Der ehemalige Techno-Punker von The KLF macht wieder Musik, allerdings nur in seinem Kopf. Wie daraus der Schweizer Dokumentarfilm «Imagine Waking Up Tomorrow And All Music Has Disappeared» wurde, erzählt er auf einem Spaziergang in Zürich.
Bill Drummond kann vollendet schweigen. Nicht unhöflich, aber bestimmt. Er sitzt im Restaurant eines Zürcher Zweisternehotels und frühstückt zu Ende, während ich selbst – überpünktlich – eine Tasse Tee mittrinke. English Breakfast.
Ich möchte Bill Drummond fragen, wie er den Wechsel vom hyperventilierenden Musikbusiness zur Konzeptkunst vor über 20 Jahren verkraftet hat und ob sein Leitfaden «How to Have A Number One the Easy Way» immer noch gültig ist.
Der Schriftsteller, Maler und Ex-Musiker gehört zu den umtriebigsten Querköpfen der britischen Kunstszene, der sich und seine Acid-House-Kultband The KLF 1992 unter (harmlosem) Maschinengewehrgeknatter aus dem Showbusiness freischoss, um danach sämtliche Aufführungsrechte an seiner eigenen Musik zu löschen.
Der 62-jährige Schotte in Jeans, mit farbverkleckerten Schuhen und einem blauen Daumennagel ist unübersehbar ein Mann der Tat, der die Dinge selbst in die Hand nimmt. Für die Promotionstour zu Stefan Schwieterts Dokumentarfilm über Drummonds neustes Projekt bedeutet das für die Medien: keine Tonbandaufnahmen, keine Floskeln. Stattdessen geht er mit den Journalisten spazieren und stellt selbst Fragen. Ein Rollentausch also, der so ganz nach dem subversiven Geschmack des Künstlers ist und verdeutlicht, worum es Drummond geht: um Erfahren, Loslassen und Erinnern. Auch auf die Gefahr hin, dass das Ergebnis chaotisch wird.
«Ich finde mich in dieser Stadt einfach nicht zurecht», sagt er wenig später, als wir uns auf den Weg zum Volkshaus machen. Der Hochnebel liegt schwer wie ein Deckel auf den Dächern. «Normalerweise orientiere ich mich an der Sonne, wo Norden und Süden sind.»
Drummond möchte wissen, wer ich bin, was mich umtreibt. Ich erzähle ihm, dass ich zeichne. Drummond, der die Kunstschule abgebrochen hat, sagt: «Ich kann nur zeichnen, was ich vor mir sehe. Aus dem Gedächtnis geht gar nichts.»
Selbstmord in elf Jahren
Nachdem er sich im Restaurant einen Kaffee bestellt hat, legt Drummond ein zur Hälfte gefülltes Notizbuch auf den Tisch. «Damit beschäftige ich mich zurzeit.» «Bill Drummond – A Novel by Tenzing Scott Brown» steht auf der ersten Seite. Die Geschichte handelt im Jahr 2026, wenn Brown so alt ist wie sein Grossvater, der beim Rasenmähen umkippte und starb. Im Buch wird der fiktive Drummond Selbstmord begangen haben, während sein alter Ego Brown, ein Privatdetektiv, die Umstände dieses Suizids aufklären soll.
Ein Genrestoff also, der aber nicht den «Noir»-Regeln folgt. «Ich kenne mich damit eigentlich gar nicht aus. Raymond Chandlers Krimi «The Long Goodbye» zum Beispiel habe ich nie gelesen.» Doch steckt im Missachten der Konventionen nicht der gleiche Ansatz, mit dem er früher Musik machte? Ist Drummond noch derselbe Punk, der vor laufender Kamera eine Million Pfund verbrannt hat? «Keine Ahnung», erwidert der Schotte, der sich nichts aus absoluten Antworten macht, und fügt später hinzu: «Aber man kann sich nicht das ganze Leben lang gegen alles auflehnen.»
Ausser vielleicht gegen die Gewissheit, dass die eigene Lebensspanne begrenzt ist. «Ich war 17, als ich während einer Busfahrt aus dem Fenster blickte, mein Gesicht spiegelte sich darin», erzählt er. Es ist eines der Stichworte, die er sich für unser Gespräch in seinem Buch notiert hat. «Ich dachte plötzlich an die 700’000 britischen Soldaten, die im Ersten Weltkrieg in den Schützengräben gestorben sind. Und ich dachte: Von jetzt an zählt jeder Augenblick.»
Drummond hat seine Zeit vielfältig genutzt: Er war Schreiner, Milchmann, Gärtner und Kulissenmaler, bevor ihn Mitte 30 mit The KLF der Weltruhm einholte – zu Drummonds Verblüffung. «Ich fand es immer richtig, dass Rockstars mit vier Alben und 27 Jahren sterben, weil danach die Energie aufgebraucht ist oder die Chemie in der Band nicht mehr stimmt.»
Wikinger auf dem Rücksitz
Ist es denn wenigstens eine Erleichterung, etwas erschaffen zu haben, das für so viele Menschen wichtig und deshalb von bleibendem Wert ist? Drummond bestellt sich einen zweiten Kaffee. Die Bedeutung von aufgenommener Musik sei am Schwinden, erwidert er. Und dann sprechen wir endlich über den Grund, der Drummond in die Schweiz geführt hat: Stefan Schwieterts inspirierender Dokumentarfilm mit dem sperrigen Titel «Imagine Waking Up Tomorrow And All Music Has Disappeared», der am Festival Visions du Réel in Nyon 2015 als Bester Schweizer Dokumentarfilm ausgezeichnet wurde.
Darin begleitet der in Therwil aufgewachsene Schwietert («Heimatklänge») Drummond bei seinem Versuch, einen archaischen Chor nachzustellen, den dieser sich bei einer Fahrt im Land Rover erdachte: ein vielstimmiges Röhren, das minutenlang ohne Melodie und Rhythmus anschwillt, als sässe eine Horde Wikinger auf dem Rücksitz. Drummond erklärt seine Sehnsucht nach den brachialen Klängen mit der allgegenwärtigen Verfügbarkeit von Musik. «Heute spielt sich alles darauf ab», sagt er und zückt sein Smartphone. Im Dokumentarfilm reist Drummond deshalb durch Grossbritannien und bittet Fabrikarbeiter, Schulkinder oder Nonnen, ihm ein paar Töne vorzusingen, die er zu einem Chor schichtet, einmal hört – und dann löscht.
«Manchmal versuche ich mir vorzustellen, wie die heutige Untergrundmusik klingen könnte», sagt Drummond. Er selbst hört kaum mehr Musik, und an grossen Namen auf grossen Bühnen ist er nicht interessiert. Jetzt also wäre der Augenblick, um Drummond zu seiner spektakulär abgebrochenen Musikkarriere zu befragen, aber er ist ein so einnehmender Gesprächspartner, dass ich die Frage schlicht vergessen habe.
«In den Augen meiner Tochter bin ich so etwas wie Bob Geldof – oder Bono!»
Stattdessen will ich wissen, wie ihm der fertige Film gefällt. «Nach der ersten Vorführung war ich schockiert», erwidert Drummond. «Mir war zwar schon irgendwie klar, dass ich im Film vorkommen würde, aber ich hatte ihn aus meiner Perspektive erwartet, als wären meine Augen die Kamera. Dabei bin ich ständig im Bild.» Trotzdem erkennt er sich im Film nicht wieder, es ist ein fiktiver Bill Drummond, der da auftritt, ein Konstrukt wie in seinem Buch. Erkennt der Sohn eines protestantischen Pfarrers wenigstens das Sendungsbewusstsein wieder, das auf der Leinwand durchdrückt?
«Der männliche, weisse, westliche Erlöser-Komplex.» Drummond nickt. Den Vorwurf kennt er von seiner Tochter (er hat sieben Kinder von vier Müttern, das jüngste ist drei Jahre alt). «Meine Tochter würde sich diesen Film niemals anschauen, weil sie nicht akzeptiert, was ich mache. Ich lebe in einem multiethnischen Quartier von London, und wenn ich mit dem pakistanischen Ladenbesitzer plaudere, findet sie das nur peinlich. In ihren Augen bin ich so etwas wie Bob Geldof – oder Bono!» Die Vorstellung bereitet ihm sichtliches Vergnügen. «Aber ich bin nun mal männlich, weiss und westlich. Und wenn meine Söhne ‹Grand Theft Auto› spielen, sage ich: Geht raus, klaut von mir aus ein Auto. Aber tut etwas!» So ähnlich versteht er auch seine Rolle im Film, in dem er sein Publikum zum Selbermachen anleitet.
Suppe in Basel
(Bild: © Bill Drummond / Foto: Tracey Moberley)
Wir haben die verabredete Gesprächsdauer um eine Viertelstunde überzogen, als wir zahlen. Ob ich den Weg allein zum Bahnhof zurückfinde, fragt Drummond den ortsunkundigen Basler noch, bevor er mit langen Schritten davoneilt.
Nächste Woche wird Drummond wieder in der Schweiz sein, diesmal inoffiziell. Er wird einer Einladung zum Suppekochen nach Basel folgen, wie er das regelmässig an allen möglichen Orten auf der Welt tut, um mit Fremden einen netten Abend zu verbringen. Er wird vielleicht ein paar Fragen vorbereiten, er wird Zwiebeln schneiden und dabei Tränen in den Augen haben. Und er wird versuchen, jeden Augenblick auszukosten. Bill Drummond kann nicht anders.
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«Imagine Waking Up Tomorrow And All Music Has Disappeared» läuft ab Donnerstag in den Basler Kultkinos.