Und wieder ein neues Jugendwort gelernt. Ich treffe Ardiana, Ali und Berfim in einem lauschigen Café zum Gespräch. Ob sie etwas trinken wollen? «Auf deinen Nacken?», will Ali wissen. Ich nicke zögerlich, blicke ihn fragend an. «Das heisst, du bezahlst.» Ach so. Ja klar, auf meinen Nacken.
Ardiana Shala ist gerade noch 22 Jahre alt, schliesst in diesen Tagen die Abschlussprüfungen der Passerelle ab und will im Herbst ihr Studium beginnen, Medizin oder Biologie.
Ali Yilmaz, 24, sucht nach einer abgebrochenen Lehre einen Praktikumsplatz und will mit einem Abendkurs die Matur nachholen.
Die 28-jährige Berfim Pala unterrichtet neben ihrem Studium als Sekundarlehrerin Hauswirtschaft und Deutsch. 2016 hat sie auf der SP-Liste für den Grossen Rat kandidiert.
Alle drei sind hier aufgewachsen, die beiden jungen Frauen besitzen einen Schweizer Pass. Ardianas Eltern sind aus dem Kosovo in die Schweiz geflüchtet, die Eltern von Ali und Berfim sind türkische Kurden.
Kennengelernt habe ich die drei Secondos bei einem Audio-Walk durchs Iselinquartier. Alle drei haben bei diesem Theaterprojekt mitgespielt und den Zuschauern einen kurzen Einblick in ihre Lebenswelt gewährt. Alle drei haben mich mit ihrem selbstbewussten Auftritt beeindruckt. Ich wollte mehr wissen, sie besser kennenlernen. Deshalb geht der Kaffee heute auf mich.
Euer Quartier wird im Audio-Walk als ein Ort am Rande der Gesellschaft dargestellt. Hat sich das für euch so angefühlt beim Aufwachsen?
Ardiana: Überhaupt nicht. Aber mir war auch lange nicht bewusst, dass unser Quartier irgendwie speziell sein könnte. Bei mir im Haus hatte es viele alte Menschen, auch viele Schweizer. In unserer Schule hatte es schon mehr Ausländer als Schweizer, aber ich war mir das halt so gewohnt.
Ali: In unserem Quartier ist die Durchmischung vielleicht sichtbarer. Ich hoffe, wir konnten im Stück zeigen, dass das funktionieren kann. Dass ganz viele verschiedene Kulturen nebeneinander und miteinander auskommen können.
Berfim: Ich kann mich nicht erinnern, dass es in meiner Klasse überhaupt Schweizer hatte.
Ardiana: Am Isaak-Iselin-Schulhaus hatte es immer eine Musikklasse, da waren die ganzen Schweizer drin. In allen anderen Klassen waren fast nur Ausländer. Es war eindrücklich, wie viel weniger Schüler ans Gymi gegangen sind aus den Klassen mit hohem Ausländeranteil. Bei mir waren es gerade mal drei aus einer Klasse. Die Musikklasse hingegen ging fast geschlossen ans Gymnasium.
Berfim: Es gibt da auch Studien, wir hatten letztes Jahr eine Vorlesung dazu. Kinder mit Migrationshintergrund gehen mit geringerer Wahrscheinlichkeit ans Gymi. Weil die Lehrer davon ausgehen, dass diese Kinder zu Hause nicht über die nötigen Ressourcen verfügen, um auf die Prüfungen zu lernen. Diesen Kindern wird also bei gleicher Leistung weniger zugetraut, weil sie aus sogenannt bildungsfernen Haushalten kommen.
War das bei dir auch so?
Berfim: Ja, dabei haben meine Eltern beide studiert. In dieser Schlussfolgerung steckt ein grosser Fehler. Sie ignoriert, dass solche Kinder vielleicht bessere individuelle Ressourcen mitbringen. Gerade weil sie von ihren Eltern in schulischen Dingen keine Unterstützung erfahren, wissen sie sich selbst zu helfen.
Ali: Auch aus meiner Klasse gingen nur Schweizer ans Gymi. Manche Kollegen hatten gute Noten, ich auch, aber uns wurden aufgrund der Sozialnote Punkte abgezogen. Weil wir halt manchmal nicht so gut aufgepasst oder Blödsinn gemacht haben.
«Ein Lehrer sagte, ich würde nie eine Lehrstelle finden. Und falls doch, werde er dafür sorgen, dass ich sie wieder verliere.»
Sozialnote?
Ali: Da gehts darum, wie man sich im Unterricht verhält. Ob man gut zuhört und ob man Widerworte gibt. Ich war halt mehr der kreative Typ, ruhig dasitzen, das war nicht so mein Ding. Aber trotzdem hatte ich gute Noten. Mir kommt das unfair vor, denn damit wird einem Schüler auch ein Stück weit die Zukunft verbaut. Ein Lehrer hat zu mir gesagt, dass ich niemals eine Lehrstelle finden würde. Und falls doch, würde er dafür sorgen, dass ich sie wieder verliere. Darüber lachen meine Kollegen heute noch. Doch eigentlich ist es traurig, wenn ein Lehrer so mit einem Schüler spricht. Natürlich bin ich auch selber schuld, aber ein Lehrer sollte doch ein wenig mehr Feingefühl besitzen.
Berfim: Als Kind mit Migrationshintergrund musst du einfach kämpfen.
Ali: Ich kann mir vorstellen, dass solche Erlebnisse bei jungen Menschen ein auffälliges Verhalten noch verstärken. Wenn dir ein Lehrer so was ins Gesicht sagt, dann macht dich das doch nicht zum Musterschüler. Du wirst noch viel mehr zum Störenfried. Du gibst dir noch weniger Mühe.
Ardiana: Wer Kinder abstempelt, bewirkt das Gegenteil von dem, was er will. Ich habe das gemerkt, als ich ein Praktikum im Jugi Neubad und Bachgraben gemacht habe. Wenn ein Kind blöd tut und du es zusammenscheisst, wird es nur schlimmer. Wenn du das Kind aber zur Seite nimmst und fragst, was denn mit ihm los sei, dann fühlt es sich wahrgenommen.
Berfim: Ich bin auch manchmal streng zu meinen Schülern. Dann erkläre ich ihnen immer, dass ich nicht sie als Person anprangere, sondern ihr Verhalten. Sie sollen wissen, dass sie mir alle am Herzen liegen. Das Schlimmste, was man tun kann, ist einen Schüler wegen seiner Person auszuschliessen. Dann fühlt er sich nicht mehr zugehörig. Als Lehrerin muss ich jedem meiner Schüler das Gefühl geben, für ihn da zu sein. Das ist so wichtig, mir hat das damals in der Schulzeit gefehlt.
«Ich bin nie gerne zur Schule gegangen. Und jetzt bin ich Lehrerin geworden.»
Berfim, du hast vorhin gesagt, wer einen Migrationshintergrund habe, müsse kämpfen. Was meinst du damit?
Berfim: Ich bin zum Beispiel nicht direkt nach der OS ins Gymi gekommen. Die Lehrer meinten, dass ich eine super E-Schülerin sei und später immer noch ans Gymnasium gehen könne. Meine Mutter hat sich sehr eingesetzt und ein Internat gesucht für mich. Dort habe ich während eineinhalb Jahren meine Noten aufgebessert, und danach bin ich ans Gymi gegangen. Bei meinem Bruder wars ganz ähnlich. Seine Lehrer wollten ihn in eine Kleinklasse schicken, jetzt studiert er Medizin. Das wäre ohne meine Mutter nicht möglich gewesen. So sind wir wieder beim Bildungsstand der Eltern.
Was hat der Bildungsstand damit zu tun?
Berfim: Man muss wissen, wo man sich Unterstützung holen kann. Es gibt so viele Institutionen hier, die helfen können. Dieses Wissen fehlt vielen. Als Kind denkst du halt, dass es dein Lehrer eh besser weiss. Ich bin nie gerne zur Schule gegangen. Und jetzt bin ich Lehrerin geworden (lacht).
Um es selbst besser machen zu können?
Berfim: Während meiner Jugend habe ich gemerkt, wie wichtig es in dieser prägenden Zeit ist, gute Lehrer zu haben. Meine Lehrer haben nie an mich geglaubt. Lehrer können so viel bewirken, im Positiven und im Negativen. Wenns bei mir in der Politik nicht klappt, habe ich wenigstens die Gewissheit, ein paar kritisch denkende Kinder in die Welt entlassen zu haben. Das ist dann mein Beitrag an die Gesellschaft. Es ist ein dankbarer Job und man kann viel bewirken.
Ardiana, wie hast du während deinem Praktikum im Jugi die Kinder und Jugendlichen aus dem Quartier erlebt?
Ardiana: Die Schule war ein Dauerthema. Viele Kinder haben gesagt, sie würden es hassen, dorthin zu gehen. Ich habe ihnen dann erzählt, wie ich im 4. Gymi geflogen bin. Was das für ein grosser Zusatzaufwand für mich gewesen sei, doch noch den Abschluss zu machen. Und dass ich mir wünschte, mich vorher mehr angestrengt zu haben. Oft sind auch die Kollegen das Problem – vielleicht finden sie gute Noten uncool. Und manche Kinder lassen sich davon beeinflussen. Ich habe allen gesagt: «Du bist ganz alleine verantwortlich für deine Zukunft. Streber sein ist cool.» Einmal kam einer frisch aus dem Knast. Der war stinksauer, warf Zeug durch die Gegend. Ich bin mit ihm raus, habe versucht, ihn zu beruhigen. Da hat er Vertrauen zu mir gefasst. Irgendwann fragte er mich, warum denn niemand sehe, wie schlecht es ihm gehe. Ich habe gesagt: Du musst dir Hilfe holen. Es hilft schon viel, wenn man da ist für diese jungen Menschen. Wenn man seine Arme offen hält und jeden ernst nimmt.
Du bist auf Stellensuche, Ali. Hast du das Gefühl, dass du es schwerer hast als Gleichaltrige ohne Migrationshintergrund?
Ali: Mit dem Migrationshintergrund hat es gar nicht so viel zu tun. Ich bin eben einfach meinen Weg gegangen. Nach der Schule wusste ich nicht, was ich anfangen soll und habe mich selbst zu einer Lehre gedrängt, die ich gar nicht wirklich wollte. Das konnte nicht funktionieren, nach einem halben Jahr brach ich ab. Hätte ich es damals besser gewusst, hätte ich sicher eine andere Einstellung gehabt. Niemand sollte eine Lehre anfangen, wenn er keine Lust auf diese Arbeit hat. Das kann jedem passieren.
«Schweizer finden mein perfektes Deutsch super. Türken lachen mich für mein gebrochenes Türkisch aus.»
Ihr seid alle drei hier zur Welt gekommen und bezeichnet die Schweiz als eure Heimat. Und trotzdem habe ich den Eindruck, ihr fühlt euch als Ausländer.
Berfim: Mir fehlt dieses vollkommene Zugehörigkeitsgefühl, und zwar in beide Richtungen. Als Seconda fühle ich mich immer zwischen Stuhl und Bank. Seitdem ich den Schweizer Pass habe, fühle ich mich hier stärker zugehörig. Weil ich endlich auch die Vorzüge geniessen kann. Davor habe ich für jeden Seich ein Visum benötigt.
Ali: Wenn manche Schweizer hören, dass ich perfekt Deutsch spreche und Basel als meine Heimat betrachte, dann finden sie das super. Dann klopfen sie mir auf die Schulter und loben mich. Wahrscheinlich denken sie: Brav, ein integrierter Türke. Und wenn ich Türken antreffe und mit ihnen mein gebrochenes Türkisch spreche, dann lachen sie mich aus. Beides ist doch irgendwie traurig.
Berfim: Mich stört es, dass immer von Integration die Rede ist. Niemand spricht von Inklusion. Integration heisst, dass sich der eine dem anderen anpassen muss. Inklusion ist ein Recht. Du bist nicht anders, du hast einfach andere Vorzüge. Warum haben wir diese Zweiklassengesellschaft? Die einen gehören hierhin und die anderen haben grundsätzlich ein Defizit und müssen sich anpassen, um irgendwann als integriert zu gelten. Das ist doch unmenschlich. Klar sollte man die Sprache lernen und sich etwas Wissen zur Kultur aneignen. Das bringt jedem persönlich etwas, weil man nur so seinen Platz finden und sich wohlfühlen kann. Ich war zwei Wochen in Nicaragua und kann nicht Spanisch. Ständig nur «una cerveza por favor», da kommt man sich doch irgendwann blöd vor. Ich musste an meine Eltern denken, die in die Schweiz gekommen sind, ohne Deutsch zu können. Wie haben die das geschafft? Das ist schon krass.
Ardiana: Ich wurde von meinen Ausländerfreunden oft ausgelacht, weil ich so gut Deutsch spreche und nicht das gebrochene Schweizerdeutsch meiner Kollegen. Sie fanden das übertrieben. Aber mir war es wichtig. Es ist doch schön, wenn man sich gut ausdrücken kann.
Wie wichtig ist euch die Kultur eurer Eltern. Pflegt ihr eure Wurzeln?
Ali: Es ist ein Leben zwischen zwei Welten. Es geht darum zu erkennen, wann es nötig ist, sich in welche Welt einzufügen. Wenn zum Beispiel jemand aus der Familie stirbt, während den Trauertagen, muss ich die Gepflogenheiten befolgen, mein Beileid bekunden und den Trauernden die Hände küssen. Dann kann ich natürlich nicht in den Ausgang gehen und die Sau rauslassen. Ich respektiere meine Eltern und das bedeutet, dass ich mich zu Hause manchmal auch an ihre Kultur anpasse.
Ardiana: Als ich jünger war, habe ich recht stark rebelliert, wenn meine Eltern irgendetwas von mir erwartet haben. Etwa wenn ältere Verwandte zu Besuch kamen und ich nicht mit meinen Freunden nach draussen konnte. Aber ich habe realisiert, dass es für sie wichtig ist und mir nichts entgeht, wenn ich die paar Mal pro Jahr zu Hause bleibe. Am Anfang konnten meine Kollegen das nicht verstehen. Ich kann mich da aber inzwischen recht gut abgrenzen und erkläre jedem, den es interessiert, sehr gerne unsere Kultur.
Ali: Solange kein Zwang besteht, ist es doch völlig okay, für ein paar Tage pro Jahr die individuelle Freiheit, die wir hier geniessen, zurückzustellen.
Ardiana: Ich habe früher auch oft gesagt, ich sei keine Albanerin, sondern Schweizerin. Wenn wir Besuch aus dem Kosovo hatten, bin ich meistens weggegangen. Voll schlimm, meine armen Eltern. Irgendwann habe ich erkannt, dass das nicht fair ist. Sie machen alles für mich, sie lieben mich über alles. Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, dass es ihnen gar nicht darum geht, mir irgendwelche Freiheiten zu nehmen, sondern, dass sie halt mit diesen Werten aufgewachsen sind und es sie traurig macht, wenn ich mich querstelle. Heute trage ich diese Kultur und die Werte mit Stolz in mir.
Berfim: Ich war immer ein ziemlicher Rebell. Meine Mutter ist recht locker drauf, mein Vater hingegen ist eher streng. Aber ich bin trotzdem schon mit 16 in den Ausgang, damals oft auch zusammen mit meiner Mutter, weil sie mich begleiten wollte. Das war unser Kompromiss. Eigentlich konnte ich fast immer tun, was ich wollte. Die Vertrauensbasis war da. Wir sind jetzt auch nicht super traditionell aufgewachsen. Die Verbindung zu meinen kurdischen Wurzeln spüre ich vor allem auf politischer Ebene. Diesen ständigen Kampf, das habe ich mitbekommen und das hat mich auch geprägt.
Ali: Bei mir mussten vor allem meine Schwestern kämpfen. Sie haben sich beide durchgesetzt und sind nach Zürich abgehauen, um dort studieren zu können. Erst dann wurden meine Eltern lockerer. Ich hatte eine ganz andere Kindheit als meine Schwestern.
Und das hatte nichts damit zu tun, dass du ein Junge warst?
Ali: Nein, das war einfach weil ich der Jüngste war. Ich hatte schon auch meine Pflichten, musste beispielsweise immer einkaufen gehen. Aber ansonsten genoss ich grosse Freiheiten.
«Klar gibt es auch Enttäuschungen. Aber mich nervt es, wenn jemand eine Opferhaltung einnimmt.»
Berfim: Ich bin vor Kurzem zu Hause ausgezogen, in eine WG in der Innenstadt. Da hat mich mein Vater auch gefragt, warum ich jetzt ausziehe. Traditionellerweise zieht man als Kurdin erst aus, wenn man heiratet. Krass ist es, wenn wir in der Türkei sind. Mein Onkel hat mal gesagt, ich soll doch T-Shirt und Shorts anbehalten zum Schwimmen, statt im Bikini ins Meer zu gehen. Aber meine Eltern nahmen mich in Schutz.
Gibt es auch zu viel Identifikation mit der alten Heimat? Stichwort Parallelgesellschaften.
Berfim: Einige Bekannte haben sich ihre eigene kleine Welt geschaffen. Sie leben zwar in der Schweiz, haben mit dem Land aber fast nichts zu tun. Und mein Onkel lebt die traditionellen Werte heute stärker, als er das zu Hause in der Türkei je getan hat. Sie suchen Halt in dieser Nostalgie, während sie vieles in der Schweiz verunsichert.
Könnte das auch daran liegen, dass solche Menschen hier viele Enttäuschungen erfahren haben?
Berfim: Klar gibt es auch Enttäuschungen. Aber mich nervt es, wenn jemand eine Opferhaltung einnimmt. Hilf dir doch selber! Ich bin auch aus dem Gymi geflogen. Klar ist das unschön, aber man kann sich auch wieder aufraffen. Natürlich sind die Bedingungen nicht immer fair. Aber es gibt einen Spielraum, du kannst selber beeinflussen, was aus dir wird.
«Uns lässt inzwischen so vieles kalt. Wir lesen die Zeitung, weg. Wir hören Radio, weg. Wir schauen die Nachrichten, weg.»
Wir haben jetzt lange über Benachteiligungen und Hindernisse gesprochen. Haben diese Erfahrungen ein Engagement in euch geweckt?
Berfim: Ich habe für den Grossen Rat kandidiert. Ich habe mich über das System aufgeregt und irgendwann dachte ich, jetzt motz doch nicht immer rum, sondern unternimm etwas. Dann habe ich mich bei der SP angemeldet und alles ging sehr schnell, sodass ich dann auf der Wahlliste stand. Die ersten Erfahrungen in der Partei waren aber auch ernüchternd. Da kommt man an, voller Idealismus, will die Welt verbessern und dann braucht es so viel mehr als nur eine Meinung. Man muss andere Menschen finden, die gleich denken, man muss Mehrheiten zustande bringen und auch einen konstruktiven Dialog zu «Andersdenkenden» aufbauen. Das ist super anstrengend und man braucht viel Geduld. Als Neuling in einer so grossen Partei wird man vielleicht auch nicht von allen ernst genommen, weil man die Abläufe noch nicht so genau kennt oder sich nicht an die Gepflogenheiten hält. Viele Politiker kommen mir auch so vor, als hätten sie sich mit der Welt und ihren Ungerechtigkeiten abgefunden. Warum müssen wir uns so oft für das kleinere Übel entscheiden?
Ardiana: So viele Menschen verschliessen ihre Augen vor Ungerechtigkeiten oder sie gehen mit Scheuklappen durch die Welt. Meine Art dagegen anzukämpfen ist es, solche Menschen anzusprechen und mit ihnen zu diskutieren. Egal was passiert, der Austausch muss doch aufrechterhalten werden. Vor ein paar Jahren hat mich mal eine junge Syrerin auf der Strasse angesprochen, sie fragte: Darf ich mit dir reden? Ich sagte Ja, und sie ist weinend zusammengebrochen: Du bist seit einem Jahr der erste Mensch, der mit mir redet. In den nächsten zwei Stunden hat sie mir ihre ganze Geschichte erzählt. Mehr wollte sie gar nicht. Das ist so wertvoll. Uns lässt inzwischen so vieles kalt. Wir lesen die Zeitung, weg. Wir hören Radio, weg. Wir schauen die Nachrichten, weg. Dabei denken wir gar nicht darüber nach, wie es den Menschen geht, die von diesen News persönlich betroffen sind. Ich versuche dies im kleinen Rahmen anders zu machen.
Ali: Ich habe mich entschlossen, Primarlehrer zu werden. Wenn man den Kindern eine gute Schulzeit ermöglicht, bringt das so viel für die Zukunft. Vielleicht kann ich etwas von meinem Schwung an die Kleinen weitergeben. Ich habe mir auch schon überlegt, mich politisch zu engagieren. Aber wie Berfim sagt, diese Arbeit erfordert sehr viel Geduld und man muss auf vieles Rücksicht nehmen. Da kann ich als Lehrer einen besseren Beitrag leisten.
Letzte Frage: Was wünscht ihr euch für euch selbst in 10 Jahren?
Berfim: Ich wünsche mir, mein Studium erfolgreich abzuschliessen und in einem Land zu arbeiten, wo dringend Lehrer gebraucht werden. Am besten irgendwo am Meer.
Ardiana: Ich möchte einen guten Abschluss machen. Und dann möchte ich genügend Geld verdienen, sodass ich mir Ferien leisten und meine Eltern unterstützen kann. Viel reisen und irgendwann mal eine Weile auf einem Kreuzfahrtschiff arbeiten.
Ali: Ich will wieder in die Arbeitswelt hineinkommen. Und nach meiner Ausbildung will ich mich irgendwo engagieren, wo meine Hilfe benötigt wird.