Seit 100 Jahren wird in Basel Ethnologie gelehrt. Ein Gespräch mit Professor Till Förster über das Ende des «Fremden», wie die Globalisierung das Fach verändert und welche Rolle Themen wie Ebola dabei spielen.
Herr Förster, das Fach der Ethnologie an der Universität Basel wird 100 Jahre alt. Was bedeutet das konkret?
Das Institut selber wurde nicht vor hundert Jahren gegründet, vielmehr feiern wir das Jubiläum der Lehre der Ethnologie in Basel: Damals kam Felix Speiser mit einem Doktorat aus Berlin hier an, und war damit der erste professionelle, akademische Ethnologe, der hier gearbeitet hat: erst am Museum der Kulturen und dann auch mit einem Lehrauftrag hier an der Universität. Das Institut entstand erst später, 1963, aus der Zusammenarbeit zwischen Universität und Museum heraus.
Wie feiern Sie dieses Jubiläum?
Wir haben eine jährliche Vorlesungsreihe lanciert, die am 31. Oktober mit einem renommierten Professor von der Harvard Divinity School startet. Der Gast hat einen äusserst prominenten Namen: Er heisst Michael Jackson (lacht). Aber dieser Michael Jackson ist lebendig und ein ausgewiesener Phänomenologe. Er hat unter anderem sehr einfühlsam über die Folgen des Kriegs in Sierra Leone gearbeitet, sich aber auch theoretisch mit der Zukunft des Fachs auseinandergesetzt.
Till Förster
hat den Lehrstuhl für Ethnologie an der Universität Basel seit dem Jahr 2001 inne. Er brachte damals sozusagen Afrika in die Basler Ethnologie: Mit seiner Ankunft verschob sich der Fokus des Studienfachs von Melanesien und Ozeanien auf den afrikanischen Kontinent. Seine Werke und Interessen sind sehr vielseitig. Seine Forschungsschwerpunkte sind visuelle Kultur und politische Transformation, regional vor allem Westafrika, er hat jedoch auch über Arbeit in Afrika und zahlreiche weitere Themen geschrieben.Wie hat sich das Fach seit seiner Ankunft in Basel gewandelt?
Vor hundert Jahren war es noch eine koloniale Wissenschaft, die ihren Gegenstand entsprechend definierte: Das waren die «Wilden», mit denen man vor allem zu tun hatte, weil man sich über die ganze Welt ausgedehnt hatte und der Kolonialismus sie zu einem Teil des eigenen Herrschaftsgebiets machte. Heute ist das anders, heute werden Menschen aus und in diesen Teilen der Welt nicht mehr als Objekte wahrgenommen, die man studiert und über die man etwas schreibt, sondern sie sind Zeitgenossen geworden. Das Verhältnis zwischen der Ethnologie und ihrem Gegenstand hat sich also gewandelt. Heute ist die Ethnologie sehr an der Gegenwart interessiert, daher werden auch «fremde» Gesellschaften nicht mehr getrennt von der eigenen Gesellschaft angeschaut, sondern als grundsätzlich mit ihr verwoben betrachtet.
Wann fand dieses Umdenken statt?
Der Wandel ist auf die 1970er-Jahre zurückzuführen. Man kann sagen, dass sich die Ethnologie damals entkolonialisert hat und man allmählich begann, die Unterscheidung zwischen «Wir» und den «Anderen» aufzugeben.
Aber doch geht sie, mehr als andere Sozialwissenschaften, davon aus, dass es das «Andere» gibt…
Ja, an dieser Stelle hat sich die Ethnologie von ihrem kolonialen Erbe verabschiedet und es zugleich neu formuliert. Die Ethnologie geht immer davon aus, dass man Andere als «Andere» anders sieht, als sie sich selbst sehen. Das heisst, aus der Spannung der verschiedenen Perspektiven wird ein eigener Erkenntnisgewinn. Anders als die Soziologie oder die Geschichte, die zuerst über die eigene Gesellschaft nachdenken, ist für die Ethnologie die Auseinandersetzung mit dem Fremden konstituierend. Wenn man eine Gesellschaft von aussen betrachtet, können Erkenntnisse gewonnen werden, die Mitglieder der eigenen Gesellschaft nicht haben.
Sie sprechen davon, dass die Perspektive von Anderen auf einen selbst erhellend ist. Wäre es für unsere westlichen Gesellschaften also zuträglich, wenn es das Umgekehrte auch gäbe?
Ja, das gibt es ja auch. Es gab schon in den 1980er-Jahren ein von der EU gefördertes Programm, bei dem Ethnologen aus verschiedenen Teilen Afrikas eingeladen wurden, in Europa Feldforschung zu machen. Eine Dissertation, die dabei entstand, behandelte zum Beispiel das Verhältnis zwischen Kölnern und ihren Dackeln. Das Problem ist oft einfach die Finanzierung solcher Projekte: Zum Beispiel hat Burkina Faso in Westafrika einen Staatshaushalt, dessen Jahresbudget zirka 40mal kleiner ist als das Budget von Volkswagen. Forschungsprojekte, die in solchen Ländern finanziert werden, müssen meist nachweislich der Entwicklung dienen und mit einem konkreten Nutzen für die Gesellschaft verbunden sein.
Geht mit der Globalisierung das «Fremde» und somit der Gegenstand der Ethnologie zunehmend verloren?
Nein, ich gehe davon aus, dass es das Fremde immer geben wird, und dass die Auseinandersetzung mit dem Fremden in Zukunft eher wichtiger wird. Denn die Globalisierung hat dazu geführt, dass das, was früher «fremd» und weit weg war, plötzlich ganz nah ist. Da ist eine ethnologische Perspektive oft sehr hilfreich, auch in der Vermittlung. In der heutigen Zeit mischen sich Identitäten nicht nur, sondern neue Identitäten werden gebildet, sodass man nie davon ausgehen kann, dass die Globalisierung zu einer Homogenisierung der ganzen Welt führt. Davon ist man zwar früher ausgegangen, die These hat sich aber nicht bewahrheitet.
Globale Entwicklungen haben einen laufenden Einfluss auf das Fach und dessen Fokus. Was bedeutet Ebola für die Ethnologie?
Ich bin zwar kein Medizinethnologe, aber Westafrika ist mein Kerngebiet. Ich bin auch gerade eben von dort zurückgekommen. Neben der Medizinethnologie, die sich mit solchen Fragen ganz konkret auseinandersetzt, gibt es andere mit solchen Epidemien verbundene Phänomene, die man in den Blick nehmen kann, und die anderen Sozialwissenschaften oft entgehen. Wenn man sich zum Beispiel die Landkarte von Guinea, Liberia oder Sierra Leone anschaut, gibt es dort Gebiete, in denen keine Ebola-Fälle auftauchen. Hier fragen wir uns als Ethnologen, wie es kommt, dass bestimmte Räume innerhalb eines solchen Landes davon freibleiben. Oft ist es so, dass die Leute aktiv versuchen, sich sichere Räume zu schaffen, in denen sie nicht so viele Interaktionen haben. Das ist aber kein medizinethnologisches Problem, sondern eines, das eher unter die Theorien zur Bildung von sozialen Räumen fällt. Das ist etwas, was wir in Zukunft näher untersuchen wollen. Wir sind dabei, dazu einen Forschungsantrag zu stellen.
«Wenn man sich zum Beispiel die Landkarte von Guinea, Liberia oder Sierra Leone anschaut, gibt es dort Gebiete, in denen keine Ebola-Fälle auftauchen.»
Was halten Sie als Ethnologe von der medialen Berichterstattung rund um das Thema Ebola?
Die Berichterstattung ist sehr euro- oder besser gesagt nord-zentristisch: Es gab einen Fall von Ebola und zwei Ansteckungen in den USA, eine weitere in Spanien – seitdem ist Ebola in jeder Nachrichtensendung vertreten. Als vorher Hunderte und Tausende in Sierra Leone und Liberia starben, wurde dies keineswegs mit derselben Aufmerksamkeit bedacht. Aber natürlich sind Menschenleben dort unten genauso viel Wert wie anderswo in der Welt! Ein weiterer Trugschluss ist, dass man dieses Problem irgendwie ausgrenzen kann: Dieses Problem wird sich nicht in den USA oder in Europa lösen lassen, dazu muss man tatsächlich nach Westafrika gehen. Nicht, wie ich es heute früh in den Nachrichten gehört habe, wo die amerikanischen Republikaner den Vorstoss gemacht haben, die Einreise aus Sierra Leone, Guinea und Liberia in die USA zu verbieten. Das ist schlicht und einfach absurd, man kann nicht ganze Länder unter Quarantäne stellen.
In den westlichen Medien werden oft die schrecklichen sanitären Bedingungen in den betroffenen Ländern und die abergläubische Haltung der Bevölkerung für die Epidemie verantwortlich gemacht. Aus ethnologischer Perspektive: Weshalb hat sich der Virus gerade in diesen Ländern so schnell ausgebreitet?
Natürlich haben manche lokale Praktiken, wie etwa die Art, die Toten zu waschen, zur Verbreitung des Virus beigetragen. Aber vor allem hat es damit zu tun, dass die Leute kein Vertrauen in staatliche und internationale Institutionen haben und sich deswegen von Gesundheitsdiensten nicht helfen lassen.
«Es ist kein Zufall, dass in allen drei von Ebola betroffenen Ländern zuvor gewalttätige Konflikte stattfanden.»
Worin wurzelt dieses Misstrauen?
Das liegt an der sozialen Realität in diesen Ländern: Meiner Meinung nach ist es kein Zufall, dass in allen drei Ländern zuvor gewalttätige Konflikte stattfanden. Vor allem Sierra Leone und Liberia haben zwei der blutigsten Bürgerkriege der letzten beiden Jahrzehnte durchmachen müssen, mit Grausamkeiten, die einfach unbeschreiblich sind. Die extremen Reaktionen auf externe Hilfe – bis hin zu Mord gegenüber Hilfskräften – kann man eigentlich nur dadurch erklären, dass sozusagen habituell jedem misstraut wird, der im Rahmen einer Intervention in einer fremden Umgebung auftaucht: Im Bürgerkrieg wurde oft die Erfahrung gemacht, dass hinter Menschen, die sich als «Helfer» ausgaben, etwas völlig anderes steckte. Hier in Europa würden wir im Fall einer Epidemie darauf vertrauen, dass die Gesundheitsdienste auch tatsächlich für uns da sind. In den hauptsächlich betroffenen Ländern ist vor dem Hintergrund der Kriege das Vertrauen in staatliche Institutionen und internationale NGOs weitgehend verloren gegangen. Es geht also nicht um Aberglaube, sondern um etwas ganz anderes.
Ein weiteres allgegenwärtiges Thema von ethnologischem Interesse ist die Migration.
Ja, die Migration ist sicher eine der grossen Herausforderungen der Ethnologie, darüber wird auch Michael Jackson am 31. Oktober referieren. Den Umgang von westlichen Ländern mit den Menschen, die es tatsächlich bis zu uns schaffen, finde ich skandalös! Manchmal schäme ich mich dafür, wenn afrikanische Kollegen mich auf die Art und Weise ansprechen, wie Europa versucht, sich zu einer Festung auszubauen.
Wie «schlimm» steht es um die aktuelle Migrationssituation wirklich?
Wenn man sich mit historischen Migrationsbewegungen, etwa den Völkerwanderungen, befasst, scheint das, was heute passiert, ziemlich unbedeutend… Ja, so gross sind diese Migrationsbewegungen, die hier bei uns ankommen, gar nicht, das wäre also vor allem eine Frage des Managements. Wenn man sich anschaut, wo die Massen tatsächlich sind, und wo wirklich solche Wanderströme stattgefunden haben, dann war das vor allem aus Bürgerkriegsländern in die Nachbarländer. Das sind dann schon Hunderttausende oder gar Millionen – während das, was bei uns ankommt, sich im Tausenderbereich bewegt. Und wenn man da ganz Europa nimmt, mit seinen 500 Millionen Einwohnern dann ist das, sagen wir mal, erträglich. Aber es schlägt sich auch auf die Schweiz nieder. Die sich nun einmal im Herzen Europas befindet. Und schlussendlich auch nicht richtig leugnen kann, dass sie Teil Europas ist.
«Wenn man sich mit historischen Migrationsbewegungen befasst, scheint das, was heute passiert, ziemlich unbedeutend…»
Die ethnologische Forschung wurde lange Zeit im ruralen Raum verortet – der klassische Forschungsaufenthalt bestand aus einer mehrmonatigen Feldforschung in einem abgelegenen Dorf. Heute wird zunehmend in Städten geforscht. Woran liegt das?
Das hat auch wieder mit der Veränderung von Lebenswelten zu tun. Die Städte im globalen Süden explodieren, Afrika ist heute weltweit der sich am schnellsten urbanisierende Kontinent. In sechs Jahren wird auch in Afrika die Mehrheit der Bevölkerung im urbanen Raum wohnen. Die Stadt und das Land sind heute im afrikanischen Kontext so eng miteinander verwoben, dass das eine nicht ohne das andere betrachtet werden kann. Dies gilt auch wieder im Hinblick auf die Migration: Die Städte wachsen und wachsen, nicht zuletzt wegen der grossen Anzahl ruraler Migranten.
Führt in Afrika eine Migration in die Stadt wirklich zu einer Verbesserung der Lebensverhältnisse?
Nicht zwingend, viele landen in einem Slum mit fataler Infrastruktur, kontaminiertem Boden und einer desaströsen Hygiene, während sie auf dem Land vergleichsweise gesund lebten. Wenn ich persönlich wählen müsste, wo ich in Afrika arm sein müsste, würde ich eindeutig das Land wählen. Die Anziehungskraft der afrikanischen Städte auf rurale Migranten hat wenig mit den tatsächlichen wirtschaftlichen Anreizen zu tun – Hoffnungen und Illusionen spielen hingegen eine wichtige Rolle. Dieses Verhältnis zwischen Stadt und Land genauer zu betrachten halte ich für extrem wichtig, auch um zu schauen, inwiefern afrikanische Städte überhaupt ein wirtschaftlicher Motor für ihre Länder sein können oder ob sie sie nur ausbeuten.
«Die Städte im globalen Süden explodieren, Afrika ist heute weltweit der sich am schnellsten urbanisierende Kontinent.»
Trauern Sie als «Ethnologe der alten Schule» der früheren Form der Ethnologie nach?
Nein – wie auch das Fach selbst, bin ich mit der Zeit gegangen: Früher forschte ich auf dem Land, heute in der Stadt. Aber ich wünsche mir, dass trotz neuen, oft urbanen Forschungsgebieten, die Methode der Langzeit-Feldforschung nicht verloren geht. Bei einer solchen Forschung verbringt ein Ethnologe mehrere Monate, in der Regel ein Jahr oder mehr, in einer anderen Gesellschaft und eignet sich die Sprache, aber auch andere Lebensaspekte dieser Kultur an. In der Ethnologie spricht man von einer zweiten Sozialisation. Ich halte diese Methode für sehr wertvoll: Eine profunde Kenntnis des Anderen als Alternative zum eigenen Leben setzt auch voraus, dass man sich in eine andere Gesellschaft integriert hat. Dadurch, dass man sich eine solche alternative Lebensweise aneignet, ist man wiederum fähig, die Spezifizität der eigenen Gesellschaft überhaupt zu erkennen.
Wie ist der Stand der Ethnologie in Basel – bis vor Kurzem war noch die Rede von einer Zusammenlegung des Fachs mit der Kulturanthropologie…?
Die Ethnologie in Basel steht an einem sehr guten Punkt, die Zusammenlegung ist nun zum Glück aus der Welt. Zudem gibt es eine erfreuliche Entwicklung, die dem Fach Aufwind gibt: Es soll ein neuer interdisziplinärer Master-Studiengang entstehen unter dem Titel «Urban and Landscapes Studies», hier ist eine von vier Professuren eine ethnologische. Dies ist für uns eine enorme Bereicherung. Wer diese Professur übernehmen wird, weiss ich noch nicht, aber ich freue mich sehr auf die Zusammenarbeit. Es ist erfreulich, dass die Ethnologie innerhalb der Universität Anerkennung findet. Für die Zukunft würde ich mir wünschen, dass der wichtige Beitrag, den wir leisten, auch in der Gesellschaft ankommt. Da wir über ferne Regionen forschen, werden wir oft nicht richtig wahrgenommen – dabei sind ethnologische Anliegen hochaktuell.
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Die Veranstaltungsreise zum 100. Jubiläum startet am 31. Oktober – das Programm in der Übersicht.