«Die Türkei könnte bald selbst wieder Flüchtlinge produzieren»

Der Wahlerfolg der AKP in der Türkei führte über mehr als 250 Leichen. Tayyip Erdogan habe den Konflikt mit den Kurden aus politischem Kalkül angeheizt, sagt Bilgin Ayata. Ein Gesprächt mit der Politologin von der Uni Basel.

Bilgin Ayata glaubt nicht, dass die Stärkung der AKP zu einer Stabilisierung in der Türkei und der Region führen wird.

Die Politologin Bilgin Ayata führt den Erfolg der AKP bei den vergangenen Wahlen in der Türkei auf den wiederaufgeflammten Konflikt zwischen Regierung und Kurden zurück. Ein Konflikt, der aus politischem Kalkül bewusst angeheizt wurde und in den vergangenen Monaten das Leben von über 250 Zivilisten forderte. Eine erstarkte AKP werde die Region weiter destabilisieren, ist Ayata überzeugt.

Frau Ayata, Sie beobachten die politischen Entwicklungen in der Türkei schon seit Jahren. War der Wahlerfolg der AKP vom Sonntag, mit 50 Prozent der Stimmen und der absoluten Mehrheit im Parlament, für Sie eine Überraschung?

Bilgin Ayata: Ja, niemand hat ein solches Ergebnis vorausgesagt. Alle grossen Meinungsforschungsinstitute in der Türkei haben ein ähnliches Wahlergebnis wie bereits im Juni prognostiziert. Auch ich hätte nicht erwartet, dass die Strategie von Präsident Erdogan so erfolgreich aufgeht: Durch Neuwahlen wurden die Ergebnisse der Wahlen im Juni rückgängig gemacht, die AKP wurde vom grossen Verlierer im Juni zum grossen Gewinner im November.

Welche Faktoren haben Ihrer Meinung nach massgeblich zur Popularität der AKP und von Präsident Erdogan beigetragen?

Zum einen hatte Erdogans AKP ein leichtes Spiel, da mittlerweile die meisten Medien und Institutionen fest in ihrem Griff sind. Sie konnte dadurch die Stimmung im Lande massgeblich beeinflussen. So wurde in den letzten fünf Monaten der Konflikt mit den Kurden wieder extrem aufgeheizt. Er bestimmte den politischen Diskurs. Dabei war die AKP noch 2013 öffentlich in einen Friedensprozess mit der PKK eingetreten. Das war ein historischer Schritt. Der Waffenstillstand war zwar fragil, aber während der letzten Wahlen im Juni noch im Gang.

Wieso der Bruch mit den Friedensverhandlungen?

Dass die HDP in den Juni-Wahlen mit 13 Prozent in das Parlament einzog, löste unter konservativen und nationalistischen Kreisen Unbehagen aus. Erdogan führte die Stimmenverluste auf den Friedensprozess zurück, der nicht glaubwürdig an die eigene Wählerschaft vermittelt wurde und auf wenig Unterstützung stiess. Die AKP reagierte mit einem radikalen Kurswechsel und kündigte den Friedensprozess auf. Seither findet in der Türkei eine nationalistische Aufheizung in höchstem Masse statt. Und das nicht nur auf rhetorischer Ebene. In den letzten Monaten kam es zu zahlreichen militärischen Eingriffen in den kurdischen Gebieten und massiven Anschlägen auf die HDP.

«Es zeigte sich einmal mehr, dass die Wahlurne für die AKP lediglich ein Instrument ist, um die eigene Macht formal zu legitimieren.»

Hat die AKP vom wieder aufgeflammten Kurdenkonflikt politisch unmittelbar profitiert? Schliesslich betrug der Verlust der prokurdischen HDP bei den aktuellen Wahlen lediglich zwei Prozent. 

Der erstmalige Einzug der HDP ins Parlament sowie der erneut entflammte Konflikt mit den Kurden hat zu einem Zusammenrücken von Rechtskonservativen, Nationalisten und Religiösen geführt. Die AKP hat mit ihrem Kurswechsel viele vormalige Wähler der MHP, der extrem nationalistischen Partei am äussersten rechten Rand, hinzugewinnen können. Ihr verdankt die AKP ihren grössten Stimmenzuwachs. Was diese beiden Wählerschaften vereint, ist der Widerwille, die Kurden als legitimen politischen Akteur zu akzeptieren.

Waren die Neuwahlen nach dem Ergebnis im Juni also eine direkte Antwort auf den erstmaligen Einzug der prokurdischen HDP ins Parlament?

Ja, denn dadurch hatte die AKP nicht mehr die absolute Mehrheit im Parlament. Der Entscheid für Neuwahlen war zutiefst undemokratisch, denn er drückt auch den Widerwillen von Erdogan und der AKP aus, eine Regierungskoalition einzugehen, was nunmal Teil des demokratischen Prozesses ist. Am Wahlabend liess Premierminister Ahmet Davutoglu in einer Rede voller Freude verlauten: ‹Wir machen uns nun an die Arbeit; ganz alleine.› Das offenbart eine zutiefst antidemokratische Haltung. Die Türkei steuert sehr offen auf ein autoritäres Regierungssystem zu, wobei diese Wahlen ja bereits ein Ausdruck eines solchen waren. Es zeigte sich einmal mehr, dass die Wahlurne für die AKP lediglich ein Instrument ist, um die eigene Macht formal zu legitimieren. Passt der Wahlausgang nicht, werden Neuwahlen ausgerufen.

Die Wahlbeobachter der OSZE haben die türkischen Wahlen am Montag stark kritisiert. Sie urteilten, dass die Bedingungen für freie und faire Wahlen aufgrund der Sicherheitslage und der eingeschränkten Medienfreiheit nicht gegeben waren. Wie war Ihr Eindruck?

Dem stimme ich zu, das waren keine freien und fairen Wahlen. In den vergangenen Monaten befanden sich mehrere kurdische Städte in einem Ausnahmezustand, über 258 Zivilisten sind seit den Wahlen im Juni bei Kämpfen und Attentaten gegen Kurden und HDP-Anhänger umgekommen. Die Büros und Parteigebäude der HDP wurden angegriffen und zerstört. Selbst im Ausland wurden die Büros der HDP angegriffen, zum Beispiel in Berlin. Die HDP hat beim Attentat in Ankara vom 10. Oktober zwei Kandidaten für die Parlamentswahl, mehrere Funktionäre und politische Anhänger verloren. Das war ein direkter Angriff auf die politischen Chancen der Partei. Die HDP kündigte daraufhin an, dass sie aus Schutz für die eigenen Mitglieder keinen Wahlkampf mehr betreibt. Unter diesen Umständen sind die 10,7 Prozent Stimmenanteil, welche die HDP bei den aktuellen Wahlen erzielte und die den Verbleib im Parlament sichern, ein unglaublicher Erfolg. Man stelle sich nur einmal vor, was gewesen wäre, wenn die HDP unter gleichen Bedingungen Wahlkampf betrieben hätte wie die AKP und medial genauso präsent gewesen wäre.

Sie haben selber in den kurdischen Gebieten geforscht und pflegen bis heute gute Kontakte dort. Wie war die Situation im Südosten der Türkei während des Wahlkampfs?

Ich habe einen Kollegen, der als Anthropologie-Professor in den USA gearbeitet hat und sich entschloss, in seiner Heimatstadt Bingöl für die HDP anzutreten. Durch ihn konnte ich verfolgen, wie sich die Situation in den letzten Monaten zugespitzt hat. Der Fahrer seines Wahlkampfbusses wurde wenige Tage vor den Wahlen im Juni mit über 30 Schüssen niedergestreckt. Er hatte sechs Kinder. Der Wahlkampf wurde daraufhin unterbrochen, und mein Kollege und seine Helfer waren erst einmal damit beschäftigt, die Familie zu versorgen, Spenden für sie zu sammeln und so weiter. Das war kein Einzelfall: Nur kurze Zeit später wurden zwei weitere Wahlkampfhelfer umgebracht – wiederum von Unbekannten. August und September waren besonders tragische und unglaublich gewaltvolle Monate. In Städten, die als HDP-Hochburgen bekannt sind, durften die Menschen nach Ausrufung des Ausnahmezustandes bis zu zehn Tagen nicht mehr auf die Strasse.

«Keine Gesellschaft kann auf Dauer solch eine tiefgehende Spaltung ertragen.»

Inwiefern lassen sich solche Attacken auf die HDP konkret der türkischen Regierung anlasten? Glauben Sie, es handelt sich dabei um gezielte Auftragsmorde?

Natürlich kann man das so direkt nicht sagen. Aber in der Türkei wurden in den 1990er-Jahren über 17’000 Morde von «Unbekannten» an Zivilisten verübt, meist kurdische Aktivisten oder Menschenrechts-Aktivisten. Der «tiefe Staat», über den in der Türkei viel gesprochen wird, trat in den vergangenen Monaten erneut in Erscheinung, aber weniger verdeckt als zuvor. Ein Bombenanschlag mitten in Ankara, umgeben von zahlreichen Sicherheitsbehörden, in einem Land mit einem sehr ausgeprägten Sicherheitsapparat, wäre ohne Mitwissenschaft der Regierung nicht möglich gewesen. Die Eskalation der Situation wurde von der Regierung herbeigerufen; das war Strategie. In der Türkei herrscht wieder ein Terrorismus-Diskurs wie in den frühen 1990er-Jahren, als Kurden zu Zielscheiben der Militärs und Paramilitärs wurden. Erdogan als Staatspräsident hat diese Polarisierung und nationalistische Aufheizung im Vorfeld der Wahlen bewusst vorangetrieben und dabei Wahlkampf für die AKP betrieben, obwohl die Verfassung das verbietet. Als Staatspräsident müsste er überparteilich und integrierend agieren. Aber er macht das Gegenteil.

Die AKP hat sich vor den Wahlen als Garant der Stabilität im Land und im Mittleren Osten positioniert. Und viele Beobachter waren in Hinblick auf das politische Chaos in den Nachbarländern tatsächlich erleichtert über die klaren Verhältnisse nach den Wahlen. Ein Trugschluss? 

Ich bezweifle stark, dass die Stärkung der AKP zu einer Stabilisierung im Land und der Region führen wird; auch wenn die Börsen kurz nach den Wahlen gejubelt haben. Die Stabilisierung wird höchstens vorübergehend sein. Ich rechne viel mehr mit einer weiteren Polarisierung in der Türkei. Keine Gesellschaft kann auf Dauer solch eine tiefgehende Spaltung ertragen. Die Fronten zwischen AKP-Wählern und Nicht-AKP-Wählern werden sich weiter verhärten, und in absehbarer Zeit wird es zu weiteren Protesten und Aufständen im Land kommen – vergleichbar mit den Protesten in den arabischen und nordafrikanischen Ländern nach 2010.   

In den vergangenen Monaten hat sich die EU im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise stark der Türkei angenähert. Was bedeutet das aktuelle Wahlergebnis für die europäisch-türkischen Beziehungen?

Europa hat ganz offensichtlich keine Lehren aus dem Arabischen Frühling gezogen! Denn die eine Hauptlehre von damals hätte sein müssen: Es zahlt sich nicht aus, autoritäre Strukturen und autokratische politische Führungspersönlichkeiten zu unterstützen. Was vordergründig nach Stabilität aussah, war ein Pulverfass. Statt Erdogan freie Hand für eine Kriegsführung gegen die Kurden zu signalisieren, sollte die EU sich deutlich für einen Friedensprozess einsetzen. Solange keine politische Lösung des Konflikts mit den Kurden in Aussicht steht, wird es keinen dauerhaften Frieden und Demokratie in der Türkei geben.

«Die syrischen Flüchtlinge sind zum Faustpfand Erdogans gegenüber der EU geworden.»

Bundeskanzlerin Merkel war am 18. Oktober in der Türkei auf Staatsbesuch für Gespräche mit Präsident Erdogan zu einer engeren Zusammenarbeit in Flüchtlingsfragen. War das indirekt auch Wahlhilfe für Erdogan und die AKP?

Auf jeden Fall. Aber vor allem war es ein Schock für all die Kräfte im Land, die tatsächlich für Demokratie kämpfen. Die progressiven Kräfte in der Türkei hatten insbesondere nach dem Attentat in Ankara Unterstützung und Solidarität aus dem Ausland erhofft. Der Besuch Merkels und die brüderliche Umarmung von EU-Kommissionschef Juncker mit Erdogan war ein Messerstich in den Rücken all jener, die dort Freunde, Mitstreiter und Familienangehörige verloren hatten. Aber für die EU hat die innenpolitische Lage in der Türkei keine Priorität. Vielmehr ist sie darum besorgt, dass die Türkei möglichst viele Flüchtlinge im Land zurückbehält und ihre Grenzen nicht öffnet. Das aktuelle Wahlergebnis dürfte also im Sinne der EU sein. Die syrischen Flüchtlinge sind zum Faustpfand Erdogans gegenüber der EU geworden.

Sie glauben also nicht, dass die Annäherung der EU an die Türkei zu guten Lösungen bezüglich der Verteilung und Integration von Flüchtlingen aus Syrien führen könnte?

Nein, nicht wenn das in dieser Form geschieht. Die tolerante Haltung der Türkei gegenüber dem IS und der Krieg gegen die Kurden hat dazu geführt, dass sich syrische Flüchtlinge in der Türkei zunehmend unsicher fühlen. Erst kürzlich wurden in Urfa, wo viele syrische Flüchtlinge leben, zwei syrische Aktivisten vom IS brutal ermordet. Aber auch Kurden, Aleviten, Frauen, Homosexuelle und zunehmend auch bürgerliche Kreise fühlen sich nicht mehr sicher. Die Türkei könnte bald selbst wieder Flüchtlinge produzieren, wie vor 20 Jahren, als massenweise Kurden vertrieben wurden. Die EU hatte einst Gaddhafi hofiert, um Flüchtlinge aus Europa rauszuhalten. Wenn sie nun heute Erdogan den Rücken stärkt, sollte sie nicht vergessen, wie erfolglos diese Politik war. Europa muss seine eigene Grenzpolitik überdenken, anstatt zu versuchen, Flüchtlinge woandershin outzusourcen – das hat bisher nicht funktioniert und wird es auch in der Zukunft nicht.

Zur Person
Bilgin Ayata ist seit August Assistenzprofessorin für Politische Soziologie an der Universität Basel. Zuvor war sie an der Freien Universität Berlin als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Arbeitsstelle Transnationale Beziehungen, Aussen- und Sicherheitspolitik tätig. Ayatas Forschung gilt insbesondere Transformationsprozessen, die durch Migration, Konflikte und soziale Bewegungen beeinflusst werden. Ihr regionaler Schwerpunkt umfasst den Nahen Osten und Europa, insbesondere die Türkei und die kurdischen Gebiete.

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