
werk.

Wenn man Ihr Buch «Vom Bullen zum Entertainer» liest, bekommt man den Eindruck, die Polizei hätte alles im Griff.

Das ist nicht so. Uniform-Polizisten laufen zum Teil auf dem Zahnfleisch.

Verbrecher halten sich nicht an die gewöhnlichen Arbeitszeiten. Wie sieht es bei Ihnen aus: Haben Sie normale Arbeitszeiten oder sind Sie an sieben Tagen 24 Stunden im Einsatz?

Ich bin ein halbes Jahr auf Pikett. Mein Kollege macht die andere Hälfte.

Sie flippen nie aus, sind nie unfreundlich und scheinen immer Geduld zu haben – auch wenn Sie bereits dem zwanzigsten Journalisten erklären müssen, was geschehen ist. Wie schaffen Sie das?

Ich bin tatsächlich nie genervt über die vielen Medienanfragen. Weshalb auch? Sie gehören nun einmal zu meinem Beruf. Ein Ermittler muss die Rechte des Beschuldigten ja auch ein paar Mal am Tag jemandem vorlegen. Ich sehe die vielen Anfragen eher als Training für mich selber.

Aber das kann doch auch mühsam sein: Wenn Sie zu Hause vor dem Fernseher sitzen, müssen Sie damit rechnen, dass etwas passiert und Sie aus dem Haus müssen.

Ja. Das ist schon belastend – die ständige Erreichbarkeit ist das Anstrengendste an meinem Beruf. Aber zum Glück haben meine Frau und meine Freunde viel Verständnis dafür. Das Leben mit dem Pager ist riskant. Dennoch kann ich noch viele Sachen unternehmen – aber eben, immer mit dem Wissen, dass ich beim Piepsen des Pagers sofort alles liegen lassen und an einen Tatort gehen muss.

Was werden Sie als Rentner tun?

Ich werde einfach die Zeit geniessen. Mir ist wichtig, dass ich einen Schritt weg von der Polizeiarbeit mache. Ich könnte mir jedoch vorstellen, weiterhin Vorträge über Krisenkommunikation und dergleichen zu halten.

Zum Schluss nochmals zurück zu Ihrem Dauerbegleiter, dem Pager: Schon bald werden Sie diesen nach all den Jahren nicht mehr ständig bei sich haben. Entzugserscheinungen sind programmiert.

Ich werde bestimmt eine Weile brauchen, bis ich den Pager aus dem Kopf bekomme (lacht).

 

Zur Person: Anfang der 70er-Jahre absolvierte Markus Melzl die Polizeischule in Basel-Stadt. Nach einigen Jahren als Polizist wechselte er in den Kriminaldienst, wo er zuerst als Rauschgiftermittler arbeitete und später bei der Staatsanwaltschaft für Wirtschaftsdelikte zuständig war. Seit 1995 ist er bei der Staatsanwaltschaft für die Kommunika­tion zuständig. Ende der 90er-Jahre veröffentlichte er das Buch «Vom Bullen zum Entertainer». Darin verarbeitete er seine Eindrücke von diversen Fällen in Basel. Im Januar 2012 geht Markus Melzl in Pension.

 

 

Quellen

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 16/12/11

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