«Dieser Krieg war nicht mehr steuerbar, er sprengte alle Vorstellungen»

«Krieg und Krise» heisst Robert Labhardts Buch über Basel im 1. Weltkrieg. Im Gespräch erzählt er, wie die Grenzstadt damals mit den Folgen des Grossen Krieges umging.

Robert Labhardt schreibt aus städtischer Perspektive über den 1. Weltkrieg. (Bild: Hans-Joerg Walter)

Der Historiker Robert Labhardt hat soeben ein Buch über Basel im 1. Weltkrieg veröffentlicht. Im Interview spicht er über die schlechte Versorgungslage der Städte, den Umgang der Chemie mit ihren Arbeitern und das Problem der deutschen Pickelhauben.

Bilder und Karikaturen von 1914 zeigen eine grosse Kriegsbegeisterung oder stellen das beginnende Völkermorden als lustigen Einfall der Weltgeschichte dar. Das wirkt aus heutiger Sicht irritierend.

Robert Labhardt: Diese trommelnde Begeisterung gab es in Deutschland vor allem in den Städten, unter den Professoren und ihren Studenten, die ganz offensichtlich ideologieanfälliger waren als etwa die Menschen auf dem Land. Auch in Basel waren es Professoren, unter ihnen auch Historiker, die den deutschen Krieg verteidigten. Das ist eine erschreckende Erkenntnis für mich als Historiker: Diese nationalistisch aufgeladene Parteinahme für den deutschen Staatsgeist, diese gigantischen Fehleinschätzungen, was die Dauer und den Ausgang des Krieges anbelangt. Wie leicht sich gerade die Geisteswissenschaftler da vom Zeitgeist verführen liessen! Die Landbevölkerung stellte in den kriegführenden Ländern wie auch in der Schweiz dagegen ganz pragmatische Überlegungen an: Was wird aus meinem Vieh, was aus meinen Feldern, wenn ich einrücken muss? Entsprechend gross war ihre Sorge.

Aber warum diese gigantischen Fehleinschätzungen an den Universitäten?

Europa bewegte sich auf einen Krieg zu, auf den es nicht vorbereitet war. Es fehlte nur schon die Vorstellung, dass dieser Krieg ein anderer sein würde als jener des 19. Jahrhunderts, in dem Linie auf Linie vormarschierten und schossen, bis der Sieger feststand. Der moderne, industriell befeuerte Krieg funktioniert ganz anders; er ist nicht mehr steuerbar, weil jeder Angriff mit immer noch schärferen Gegenangriffen und noch stärkeren Waffen beantwortet wird. In dieser Entwicklung standen die Armeen 1914 am Anfang, wie sich nur schon an den Uniformen zeigte.

Inwiefern?

Da gab es die Franzosen mit rotem Kragen – ein leichtes Ziel in einem Krieg mit modernen Waffen. Oder die deutschen Pickelhauben – auch die sah man von Weitem, wenn sie im Sonnenlicht glänzten. Diesem Umstand hat übrigens die Basler Chemie ihren Take-off zu verdanken: Sie konnte an die Alliierten Farben für neue Uniformen liefern – ein gewaltiger Auftrag.

In Ihrem Buch kommen die Unternehmen ähnlich wie auch die Bauern generell schlecht weg. Umso besser steht dagegen die Basler Regierung und ihre Politik während des 1. Weltkrieges da. Haben Sie nicht ein etwas einfaches Bild gezeichnet?

Das sind Befunde, die mich zum Teil selbst überrascht haben. Da wäre zum Beispiel die Tatsache, wie schnell die Regierung gehandelt hat. Eine Woche nach Kriegsbeginn nahm die staatliche Hilfskommission bereits ihre Arbeit auf, um die Not möglichst zu lindern. Selbstverständlich machte der Regierungsrat auch Fehler, vor allem dann, wenn er an einer seiner Sitzungen einen Hüftschuss abgab. Die Stärke der Regierung war aber, dass sie sich bei den Hilfsaktionen und der Aufrechterhaltung der Lebensmittel- und Brennmaterialversorung in der Regel von Expertenkommissionen beraten liess, die nicht nur etwas vom Geschäft verstanden, sondern auch sozial sensibel waren und den Weg zu annehmbaren Lösungen aufzeigten.

«Die Schweizer Städte hatten damals ein erhebliches Problem, weil die Bauern ihre Produkte zurückbehielten oder sogar vernichteten.»

Kommen wir auf den Gegensatz in der Wirtschaft zu sprechen, wo die Rollen für Sie klar zu sein scheinen: sture Unternehmer gegen darbende Arbeiter. Dabei gab es gerade in der Basler Wirtschaftswelt interessante Verschiebungen. Während die moderne chemische Industrie mehr und mehr aufkam, verloren die alten Seidenbandunternehmer mit ihrem typischen Herr-im-Haus-Standpunkt zunehmend an Einfluss.

Da gab es tatsächlich beträchtliche Unterschiede im Auftreten gegenüber den Mitarbeitern. Die Bandunternehmer praktizierten die reinste Kommunikationsverweigerung gegenüber jeglicher Organisationsform auf Seiten der Posamenter (Arbeiter, die Bänder, Borten u.ä. herstellten, Red.) Sie waren Familienunternehmer, die das Unternehmen als ihren Privatbesitz betrachteten und sich jegliche Einmischung verbaten.

Und in der Chemie?

In den Verwaltungsräten der chemischen Industrie ging es vor allem um professionelle Verbindungen, nicht um familiäre. Da standen Männer wie Paul Speiser-Sarasin in der Verantwortung, die zwar durchaus liberal-konservativ dachten, aber auch bereit waren, sich in der Politik zu engagieren und sich auf einen vernünftigen Ausgleich zwischen Wirtschaft und Sozialpolitik einzulassen.

So kam im Basel des 1. Weltkrieges also ein neues Unternehmertum auf?

Ich würde es so sagen: Es entstand zumindest bis zu einem gewissen Grad ein Bewusstsein, dass die Wirtschaft besser fährt, wenn sie sich bei Konflikten sozialpartnerschaftliche Lösungen erarbeitet. Hinzu kommt, dass die chemische Industrie in jener Zeit dermassen grosse Gewinne erzielte, dass sie es sich leisten konnte, den Arbeitern entgegenzukommen. Oder besser gesagt: Sie hatte gar keine andere Wahl, wenn sie ihre Mitarbeiter nicht verlieren wollte, die ständig in diesen gesundheitsschädigenden Dämpfen arbeiten mussten. Ohne die Arbeiter hätten sie die lukrativen Aufträge aus dem Ausland verloren.

Den Bauern werfen Sie im Buch vor, Lebensmittel lieber dem Vieh verfüttert zu haben, als diese den Städtern zu geben, solange sich dadurch die Preise hochtreiben liessen. Es gibt Historiker, die sagen, den Bauern habe schlicht das Wissen gefehlt, von der Viehzucht wieder vermehrt auf den Gemüseanbau umzustellen.

In diesem Punkt nehme ich klar die städtische Perspektive ein. Ich bin auch kein Spezialist in der Landwirtschaftsgeschichte, kenne aber die Bemühungen einzelner Forscher, sich eine neue, differenziertere Sicht auf die Bauern im Krieg zu erarbeiten. Ihre Ergebnisse sind aber bisher ziemlich dünn. Darum bleibe ich bis auf Weiteres bei meiner Einschätzung, dass die Schweizer Städte damals ein erhebliches Problem hatten, weil die Bauern ihre Produkte häufig zurückbehielten oder sogar vernichteten. Das sahen in den Städten damals alle so – und zwar nicht nur unter den Sozialdemokraten sondern auch im Freisinn.

Was den Stadt-Land-Graben noch weiter vertieft haben dürfte.

Zweifellos. Das war aber nur einer der Gräben, die die damalige Schweiz durchzogen. Darum gab es auf den 2. Weltkrieg hin den gross angelegten Versuch, die Gräben mit der geistigen Landesverteidigung zuzuschütten.

«Im Gegensatz zu den übrigen Schweizer Städten war die Parteinahme in Basel gemischt.»

Einen tiefen Graben gab es im 1. Weltkrieg auch zwischen der Deutschschweiz und der Romandie. Vom Denken her scheint Basel irgendwo dazwischen gewesen zu sein.

Auch in Basel bestand dieser Gegensatz – er wurde aber nur in den privaten Netzwerken ausgetragen, wo es von dem einen oder der anderen hiess, er sei fanatisch deutschfreundlich oder sie unglaublich franzosenfreundlich. Gerade im Daig gab es einige Familien, die wegen ihrer Familiengeschichte nach Frankreich orientiert waren, Sandoz zum Beispiel. Dann gab es die Universitätsprofessoren, die in der Regel klar deutschfreundlich waren. Im Gegensatz zu den übrigen Schweizer Städten war die Parteinahme also gemischt. Darum hielten sich die meisten in der Öffentlichkeit zurück, um innerstädtischen Zwist zu vermeiden.

Welche Rolle spielte die Nähe zum Elsass?

Basel erlebte in nächster Nähe eindrücklich, welche Folgen der deutsch-französische Gegensatz hatte: Mal deutsch, dann französisch, dann wieder deutsch, wurde das Elsass in seiner Identität immer wieder neu definiert und dabei förmlich zerrieben. Das bekamen die Basler sehr genau mit, weil es in dieser Zeit immer noch viele Kontakte über die Grenze gab.

Mit Beginn des 1. Weltkrieges wurde dieser Austausch jäh gestoppt. Und bis heute ist er nicht mehr wirklich in Gang gekommen – warum?

Das ist eine grosse Frage. Ich würde sagen: Weil der 1. Weltkrieg in allen Ländern eine nationalistische Abwehrmentalität schuf, die den Ausländer zum potenziell Verdächtigen machte. Der 2. Weltkrieg verstärkte diese Haltung noch. Das wirkt bis heute nach, auch wenn wir jetzt erleben, wie die regionalen Grenzbeziehungen wieder revitalisiert werden, mit den Trams zum Beispiel, die wieder nach St-Louis und Weil fahren sollen.

Würden Sie sagen, dass die Region Basel in dieser Beziehung vor 1914 weiter war als heute?

In regionaler Hinsicht: ja. Man konnte ohne Pass ein- und ausreisen. Basel war das Zentrum einer ganzen Region und hatte im Elsass und Südbaden seine Rekrutierungsbasis für die Arbeitskräfte.

«In Basel wurden 6000 Männer für den Grenzschutz mobilisiert, ohne dass sie dafür einen Lohnersatz erhalten hätten.»

Stark verbessert hat sich hingegen seither die Stellung der Frau.

Ich bezeichne das als den eigentlichen sozialpolitischen Skandal der Schweizer Politik im 1. Weltkrieg. In Basel wurden 6000 Männer für den Grenzschutz mobilisiert und damit von zu Hause abgezogen, ohne dass sie dafür einen Lohnersatz erhalten hätten. So verloren zahlreiche Familien auf einen Schlag ihren Ernährer, so dass sie auf die kärgliche Nothilfe angewiesen waren, deren Bezug mit Schamgefühlen verbunden war. Und auch wenn die Soldaten aus dem Dienst wieder zurückkamen, hatten sie häufig Mühe, eine Stelle zu finden.

Warum das?

Die Arbeitgeber stellten lieber Leute ein, die nicht schon nach drei Monaten wieder weg waren, weil sie zum nächsten Dienst einrücken mussten. Für die Arbeiterbevölkerung war das eine katastrophale Situation, die vor allem die Frauen ausbaden mussten. Es sind einige Briefe von Frauen an die Front überliefert, in denen sie sich darüber beklagten, dass ihr Mann nicht mehr Sold nach Hause schickt. Aber was sollte der auch machen – mit 80 Rappen Sold pro Tag? Dafür bekam er ein, zwei Bier. Und das war ihm wohl zu gönnen bei dem ganzen Drill und der Langeweile, die er im Dienst über sich ergehen lassen musste.

Dieser «Skandal», wie Sie es nennen, führte zu sozialen Spannungen. Gegen Ende des Krieges hatte das Bürgertum darum auch in der Schweiz Angst vor einer Revolution. Zu Recht?

In der Forschung ist es heute weitgehend unbestritten, dass selbst der Landesstreik von 1918 keine revolutionäre Komponente hatte. Natürlich gab es auch hier junge Militante, die die Russische Revolution bejubelten und entsprechende Parolen verbreiteten. Für den Grossteil der Arbeiterschaft war die Russische Revolution aber höchstens ein Mutmacher, der zeigte, dass sich im Kampf gegen die soziale Ungerechtigkeit etwas erreichen liess. Ihre Forderungen waren nicht mehr und nicht weniger als eine Reformagenda für das 20. Jahrhundert: die Proporzwahl auch auf eidgenössischer Ebene, das Frauenstimmrecht, Sozialversicherungen wie AHV und IV.

Warum war die Schweizer Arbeiterschaft weniger revolutionär als die in Russland oder jene im benachbarten Deutschland und Frankreich?

Einerseits musste die Schweizer Arbeiterschaft nicht die katastrophale Erfahrung machen, in einen enorm verlustreichen Krieg gezwungen zu werden, der ihr mehr und mehr sinnlos vorkommen musste. Andererseits gab es in der Schweiz mehr Ventile für den grassierenden Unmut. Das politische System war demokratischer und die Wirtschaft kleinräumiger. An der Spitze der kleineren und mittleren Unternehmen standen durchaus auch Patrons, die sich für ihre Arbeiter verantwortlich fühlten und bei Problemen bereit waren, einvernehmliche Lösungen zu suchen. In grösseren Industrien war dagegen auch die Entfremdung grösser und die Arbeiterschaft entsprechend militanter.

«Basel war vor dem 1. Weltkrieg eine richtige Belle-Epoque-Stadt, die sich für die Moderne begeisterte – zumindest vordergründig.»

Schauen wir noch etwas weiter zurück, auf die Zeit vor dem 1. Weltkrieg. Was war Basel damals für eine Stadt?

Basel wuchs nach 1880 extrem schnell zu einer Grossstadt mit über 100’000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Die Zuwanderung war enorm und entsprechend rege wurde auch gebaut. Basel war eine richtige Belle-Epoque-Stadt, die sich für die Moderne begeisterte, für die neuen Möglichkeiten, die das grossstädtische Leben den Menschen bot – zumindest vordergründig.

Und dahinter?

Unter der Oberfläche brodelte es, weil die vielen Arbeiter, die beigezogen wurden, um der Stadt zu ihren neuen Errungenschaften zu verhelfen, selbst nicht davon profitierten. Sie fristeten ein kärgliches Leben nahe am Existenzminimum. Mit dem Mangel im 1. Weltkrieg verschärfte sich dieser Gegensatz zwischen Arm und Reich noch. Basel war damals eine geteilte Stadt.

Politisch gab sich Basel aber auch vor dem 1. Weltkrieg gerne offen.

Schon. Basel unternahm Anstrengungen, um die «Assimilation», wie man es damals nannte, zu fördern. Erstens wurde die Aufnahme ins Bürgerrecht erleichtert, zweitens wurden die Kirchen gleichgestellt. Vorher mussten auch die Katholiken Steuern für die reformierte Kirche zahlen. Mit dieser Ungleichbehandlung war nun Schluss, so dass sich die häufig katholischen Zuwanderer auch kirchlich besser aufgenommen fühlten. Und dann gab es noch eine dritte Neuerung – die wahrscheinlich wichtigste: Die Einführung des Proporzwahlrechts, die dazu führte, dass die Sozialdemokratie 1914 zwei Regierungssitze innehatte, was ihr die Möglichkeit gab, die Sozialpolitik voranzutreiben.

«Ein Historiker sollte nie irgendwelche Prognosen machen.»

Welche sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Lehren, welche die Schweiz aus dem Krieg zog?

Diese innere Zerrissenheit wollte man keinesfalls nochmals erleben. Darum wurde die Kriegsvorsorge verbessert, ein Lohnersatz für die Soldaten eingeführt und ganz allgemein dafür gesorgt, dass die Landesverteidigung zu Beginn des 2. Weltkrieges nicht mehr so desolat dastand wie 1914. Gerade in der chemischen Industrie entstand, wenn auch langsam und mit Rückschlägen, die Bereitschaft, sozialpartnerschaftliche Lösungen anzustreben.

Sie äussern sich vergleichsweise freundlich über die kleinräumige Schweiz und ihr damaliges wirtschaftliches und vor allem politisches System und dafür umso kritischer über die Eliten. Was bedeutet das für das heutige Europa?

Ein Historiker sollte nie irgendwelche Prognosen machen, weil es in einer Gesellschaft immer wieder überraschende Kippmomente gibt, die ganz verschieden ausgehen können. Darum wiederholt sich Geschichte nie. Und darum kann ich Ihnen diese Frage als Historiker auch nicht beantworten. Ich kann Ihnen höchstens sagen, dass ich als Privatmann auf den Erfolg des europäischen Projekts hoffe, ich aber nur an das Gelingen glaube, wenn die kleinräumigeren Systeme wie die Regionen und die Nationen eine eigene Lebensfähigkeit erhalten. Diese Kleinräumigkeit stärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl und schafft Identität, auch mit einem grösseren Ganzen.


Robert Labhardt (* 1947) ist Historiker und Dozent für Geschichtsdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz. Soeben ist im Christoph Merian Verlag sein Buch «Krieg und Krise – Basel 1914–1918» erschienen. Erstmals wird die Situation der Grenzstadt im 1. Weltkrieg anschaulich dargestellt und historisch interpretiert: die Panik bei Kriegsausbruch, die Versorgungsprobleme der Stadt, das humanitäre Engagement bürgerlicher Kreise sowie die Konfrontation zwischen Arbeiterschaft und Bürgerwehren.

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