Soziologieprofessor und Armutsforscher Ueli Mäder über die Gründe, weshalb viele nichts und wenige viel besitzen – und wie mehr Ausgleich geschaffen werden könnte.
Herr Mäder, wie definieren Sie Armut?
Arm ist, wer zu wenig Geld, Anerkennung und Perspektive hat.
In Entwicklungsländern haben viele Menschen nichts zu essen, kein Dach über dem Kopf. Hier muss niemand wirklich Hunger leiden, auch kennen wir keine Slums. Jammern hier die Menschen auf sehr hohem Niveau?
Jammern? «Ich hätte halt in der Schule besser aufpassen müssen, dann stünde ich heute auch besser da.» Das sagte mir eine Mutter von vier Kindern. Sie klagt sich selbst an statt ihren niedrigen Lohn als Verkäuferin. Und das kommt oft vor. Viele Arme strecken sich nach der Decke. Vielleicht sollten sie mehr jammern, und zwar laut! Dass wir in der Schweiz relativ gut leben, ist ja erfreulich. Und dazu sollten wir Sorge tragen. Aber einer Gesellschaft geht es gut, wenn es möglichst allen gut geht.
Viele denken, wer etwas leistet, kommt nach oben. Ist also, wer arm ist, zu faul zum Arbeiten und somit selber schuld?
Bei uns leben etwa eine halbe Million Menschen in Familien von erwerbstätigen Armen, die viel arbeiten und wenig verdienen. Andere sind arm, weil eine Maschine ihre Arbeit ersetzt und der Gewinn privatisiert wird. Wo Wille vorhanden ist, ist nicht immer ein Weg. Leider.
Gibt es einen klassischen Weg in die Armut?
Wer arm aufwächst, hat mehr gesundheitliche und schulische Probleme. Oft leidet auch der Selbstwert. Das beeinträchtigt die Perspektiven.
Wie sind Reiche zu ihrem Reichtum gekommen?
Gut die Hälfte über Erbschaften. Überhaupt profitieren die meisten von der Arbeit, die andere für sie verrichten. Hinzu kommen der eigene Fleiss, die gute Ausbildung und die Netzwerke.
In der Schweiz leben sehr viele sehr Reiche. Laut einer Studie von Ihnen wohnt jeder zehnte Milliardär der Welt hier. Da sollte es eigentlich keine Armen geben in einem so reichen Land. Was läuft falsch?
Ja, bei uns hat ein Prozent der privaten Steuerpflichtigen mehr Nettovermögen als die restlichen 99 Prozent zusammen. Die meisten haben gar keine finanziellen Reserven. Würden die 300 Reichsten allen 50 000 Franken aufs Sparbüchlein überweisen, hätten sie immer noch mehr als genug.
Wer mehrere Millionen oder gar Milliarden besitzt, hat viel mehr, als er je in seinem Leben ausgeben kann. Wie könnten diese Superreichen davon überzeugt werden, sich ein bisschen solidarischer mit dem Rest der Bevölkerung zu zeigen?
Einzelne Reiche fürchten selbst, dass der Arbeitsfriede aufbricht, wenn die soziale Schere weiter auseinander driftet. Sie wollen mehr Ausgleich zwischen Kapital und Arbeit. Daran lässt sich anknüpfen. Aber wir dürfen das Bewältigen der Armut nicht dem Goodwill der Reichen überlassen.
Was kann/muss die Politik tun?
Die Politik muss die Bevölkerung vertreten und sich demokratisch für die soziale Sicherheit engagieren. Aus meiner Sicht sind zunächst vor allem die unteren Löhne anzuheben und alle Jugendlichen gut auszubilden.
Ueli Mäder ist Professor für Soziologie an der Uni Basel und der Hochschule für Soziale Arbeit.
Zum Tag der Armut, am 17. Oktober, finden auf der ganzen Welt Kundgebungen statt. Auch in Basel, von 16.30 bis 20 Uhr auf dem Claraplatz.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 12.10.12