«Die Volksmusik steht im Moment gut da – sie ist sehr frisch, sie ist sehr jung»

Johannes Rühl ist ein Kenner der aktuellen Schweizer Volksmusik. Im Interview spricht er über neue Tendenzen, über Innovatoren, Traditionalisten und über das grosse Buch, das er mitverfasst hat.

«In der Schweiz wird vermehrt Streichmusik gemacht», stellt Volksmusik-Forscher Johannes Rühl fest. 

Johannes Rühl ist ein Kenner der aktuellen Schweizer Volksmusik. Im Interview spricht er über neue Tendenzen, über Innovatoren, Traditionalisten und über das grosse Buch, das er mitverfasst hat.

Von Hans Kennel bis Erika Stucky, von Noldi Alder bis Christian Zehnder: Das Spektrum der Neuen Volksmusik in der Schweiz ist riesig. Johannes Rühl, der an der Hochschule Luzern über musiksoziologische Phänomene forscht und künstlerischer Leiter des Festivals Alpentöne in Altdorf ist, hat mit seinem Hochschulkollegen Dieter Ringli die erste Monografie über die Mischformen eidgenössischer Traditionen mit Jazz, Klassik und Pop veröffentlicht.

Herr Rühl, wie kommt ein Deutscher dazu, das erste Buch über die sogenannte Neue Volksmusik der Schweiz zu verfassen?

Ich mache die Arbeit beim Festival Alpentöne seit 2007 und komme von einem ethnologischen Studienhintergrund. Da möchte man das, was man jahrelang programmatisch macht, auch mal theoretisch und historisch beleuchten und hinterfragen. Das Buch ist sicher kein Abbild des «Alpentöne»-Programms, wir präsentieren in Altdorf ja auch nur einen Ausschnitt des grossen Spektrums, das genauso im Toggenburg mit den «Naturstimmen» oder in Zürich mit der «Stubete am See» abgedeckt wird. 

In Ihrem Buch kommen Sie zum Schluss, dass die Neue Volksmusik kein Musikstil ist, über keine einheitliche Szene und kein homogenes Publikum verfügt. Wie könnte man sie dennoch definieren, die Neue Volksmusik?

Sie basiert auf traditionellem Material, das ist der Grundkonsens. Doch anschliessend kommt die individuelle Geschichte eines jeden Musikers ins Spiel: Es gibt welche, die die Volksmusik mitbringen und sich dann zusätzlich woanders bedienen, und diejenigen, die aus einem anderen Umfeld kommen und sich dann bei der Volksmusik bedienen. Der Transfer funktioniert in beide Richtungen.

«Lässt man einmal die dahinter stehende Ideologie beiseite, dann sind wir gar nicht mehr so weit weg vom ‹Musikantenstadl›.»

Aber was heisst denn in diesem Zusammenhang «neu»? Sie schildern im Buch eine spürbare Verdichtung der Entwicklungen in der Mitte der 1990er. Doch George Gruntz hat bereits 1967 Jazz mit den Klängen der Basler Fasnacht verknüpft… Gibt es ein Fixdatum oder ein Ereignis, ab dem man sagen kann: Hier beginnt in der Schweiz die Neue Volksmusik?

Nein. Man macht oft den Fehler, das Genre an einem rebellischen Etikett aufzuhängen und an den Ereignissen von 1968 festzumachen. Das hat sich längst verflüchtigt, heute ist die Überschrift nicht mehr «Rebellion», sondern «Offenheit». Lässt man einmal die dahinterstehende Ideologie beiseite, dann sind wir gar nicht mehr so weit weg vom «Musikantenstadl» oder der volkstümlichen Musik. Das akustische Material, worauf man sich bezieht, ist im Grunde dasselbe. Ein Phänomen, das übrigens in der Countrymusik ähnlich zu beobachten ist.

Lässt sich die neue Entwicklung an Persönlichkeiten festmachen?

Ueli Mooser haben wir an den Anfang gestellt, weil er für die Szene der Traditionalisten sicherlich eine entscheidende Figur ist. Er kommt anfänglich aus der Unterhaltungsmusik, ist aber als Multiinstrumentalist in der Volksmusik immer sehr gefragt gewesen, weil er die grosse Offenheit hat, die man für diese Form der populären Musik braucht. Von dort ausgehend hat er viele Musiker angestiftet, sich mit Veränderungen zu beschäftigen. Aber wirklich gemacht haben es dann andere, der Schwyzerörgeli-Spieler Markus Flückiger oder der Klarinettist Dani Häusler zum Beispiel.       


Von Deutschland her ist ja bekannt, dass die eigene Volksmusik ab den 1970ern erst über den Umweg Irland, Schottland, England wiederentdeckt wurde, da die Nazis die deutsche Volkskultur für sich vereinnahmt hatten. Es überrascht, dass auch die Pioniere der Neuen Volksmusik der Schweiz sich am Ausland orientieren mussten, obwohl es hier kein Drittes Reich gab.

Während des Nationalsozialismus musste die Schweiz sich mit der geistigen Landesverteidigung kulturell auf sich selbst besinnen, in Kriegszeiten hörte man im Radio Klassik, Nachrichten und Volksmusik, nichts anderes, viele Jahre lang. Dessen war man nach Kriegsende müde, man sehnte sich nach dem Westen, nach Amerika. Insofern wurde die Nachkriegszeit zu einer Ära der Vergessenskultur. Alle fühlten sich als «Sieger», und das Eigene galt als rückständig, überholt, unmodern, die Volksmusik wurde nicht mehr ernst genommen, sie wurde immer «gepflegter» und unanhörlicher, vorhersehbarer, braver. So hat sich das Bild von der Schweizer Ländlermusik verfestigt. Der Jodlerverband hat dann auch noch sein Scherflein dazu beigetragen. Er hat nicht gemerkt, dass er in einer Sackgasse steckt. Aus der herauszukommen, wenn man trotzdem noch an der Volksmusik hängt, kann keine andere Konsequenz haben, als diese konservative Haltung aufzugeben. 

Eine Persönlichkeit wie Noldi Alder, der aus der althergebrachten, familiären Musikerdynastie ausstieg, ist dafür ja ein Paradebeispiel. Wie haben sich die Neuen Volksmusiker von den Traditionalisten lösen können?

In ihrem Sehnen nach einer ursprünglichen Form haben sie angefangen zu forschen, haben nach alten Lieder- und Notenbüchern gesucht und diese Musik nachgespielt oder neu interpretiert, so wie etwa ein Florian Walser. Dabei haben sie einen Kosmos an Musik entdeckt, der immer im Ungefähren bleibt, weil man oft gar nicht mehr rekonstruieren kann, wie das gespielt wurde. Umso lustvoller kann man dann damit umgehen! Es ist ein bisschen vergleichbar mit der historischen Aufführungspraxis, die in der klassischen Musik ja im Moment sehr beliebt ist. Wenn man im Ungefähren ist, ist man freier, als wenn man genau weiss, was zu tun ist. Und die Traditionalisten wissen, was zu tun ist, deshalb können sie da auch nicht so leicht raus.


Stimmt der Eindruck, dass wenige Einflüsse aus den angrenzenden alpinen Regionen auszumachen sind?

Es gibt in der Tat wenig Überschneidungen, auch wenige Musiker, die über die Grenzen hinaus arbeiten. Sie gehen kaum in Deutschland und Österreich auf Tour, umgekehrt kommen die Bayern und die Österreicher eher mal in die Schweiz. Es gibt hier noch einen grossen Fundus an naturtöniger Musik, das hat man in den anderen alpinen Ländern kaum mehr. Das reizt sehr zum Experimentieren, und wenn man «Kunst» betreibt, ist das viel greifbarer als die herkömmlicheren Formen in Bayern und Österreich, bei denen eher der Aspekt des Karikierens und des Humors, auch der schwarze und bitterböse im Fokus steht.  

Ein weiterer Unterschied zu Bayern und Österreich: Es gibt hier viele Verbindungen zu Jazz und Klassik, wenige zu Rock und Pop.

Ich könnte mir schon vorstellen, dass ein Phänomen wie Hubert von Goisern in der Schweiz möglich ist. Warum dieser Rock- und Pop-Aspekt in der Neuen Volksmusik weitestgehend fehlt, weiss ich nicht. Christine Lauterburg hat es in Ansätzen versucht, auch Corin Curschellas, wobei die in ihren ausgeprägten Popzeiten sehr weit weg war vom Volksmusikalischen. Mir fällt kein Grund ein, warum zum Beispiel nicht auch bei der jetzt gerade abgesetzten Stadl-Show mal ein Schweizer auftritt, der richtig «auf die Pauke haut». Da ist noch Forschungbedarf.

Sie haben Christine Lauterburg genannt, die in den 1990ern wegen ihrer gewagten Auslegung des Jodelns aus dem Jodlerverband ausgeschlossen wurde. Sind solche Anfeindungen heute noch da von konservativer Seite?

Heute ist das alles sehr befriedet und unaufgeregt. Viele Akteure der Neuen Volksmusik sind mittlerweile auch bei den Traditionalisten anerkannt, gerade Markus Flückiger und Dani Häusler. Sie haben inzwischen schon den Status von «Ländlerkönigen», obwohl ich diesen Begriff nicht verwenden möchte. Festivals laden Musiker aus beiden Sparten ein. Wie der Jodlerverband seine Zukunft sieht, weiss ich nicht, das müsste man die Leute dort selbst fragen. Aber die Neue Volksmusik hat in allen Bereichen einen Aufschwung ausgelöst. Die Volksmusik steht im Moment ziemlich gut da. Sie ist sehr frisch, sie ist sehr jung. Das ist ein erfreuliches Phänomen. Die alten Grabenkämpfe, sofern es sie als Auseinandersetzung um die Stilistik wirklich gegeben hat und es nicht sowieso nur persönliche Geschichten waren, die sind unbedeutend geworden.

Unter den Neuen Volksmusikern stellen diejenigen, die aus ganz anderen Bereichen, etwa vom Theater oder dem Jazz kamen und dann zur Tradition vordrangen, eine eigene Gruppe dar, etwa Christian Zehnder oder Erika Stucky. Deren Klangwelten haben Sie beschrieben als «Spielen auf dem Konnotationsklavier imaginärer Heimaten». Sind diese Imaginationen dabei, zu einer neuen Schweizer Klangidentität zu werden?

Das kann sein, denn so hat Musik ja immer funktioniert, auch die Volksmusik. Was hat das Hackbrett mit den Bergen zu tun? Erst mal gar nichts. Das eine sind Steine, das andere Holz mit Saiten drübergespannt. Das ist nicht naturgegeben. Die Zutaten, die zum Heimatbild dazugehören, entstehen nach und nach. Es liegt einfach viel Soundmaterial herum, dem sich niemand entziehen kann. Die Landschaften gehören uns allen, und wenn man damit Sounds verbindet, dann entsteht so etwas wie musikalische Identität.  

«Die Neue Volksmusik ist nicht mehr so kunstbehaftet, sie groovt besser, ist tanzbarer und unbeschwerter.»

Welche Tendenzen gibt es in der Neuen Volksmusik aktuell? Geben Sie uns einen kleinen Ausblick.

Die Klarinetten sind am Verschwinden. Kaum jemand lernt noch dieses Instrument, das betrifft sowohl die traditionelle als auch die Neue Volksmusik. Auf der anderen Seite wird sehr viel Streichmusik gemacht, wie zum Beispiel von den Fränzlis da Tschlin und den Helvetic Fiddlers. Streicher sind in vielen Ensembles präsent, obwohl die Ländlermusik sie heute gar nicht kennt. Die Instrumente mischen sich, wie auf dem Titelbild unseres Buches: Da sieht man die Band Doppelbock mit einer Halszither, einem Örgeli und einer Geige, die kamen in dieser Zusammensetzung simultan in der Schweizer Volksmusik gar nicht vor. Und noch etwas: Die Musik kommt insgesamt leichter daher, ist nicht mehr so kunstbehaftet, sie groovt besser, sie ist tanzbarer, unbeschwerter. Das ist schön, auch wenn es natürlich nicht mehr die Tiefe und die Schwere der Musik aus der ersten Generation der Neuen Volksmusik hat.

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Dieter Ringli, Johannes Rühl: «Die Neue Volksmusik – Siebzehn Porträts und eine Spurensuche in der Schweiz», mit CD, erschienen im Chronos Verlag.

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