«Die Schweiz muss ihre neue Rolle in der Welt noch finden»

Nach fünf Jahren verlässt EU-Botschafter Michael Reiterer die Schweiz. Ein Gespräch über falsche Wahrnehmungen und echte  Demokratie.

«Die EU hat noch nie einen Staat zur Mitgliedschaft gedrängt. Alle sind freiwillig beigetreten»: Michael Reiterer, abtretender EU-Botschafter in der Schweiz. (Bild: Basile Bornand)

Nach fünf Jahren verlässt EU-Botschafter Michael Reiterer die Schweiz. Ein Gespräch über falsche Wahrnehmungen und echte Demokratie.

Michael Reiterer befindet sich ­in diesen Tagen auf einer veritablen Abschiedstour. Alle wollen noch einmal mit dem abtretenden EU-Botschafter reden, gerade heute, da die EU-Skepsis in der Schweiz einen Höchststand erreicht hat. Reiterer lässt sich von der Kritik nicht beirren. Entspannt sitzt er in einem der bequemen Sessel des Europainstituts in Basel, in dem er an diesem Freitag im Dezember einen Vortrag hält, und kontert die Angriffe gegen die EU lässig. Man merkt: Der macht das hier nicht zum ersten Mal.

 

Die Schweiz wird drei Monate lang von einer Wahl lahmgelegt, bei der nichts passiert. Was denkt sich der EU-Botschafter dabei?

Die Schweiz befindet sich in einem Wahlmarathon. Zuerst das Parlament, dann der Bundesrat. Da gelten in jedem Staat der Welt eigene Gesetzlichkeiten. Das ist relativ normal.

So viel Theater ringt Ihnen nicht ein kleines Schmunzeln ab?

Nein. Ich respektiere die politischen Vorgänge in meinem Gastland und sage dazu nichts weiter. In innere ­Angelegenheiten habe ich mich nie eingemischt.

Der Historiker Thomas Maissen sagte kürzlich in einem Interview mit der TagesWoche, die Bildung des Schweizer Bundesstaates und ihre direkte Demokratie könnten ein Vorbild für die politische ­Integration in Europa sein. Das ist auch ein weitverbreitetes Argument von Schweizer EU-Befür­wortern. Nimmt man diesen Diskurs über die direkte Demokratie in Brüssel überhaupt ernst?

Er wird sicher ernst genommen. Wenn Sie sich anschauen, wie die europäische Union aufgebaut ist, dann finden Sie schon heute mehr Gemeinsam­keiten mit der Schweiz, als die Leute wahrnehmen wollen. In der EU haben wir als Exekutive die europäische Kommission, die wie die Schweizer Regierung sich nicht auf eine fixe ­Koalition im Parlament stützt und sich je nach Geschäft unterschiedliche Mehrheiten suchen muss. Es gibt auch bei der Legislativen eine Zweiteilung wie in der Schweiz. Wir haben einerseits den Ministerrat, der als Ländervertretung mit dem Ständerat verglichen werden kann, und andererseits das seit 1979 direkt gewählte Parlament, vergleichbar dem Nationalrat. Seit dem Vertrag von Lissabon haben wir ausserdem mit der Bürgerinitia­tive ein direktdemokratisches Element: mit einer Million Unterschriften ­können Unionsbürger die Kommission veranlassen, ein neues Gesetz zu er­arbeiten. Das sind im Verhältnis etwa gleich viele Unterschriften, wie in der Schweiz für ein Referendum benötigt werden. Sie dürfen die Grössenordnung nie vergessen – in der Schweiz leben 8 Millionen Menschen, in der Europäischen Union 500 Millionen.

Das mag alles stimmen. Dennoch hat man in den vergangenen Monaten das Gefühl gehabt, in ­Europa sei die Demokratie ­we­niger wert als auch schon – den Griechen wurde eine Volks­abstimmung über ihr Spar­programm verwehrt.

Mit Griechenland wurden schon seit zwei Jahren Gespräche geführt, wie aus der Krise herauszukommen sei. Nach schwierigen Verhandlungen hatte man sich im Europäischen Rat auf eine Lösung geeinigt, mit der auch Griechenland einverstanden war. Erst danach kam völlig überraschend der Vorschlag des Referendums, der alles wieder infrage gestellt hätte. Wir ­haben nichts gegen Volksbefragungen und die direkte Demokratie, aber nicht als Überraschungscoup inmitten einer ernsten Krise. Das hätte desta­bilisierende Folgen gehabt. Das griechische Parlament hat das selbst erkannt und eine neue Regierung gewählt. In der EU gilt der Grundsatz, dass jedes Mitglied ein demokratischer Staat sein muss. Wie die Demokratie organisiert ist, ist jedem Staat selber überlassen. Aber es sollte transparent und berechenbar sein.

Wird die direkte Demokratie in der Schweiz überschätzt?

Sie ist ein wichtiges Element des Schweizer Föderalismus und der Bürgerbeteiligung. Aber sie lag nicht in der Wiege der Schweiz, sie ist schrittweise gewachsen. In einem kleinen Land ist es einfacher, direkte Demokratie zu leben als in einem Staaten­gebilde von 500 Millionen Menschen.

Ganz abgesehen von der Kleinheit des Landes finden es viele Schweizer stossend, dass man immer mehr Gesetze von der EU übernehmen muss.

Schauen Sie, die Sache hat eine längere Geschichte: 1992 lehnte die Schweiz den EWR ab, sie beharrte aber darauf, trotzdem Zugang zum Binnenmarkt der EU zu bekommen. Die EU kam ihr entgegen und willigte ein, Abkommen mit der Schweiz zu schliessen, damit sie an ausgewählten Sektoren des ­Binnenmarktes teilnehmen kann. Das bedingt, dass die Schweiz in diesen Sektoren das EU-Binnenmarktrecht übernimmt, sonst wäre es kein Binnenmarkt mehr. Das liegt auch im ­Interesse der Schweizer Wirtschaft. Weil diese so eng mit der EU verflochten ist, wäre es für Schweizer Unternehmer schwierig, nach völlig anderen Regeln zu geschäften.

Sie sagten kürzlich in einem Interview, mindestens 50 Prozent aller Gesetze in der Schweiz würden von der EU bestimmt.

Das war das Ergebnis einer Studie der Universität Bern. Damit liegt die Schweiz ein bisschen unter dem Schnitt der europäischen Mitgliedsstaaten, dort liegt der Anteil zwischen 60 und 70 Prozent. Aber das ist auch nachvollziehbar. Der Binnenmarkt funktioniert nach Europarecht, das hier im Europainstitut der Uni Basel gelehrt wird.

Dennoch ist dieser autonome Nachvollzug einer der Hauptgründe für die schlechte Stimmung der Schweizer gegenüber der EU.

Naja. Die Teilnahme an der Entscheidungsfindung ist wie in jedem Club den Mitgliedern vorbehalten. Da unterscheidet sich die EU nicht von einem Golfclub. Die Regeln werden von den Mitgliedern des Golfclubs gemacht und nicht von den Nichtmitgliedern. Das ist nicht sehr überraschend.

Also sollten wir Ihrer Meinung nach dem Club beitreten?

Das ist eine Entscheidung, die die Schweizer treffen müssen. Wenn man sich über mangelnde Mitbestimmungsmöglichkeiten beschwert, dann muss man sich halt überlegen, was die Alternativen sind. Der EWR wäre eine Möglichkeit gewesen, dort ist die Teilnahme an der Entscheidungsfindung vorgesehen, die hat man abgelehnt. Den EU-Beitritt will man nicht. Alors …

Können Sie es uns verdenken? Die EU bestimmt selbst kleinste Dinge im Alltag ihrer Bürger. Das reicht von mobilen Latrinen für Landarbeiter bis zur korrekten Verwendung von Rüstabfällen.

Das sind Kleinigkeiten. Ich gebe Ihnen das Gegenbeispiel: Es gab kaum eine Richtlinie der EU, die so viel Prügel bezogen hat, wie jene zur korrekten Gurken-Krümmung. Es gibt seither eine Stelle unter Vorsitz des ehemaligen bayrischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber, die überflüssige ­Gesetze abschafft. Als dann die Gurken-Krümmungs-Richtlinie abgeschafft wurde – was kaum zur Kenntnis genommen wurde –, da meldeten sich die interessierten Wirtschaftskreise und beklagten sich. Die meinten, die Richtlinie sei praktisch gewesen. Genau neun Gurken hätten damit in eine Kiste gepasst, die Gurken seien leichter zu transportieren gewesen, es habe weniger Lastwagen gebraucht, sei umweltfreundlicher gewesen. Ergebnis: Die Richtlinie ist abgeschafft, aber die Leute halten sich weiterhin daran.

Keine Kleinigkeit ist die Per­sonenfreizügigkeit. Für wie gefährlich halten Sie die Idee der SVP, die Personenfrei­zügigkeit zu künden?

Ich äussere mich nicht zu Schweizer Parteien. Tatsache ist, dass die Personenfreizügigkeit eine der vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes ist und essenziell für dessen Funktionieren. Die Schweizer haben bereits dreimal über die Personenfreizügigkeit ab­gestimmt. Ich weiss nicht, warum man etwas immer wieder hinterfragen muss, wenn es bereits direktdemo­kratisch legitimiert ist.

Sie sagen das, weil die EU grosses Interesse an der Personenfrei­zügigkeit hat. Würde man sie aus den Bilateralen herauslösen, ­würde der ganze Vertrag nichtig.

Auch das wurde vom Schweizer Volk bestätigt. Die Bilateralen 1 bestehen aus sechs Abkommen, die miteinander verbunden sind. Man muss die Per­sonenfreizügigkeit auch unter dem ­Gesichtspunkt der Politik betrachten. Sie ist zuallererst ein Gewinn an ­persönlicher Freiheit, sie ermöglicht die Selbstverwirklichung der Menschen: Sie können dorthin gehen und wohnen und arbeiten und studieren, wo sie möchten. Diese Freiheit ist eine urdemokratische Errungenschaft. Wie sähe das Leben in Basel aus ohne die offenen Grenzen zu den Nachbar­staaten? Nur schon darum würde ich die Personenfreizügigkeit immer ­verteidigen. Man muss nicht immer den wirtschaftlichen Aspekt in den Vordergrund stellen – obwohl auch der wichtig ist.

Sie waren fünf Jahre Botschafter der EU in der Schweiz. Wie hat sich das Verhältnis zwischen der EU und der Schweiz in dieser Zeit entwickelt?

Die Beziehungen waren an sich immer sehr gut. Das ergibt sich alleine aus der Intensität der Beziehungen und dem Blick auf die Landkarte: Die Schweiz kann viel ändern, aber nicht ihre geografische Lage in Europa. Ich habe mich während meiner Zeit als Botschafter immer für einen möglichst engen Austausch eingesetzt. Gleich­zeitig ist die EU einem ständigen ­Umbruchprozess unterworfen. Aus diesem Grund kann man auch die ­Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz nicht statisch betrachten.

Bundespräsidentin Micheline ­Calmy-Rey hat mehr als einmal deutlich gesagt, die EU beginne der Schweiz das Leben schwer zu machen, blockiere Verhandlungen und wolle der Schweiz ihr Recht aufdrängen. So deutlich hat schon lange kein Bundesratsmitglied mehr gesagt, die Schweiz lasse sich nicht unter Druck setzen.

Was heisst «unter Druck setzen»?

Das heisst, dass die EU nur wei­tere bilaterale Verträge eingeht, wenn die Schweiz umgekehrt automatisch EU-Recht übernimmt.

Nein, das ist falsch. Die EU hat nie ­einen Automatismus verlangt. Wir ­haben gesagt, dass wir in beider­sei­tigem Interesse in jenen Sektoren, wo die Schweiz am Binnenmarkt teilnimmt, eine dynamische Übernahme des EU-Rechtes brauchen. Das ist ­keine Wortklauberei. Automatisch heisst: Ein Beschluss in Brüssel gilt automatisch auch in der Schweiz. Das verlangt niemand. Im Gegenteil. Die Schweiz als Nicht-EU-Mitglied hat stets die Möglichkeit zu sagen: Nein, das will ich nicht. Das ist unbestritten so. Allerdings – wenn man Nein sagt, dann meint man Nein. In einem solchen Fall wäre deshalb in den betreffenden Bereichen die uneingeschränkte Teilnahme am europäischen Binnenmarkt nicht mehr möglich.

Sie sagen, die Zusammenarbeit funktioniere auf fachlicher und politischer Ebene gut. Wo sehen Sie denn die Gründe für die wachsende Skepsis der Schweizer gegenüber der EU?

Die Wahrnehmung ist immer konjunk­turabhängig. Wir wissen, dass wegen der gegenwärtigen Schuldenkrise ­Europa keine besonders attraktive Braut ist. Die Skepsis gegenüber der EU ist daher verständlich. Man darf die Europäische Union aber auch nicht aufgrund einer Momentaufnahme beurteilen. Wir haben einen Prozess, der bereits seit 60 Jahren andauert. Wenn Sie sehen, was in diesen 60 Jahren ­erreicht wurde, dann ist das objektiv gesprochen beachtlich. Nicht nur, dass sich Deutschland und Frankreich nicht mehr auf den Schlachtfeldern, sondern in den Sitzungssälen treffen oder dass Deutschland und Frankreich gemeinsam zu einem Motor der europäischen Zusammenarbeit ge­worden sind. Es ist auch eine ausser­ordentliche Leistung, dass der Raum von Freiheit und Demokratie seit 1989 nach Osteuropa ausgedehnt worden ist. Auch wenn der Euro jetzt Probleme macht, so darf man trotzdem nicht übersehen, wie erfolgreich seine Einführung war. Er ist in kürzester Zeit zur zweitwichtigsten Währung der Welt geworden und ist auch heute noch eine erfolgreiche Währung. Die grossen Staaten wie die USA oder China haben einen Drittel ihrer Währungsreserven in Euro angelegt. Übersehen wird auch, dass die 17 Euro-Länder etwa 80 Prozent ihres Handels untereinander bestreiten und da hat es nie eine Eurokrise gegeben, denn ein Euro in Frankreich ist ein Euro in Deutschland. Da gibt es kein Währungsrisiko. Im Euroraum kann es die Situation nicht geben, dass eine Währung wie der Franken durchs Dach steigt und ihn eine Nationalbank wieder herunterholen muss.

Dennoch sind die Schweizerinnen und Schweizer so EU-skeptisch wie noch nie.

Das ist nicht mehr als eine Momentaufnahme. Wenn ich aber die Europaberichte des Bundesrats oder die Berichte der Kantone über europäische Zusammenarbeit analysiere, sehe ich, dass die Offenheit gegenüber der EU wächst. Auch wenn Umfragen eine grössere Skepsis gegenüber der Europäischen Union ergeben, so zeigt die Debatte, dass es einen höheren Grad an Offenheit gibt, über solche Fragen zu diskutieren. Die Schweiz muss sich in Europa positionieren und muss die Weltsituation im Auge behalten. Dazu gehört, dass der Westen – die EU und die USA – unter Druck der aufstrebenden Mächte wie China, Indien, Süd­korea, Brasilien gerät. Europa ist gefordert, sich in dieser neuen Welt zu behaupten. Das ist neu. Und da muss die Schweiz auch ihre Rolle finden.

Wir kommen noch einmal darauf zurück: Würden Sie einen Schweizer EU-Beitritt begrüssen?

Das ist nicht die Frage.

Doch, eine persönliche Frage.

Ja, die Schweiz wäre in der EU willkommen, weil sie mit der Union die grundlegenden politischen Werte der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Grundrechte teilt, und ich würde es persönlich begrüssen. Die Schweiz könnte einiges in die EU einbringen. Die Schweiz ist eigentlich eine Europäische Union im Kleinen. Es sind verschiedene Kulturen, unterschiedliche Sprachen, eine unterschiedliche Geschichte, die das Land verbinden. Die Schweiz hat es geschafft, sie zusammenzuhalten und gemeinsam eine Kraft zu werden. Und wenn die Europäische Union es schaffen will, mit den Grossen dieser Welt, mit den USA, mit den Chinesen, auf Augenhöhe zu reden, dann muss sie ein ähnliches Modell realisieren wie die Schweiz im Kleinen. Und da könnte die Schweiz in der EU schon etwas beitragen. Aber es obliegt den Schweizern allein, über ihre Position in Europa und ihre Zukunft zu bestimmen. Die EU hat noch nie einen Staat zur Mitgliedschaft gedrängt. Alle sind freiwillig beigetreten.

Michael Reiterer

Fünf Jahre lang residierte Michael Reiterer (57) in der EU-Botschaft in Bern, in Sichtweite des Bundeshauses. Er pflegte während seiner Amtszeit die «öffentliche Diplomatie», hielt Vorträge im ganzen Land, war ein häufiger Gesprächspartner der Medien. Die ständige Kritik der Schweizerinnen und Schweizer an der Europäischen Union und ihren Institutionen konterte Reiterer in einer leicht süffisanten, sehr österreichischen Art und Weise. Abgelöst wird der Tiroler von einem Briten: Ab Januar ist Richard Jones (49) neuer EU-Botschafter. In einem ersten Interview mit dem «Sonntagsblick» sagte Jones, dass er sich intensivere Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz wünsche.

Quellen

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 23/12/11

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