Ein Vorkämpfer der «europäischen Demokratie»

Ingrid Pepperle arbeitet seit vielen Jahren an der Herausgabe der Schriften von Georg Herwegh (1817–1875). Im Interview sagt sie, worin für sie die Bedeutung des in Liestal begrabenen Dichters und Republikaners und der Nutzen der Edition liegen.

Ingrid Pepperle in Berlin – hier zusammen mit den Mitherausgebern Heinz Pepperle (links) und Hendrik Stein – arbeitet seit Jahren mit grossem Engagement an der Herausgabe von Georg Herweghs Werken. (Bild: Hendrik Stein)

Ingrid Pepperle arbeitet seit vielen Jahren an der Herausgabe der Schriften von Georg Herwegh (1817–1875). Im Interview sagt sie, worin für sie die Bedeutung des in Liestal begrabenen Dichters und Republikaners und der Nutzen der Edition liegen.

Alles begann damit, dass der während des Zweiten Weltkriegs in Seltisberg (BL) interniert deutsche Antifaschist Bruno Kaiser den im Liestaler Rathaus gelagerten Nachlass von Georg Herwegh (1817–1875) ordnete und katalogisierte. Dabei handelt es sich um umfangreiches Quellenmaterial: Manuskripte und Briefe von und an Herwegh – darunter ein Schreiben Bakunins –, aber auch Tagebücher von Herweghs Frau Emma.

Diese Dokumente waren von Marcel Herwegh nach der Errichtung des Herwegh-Denkmals im Jahr 1904 der Stadt Liestal geschenkt worden. Dabei hegte er die Erwartung, das Liestal für seinen Vater, der 1875 hier seine letzte Ruhestätte gefunden hatte, ein Museum stiften würde. Dies sollte allerdings erst 1946 der Fall sein.

1947 kehrte Bruno Kaiser nach Deutschland zurück und leitete von 1949 bis 1972 in Berlin die Bibliothek des Instituts für Marxismus-Leninismus der SED. 1948 hatte er unter dem Titel «Der Freiheit eine Gasse» Herweghs Leben und Schaffen mit zeitgenössischen Quellen und einer Sammlung  schon veröffentlichter und unveröffentlichter Gedichte und Prosatexte vorgestellt.

Damit war für ihn das Thema Herwegh aber noch lange nicht erledigt. Er bemühte sich an der Akademie der Wissenschaften der DDR um eine Arbeitsstelle für eine Werkausgabe des Dichters. Ein Vorhaben, das sich als viel komplizierter erwies als ursprünglich erwartet, wie Ingrid Pepperle, damals Kaisers Assistentin, es erlebte.

Frau Pepperle, Sie – und eine Reihe anderer Wissenschaftler, so auch Ihr Mann Heinz Pepperle – haben Jahre, ja Jahrzehnte in die Edition der Schriften Georg Herweghs gesteckt. Wo liegt für Sie der spezielle Reiz dieser Arbeit?

Mein Mann als Philosophiehistoriker und ich haben uns früh einen speziellen Forschungsgegenstand gesucht, das war der deutsche Vormärz und im weiteren Sinne das 19. Jahrhundert überhaupt. In dem ganzen Zeitraum ist Herwegh eine namhafte Persönlichkeit, aber mit einer Eigenheit, der man bald gewahr wird. Er ist zweifellos der umstrittenste Poet und Schriftsteller der ganzen Periode. Sicher sind bei der Auseinandersetzung um Bedeutung und Würdigung Motive im Spiel, die es immer geben wird, wie unterschiedliche politische Standpunkte und so weiter. Andererseits darf aber auch nicht verkannt werden, dass die erste Voraussetzung einer versachlichten und zielführenden Debatte eine solide Literaturgrundlage ist, die in Bezug auf Herwegh lange Zeit nicht vorhanden war. Darum dieser Einsatz für eine historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe des Dichters mit den bekannten Kriterien: Vollständigkeit, Rückgriff auf die Handschriften, diplomatisch getreuer Text, wissenschaftlicher Kommentar.

Und worin besteht für Sie das Besondere am Republikaner und Publizisten Herwegh? Hat er uns auch heute noch etwas zu sagen?

Sicher ist das ein weites Feld. Das für mich Wichtige vielleicht zunächst in drei Punkten: Zuerst ist da ein Charakterzug des Dichters und Gesellschaftskritikers Herwegh, der seinen früh erarbeiteten Standpunkt ein Leben lang konsequent durchhält, und zwar ohne Rücksicht auf wandelnde Umstände oder Folgen, die sich daraus für seine Person ergeben. Seine Lebensmaxime könnte lauten: Um nichts in der Welt eine Akkomodation an bestehende Verhältnisse.

«Du bist im ruhmgekrönten Morden das erste Land geworden, Germania mir graut vor Dir.»

Zum andern hat er vorwiegend als politischer Lyriker sich mit den «Gedichten eines Lebendigen» schon 1844 die fulminante Kritik des bedeutenden Ästhetikers Friedrich Theodor Vischer zugezogen, welcher der politischen Lyrik zwar Gesinnung zubilligte, aber die ästhetische Qualität bestritt, und so die Grundlage für eine Auseinandersetzung legte, die bis heute aktuell ist. Denken Sie nur an das jüngste Gedicht von Günther Grass und wie es aufgenommen wurde.

Der dritte Gesichtspunkt erscheint mir der entscheidende. Der konsequente Republikaner Herwegh hatte frühzeitig erkannt, dass die demokratische Lebensform weder vollkommen noch ungefährdet ist, solange sie auf einer gesellschaftlichen Basis ruht, in der grosse soziale Gegensätze und Spannungen bestehen. Diese Einsicht führte dazu, dass Herweghs Schrifttum schon im Vormärz bestimmte sozialdemokratische Züge trug und er nach 1848 den Anschluss an die sich organisierende Arbeiterbewegung fand.

Sie begannen Ihre Arbeit an der Herwegh-Edition zu DDR-Zeiten. Wie stand man von offizieller Seite dem Vorhaben gegenüber?

Die Herwegh-Edition unter Leitung Bruno Kaisers war zu Ende der 1950er- und zu Beginn der 1960er-Jahre eine gut ausgestattete Arbeitsstelle und eines von mehreren Forschungsvorhaben der Germanisten an der Akademie. In diesen Jahren wurde eine umfangreiche Arbeit geleistet und ein Archiv aufgebaut.

Durch die Ungunst der Zeitumstände kam die Ausgabe damals nicht zustande, weil nach 1961 mit zunehmender Abgrenzung der DDR von der Bundesrepublik die Mitarbeiter die Archive aufgrund der Reisebeschränkungen und fehlender Devisen nicht mehr aufsuchen konnten.

Ich übernahm andere Aufgaben, besonders in der Erforschung der junghegelianischen Bewegung, sammelte und sichtete aber weiterhin Material für eine Herwegh-Monographie, deren erster Teil als Habilitation 1989 verteidigt wurde. In dieser Zeit begann ich auch wieder, an der Herwegh-Ausgabe zu arbeiten.

Mit dem Ende der DDR fehlte plötzlich der institutionelle Rahmen für das Editionsvorhaben. Keine einfache Situation, insbesondere wenn man sich klarmacht, dass Sie in Berlin leben und ein Teil des Herwegh-Nachlasses in Liestal ist…

Das war sicher eine schwierige Zeit. Ich kam an die Freie Universität in Berlin und habe seitdem diese Edition neben der Lehrtätigkeit, zeitweilig mit einer Arbeitsbeschaffungsmassnahme-Arbeitsstelle, weiterbetrieben. Unterstützung für Archivaufenthalte etc. erhielt ich unter anderem von der Stiftung Pro Helvetia, von der Freien Universität und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, allerdings zeitlich begrenzt. Seit 2001 führen wir zusammen mit Hendrik Stein die Arbeit ohne Förderung weiter und haben das grosse Glück, dass auch der Aisthesis Verlag die Ausgabe mit eigenen Mitteln herausgibt.

Die Ausgabe ist auf sechs Bände angelegt, davon liegen inzwischen vier vor. Als Erster erschien im Jahr 2005 Band 5 (Briefe 1832–1848). Zwei Bände mit frühen Prosaschriften und Gedichten nach 1848 stehen noch aus. Dieses Jahr ist ein Band mit Prosatexten aus den Jahren 1849 bis 1875 erschienen. Werfen dessen Nach-1848-Texte ein neues Licht auf Herwegh?

Ja, diesen Texten kommt sogar eine besondere Bedeutung zu, und zwar in zweierlei Hinsicht. Einmal widerlegen sie das vielfach wiederholte Klischee, das sogar Franz Mehring bemühte: Herwegh habe im Vormärz einen kurzen Frühling mit seinen «Gedichten eines Lebendigen» gehabt, dem kein Dichtersommer folgte. Wer auch nur flüchtig einen Blick in die drei Bände aus der zweiten Lebenshälfte wirft, wird sich fragen, wie ein solches Urteil möglich war.

Zudem findet sich in ihnen etwas, das für mich immer das Beeindruckende an Herwegh war: seine politische Weitsicht. Herwegh hat im Scheitern der Revolution von 1848 ein grosses Unglück für Deutschland gesehen. Und er ahnte auch die Folgen. Die Einigung, die durch eine Volkserhebung und auf demokratischer Grundlage nicht zu erreichen war, kam nun als Reichseinigung von oben, eine Einigung unter der Vorherrschaft Preussens und im Gefolge dreier blutiger Kriege. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Umgeben von einem Taumel von Hurrapatriotismus, in den leider auch seine Dichterkollegen fast ausnahmslos einstimmten, schrieb er in einem seiner Gedichte aus dem Jahre 1871 – um nur ein Beispiel zu nennen: «Du bist im ruhmgekrönten Morden das erste Land geworden, Germania mir graut vor Dir.» Im Lichte der Erfahrung mit dem Geist des wilhelminischen Kaiserreiches, der geistig-moralischen und materiellen Verwüstung Europas im Ersten Weltkrieg und des davon wieder nicht zu lösenden Faschismus wird man in einem solchem Vers einen tiefen Sinn erblicken.

Das 19. Jahrhundert war ein Jahrhundert der Nationalstaaten und des Nationalismus. Herwegh ist in Württemberg geboren, hat in Zürich, in Paris und bei Baden-Baden gelebt und ist in Liestal begraben. War er im Grunde seines Herzens ein Bürger Europas?

Zweifellos, obwohl der Begriff vom «Europäer», «dem guten Europäer» meines  Erachtens zu Herweghs Zeiten noch nicht gebräuchlich ist. Aber er war Internationalist, Kosmopolit, Weltbürger, ein Vorkämpfer der «europäischen Demokratie» dieser Begriff wurde von ihm häufig gebraucht.

Einer seiner markanten Sätze lautet: «Nationalität trennt, Freiheit verbindet.» In diesem Sinne war er dem im 19. Jahrhundert aufkommenden Nationalismus und Chauvinismus ein erbitterter Gegner, der zum Beispiel auch einer solchen Erscheinung wie dem entstehenden Panslawismus unmittelbar eine schroffe Abfuhr erteilte. Mit dieser Orientierung wollte er sich dabei nicht in Gegensatz zu einem richtig verstandenem Patriotismus setzen, denn er war gleichzeitig ein Streiter für das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das ohne Patrioten nicht zu verwirklichen ist.

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