Drogen bestimmten bis vor Kurzem das Leben von Thomas und Richard. Die tägliche Beschaffung wurde «zum Vollzeitjob».
Der exzessive Drogenkonsum hat seine Spuren bei Thomas* hinterlassen. Müde sieht der 40-Jährige in Jeans und dem dunkelroten T-Shirt aus. Das Reden scheint ihm Kraft zu kosten – alles dauert ein bisschen länger. 20 Jahre lang nahm Thomas Heroin und andere Drogen. Derzeit macht er eine Therapie im Haus Gilgamesch in Basel. Es ist nicht das erste Mal, dass er dies versucht. Doch dieses Mal stehen die Chancen gut, dass er es schaffen kann. Geht alles nach Plan, kann er das Haus Gilgamesch in einem Jahr verlassen.
Seine Therapie bereits erfolgreich beendet hat der 30-jährige Richard*. Er war zehn Jahre lang abhängig. Seit einem Jahr ist er clean und macht nun eine Lehre als Elektriker. Im Gespräch mit der TagesWoche erzählen die beiden Männer von ihrer Sucht.
Wie wurden Sie drogenabhängig?
Richard: Das ging relativ schnell. Ich habe viel mit Drogen experimentiert, weil ich Spass daran hatte. Begonnen hatte es an Partys mit Pillen und Speed. Mit 18 zog ich von zu Hause aus und begann, Kokain und Heroin zu konsumieren. Ich war damals noch in der Lehre, verlor die Lehrstelle aber nach knapp einem Jahr wieder, weil ich ständig verladen war. Nicht viel später hatte ich auch keine Wohnung mehr und musste auf der Strasse leben.
Thomas: Ich hatte eine schwere Kindheit, mit 15 ging ich freiwillig in ein Heim für Schwererziehbare. Als ich versuchte, die Matur zu machen und es damit nicht klappte, flog ich nach Sri Lanka. Ich wollte mich selbst finden und verliebte mich dort heftig in eine Frau. Von ihr hab ich dann die erste Spritze erhalten. Das Heroin löste die schönsten Gefühle in mir aus. Noch nie hatte ich so empfunden.
Wann realisierten Sie, dass Sie süchtig sind?
Thomas: Ich wusste nach der ersten Spritze, dass sich mein ganzes Leben verändern wird. Und ich spürte, dass ich einen langen Weg vor mir habe. Ich verdrängte das aber. Doch irgendwann ist es nicht mehr schön. Irgendwann wird es zu einem Job.
Richard: Und zwar zu einem Vollzeitjob. Ich hab schnell geschnallt, dass ich abhängig bin. Das zu wissen, ist eine Sache – rauszukommen eine andere. Es dauerte zehn Jahre, bis ich aufhören konnte. Dass ich süchtig wurde, war mir lange egal. Heroin bringt eine Gleichgültigkeit allen Problemen gegenüber mit sich. Das macht das Leben ziemlich einfach. Man hat nur noch ein Problem – und zwar 24 Stunden am Tag. Die Menschen würden ja keine Drogen konsumieren, wenn es nicht angenehm wäre.
Und was genau ist angenehm?
Richard: Der Rausch. Aber es geht schnell, bis dieser zur Gewohnheit wird und man ihn nicht mehr spürt.
Können Sie den Heroinrausch beschreiben?
Richard: Warm und geborgen fühlt man sich dann. Und man spielt sich Dinge vor, die nicht der Wahrheit entsprechen. Aber so wie der erste Flash wird es nie mehr. Man ist immer auf der Suche danach, kriegt ihn aber nicht. Deshalb ist ist man nie zufrieden und braucht immer mehr davon.
Thomas: Man braucht das Heroin, um normal zu sein. Ich konnte beispielsweise nur noch rausgehen, wenn ich etwas in mir hatte. Ansonsten lief ich wie auf Eiern.
Richard: Wenn man etwas nimmt, geht es einem eigentlich sehr schlecht. Aber immer noch besser, als wenn man keine Substanz in sich hat. Deshalb ist man gezwungen, weiter zu konsumieren.
Sie waren deswegen viel auf der Gasse unterwegs. Wie hat sich die Szene in Basel verändert?
Thomas: Ich finde sie schlimmer als früher. Die Drogen sind billiger geworden. Heute kann man sich für 25 Franken eine Spritze mit drei Substanzen kaufen. Die Leute werden dadurch sehr schnell wahnsinnig. Man bekommt auch schneller ein Messer ans Bein wegen 20 Franken.
Was war das Schlimmste, was Sie machen mussten, um an Drogen zu gelangen?
Thomas: Ich habe meinen Hund weggegeben, um etwas Kokain zu erhalten. Am Anfang schöpft man alle legalen Quellen, schliesslich will man sein Umfeld nicht verletzen. Danach wird es nach dem Motto «Nach mir die Sintflut» nur noch egoistisch. Wenn man auf Entzug ist, hat man das Gefühl, der Ärmste zu sein und deshalb die Eltern und Freunde bestehlen zu dürfen.
Richard: Ich musste zum Glück wenig solche Sachen machen. Ich musste selten klauen. Ich habe lange versucht, meine Persönlichkeit zu wahren, damit ich mich einigermassen im Spiegel anschauen konnte.
Ihr Drogenkonsum hatte also keinen Einfluss auf Ihr Umfeld?
Richard: Doch. Meine Eltern wandten sich prophylaktisch von mir ab. Die Freunde sowieso – denn ausser Drogen interessierte mich fast nichts mehr.
Thomas: Dass sich die Eltern entfernen, ist nachvollziehbar. Immerhin haben sie ihr Kind jahrelang fürs Leben fit gemacht, und dann tut es nichts mehr anderes, als sterben zu wollen. Die Eltern müssen sich ja schützen.
Haben Sie oft gespürt, dass Sie auf der Strasse komisch angeschaut werden?
Thomas: Und wie! Ich hab mich immer dafür geschämt. Man sitzt in einem Bus, hat drei Wochen nicht mehr geduscht und plötzlich merkt man, dass alle ihren Platz wechseln. Das ist heftig. Oder man läuft mit einer blutigen Hose herum. Aber am Schluss hat man keine Wahl – man muss raus, mischeln gehen – und dann setzt man sich den Leuten auch aus. Ich konnte nicht mehr ins Kino oder in ein Café gehen. Ich hatte weder die Ruhe noch die Zeit dafür.
Richard: Man interessiert sich ja auch nicht mehr für solche Sachen.
Thomas: Doch, ich habe schon gemerkt, dass es noch anderes gibt. Ich hatte jedoch keine Kraft dazu – und darunter litt ich. Ich wollte immer aufhören, war 30-mal auf Entzug und machte mehrere Therapien.
Apropos Therapien: Im Haus Gilgamesch führen Rückfälle nicht zum Therapieabbruch. Dadurch ist es bestimmt schwieriger, sich von seiner Sucht zu befreien?
Richard: Die Tatsache, dass man hier nicht zwingend auf Drogen verzichten muss, war für mich richtig. Ich konnte so das Tempo selber bestimmen.
Thomas: Natürlich ist es schwierig, wenn um einen herum noch konsumiert wird. Das ist die härteste Therapie, die man machen kann – weil man es aus eigener Kraft schaffen muss. Hier wird einem nicht aufgepfropft, was man machen darf und was nicht.
Wie gross schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit ein, dass Sie rückfällig werden?
Richard: Ich bin stabil. Ich kenne die Risiken und hab mit den Drogen abgeschlossen. Ich glaube, die Angst davor, ein Leben in Sucht führen zu müssen, ist zu gross. Aber süchtig bleibt man das ganze Leben.
Thomas: Die Sucht sitzt in jedem von uns. Sie wartet nur auf die nächstbeste Gelegenheit, sich zurückzumelden. Ich staune, was der Körper alles aushalten kann – ich hätte schon ein paar Mal sterben müssen. Mir ist bewusst, dass morgen bereits wieder alles anders sein kann, und ich weiss auch, wie es dann wäre. Und das hilft mir sehr. Für mich hat der klare Moment derzeit die grösste Qualität, und diesen versuche ich, zu halten.
* Namen der Redaktion bekannt
Beim Haus Gilgamesch handelt es sich um eine von vier Institutionen der Stiftung für Sucht- und Jugendprobleme in Basel, welche dieses Jahr ihr 40-Jahr-Jubiläum feiert. Die sozialtherapeutische Einrichtung im Neubad-Quartier bietet seit Mitte der 1990er-Jahre stationäre Plätze für Drogenabhängige an, die in einem Substitutionsprogramm eingebunden sind. Ziel der Behandlung ist die Befähigung zu einer möglichst suchtmittelfreien, eigenständigen Alltagsbewältigung. Das Angebot umfasst eine stabilisierende Wohn- und Beschäftigungssituation sowie ein Arbeitsintegrationstraining in der angegliederten Holz- und Filzwerkstatt. Der mehrmonatige Aufenthalt wird von einem interdisziplinären Team mit sozialen, pflegerischen und agogischen Berufsqualifikationen begleitet. Die Betroffenen werden aus der ganzen Schweiz zugewiesen; sie werden wie Richard freiwillig oder wie Thomas im Rahmen einer gerichtlichen Massnahme im Haus Gilgamesch betreut.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 27.07.12