«Es gibt heute keine Spinner mehr»

Regisseur Werner Düggelin über seine letzte Inszenierung in Basel, seine wilde Zeit als Intendant in den 1968er-Jahren und die Krise des heutigen Theaters.

Regisseur Werner Düggelin über seine letzte Inszenierung in Basel, seine wilde Zeit als Intendant in den 1968er-Jahren und die Krise des heutigen Theaters.

Wer Werner Düggelin zum ­Gespräch treffen will, braucht Geduld. Der grosse alte Mann des Schweizer Theaters gibt nicht gerne Interviews. Die TagesWoche wartete ­Wochen auf den Termin. Doch einmal in Düggelins Basler Wohnung kommt man kaum mehr los: Nach zwei intensiven Gesprächsstunden will «Dügg» die Journalisten «auf keinen Fall» ­gehen lassen, bevor nicht eine Flasche Bordeaux geköpft worden ist – um 16 Uhr…

Der bald 82-Jährige zählt nicht nur zu den wichtigsten deutschsprachigen Regisseuren der vergangenen sechs Jahr­zehnte, er ist auch ein leiden­schaft­­licher Geniesser und Kunstsammler: Gemälde und Fotografien, wohin man blickt; sogar im Badezimmer hängt Kunstwerk an Kunstwerk. Und dann die Rose auf dem Fenstersims: «Riechen Sie mal!», schwärmt der leiden­schaft­liche Blumenzüchter.

Wir treffen Düggelin vor seiner ­letzten Inszenierung in Basel: «Die ­Unterrichtsstunde» von Eugène ­Ionesco (Pre­miere: 14. November, Kleine Bühne) – ein Stück über die Macht der Sprache. Ionesco (1909–1994) und Düggelin waren alte Weg­gefährten; sie hatten sich in den 1950er-Jahren im Pariser Kreis der Avantgarde um Samuel Beckett kennengelernt. Und natür­lich dreht sich das Gespräch auch um Düggelins legendäre Zeit als Basler Theaterdirektor – und um die heutige Theaterkrise.

Erinnern Sie sich noch, wie der FC Basel im Schweizer Cup gegen den Zweitligisten FC Eschenbach gespielt hat?

Keine Ahnung. ­Der FC Basel hat sicher gewonnen. Aber der FC Basel interessiert mich nicht mehr so sehr.

Das war einmal anders. Zu Ihrer Zeit als Direktor des Theaters Basel, zwischen 1968 und 1975, waren Sie ein echter FCB-Fan.

Die ganze Geschichte mit mir und dem FC Basel war sehr personalisiert, sie hing mit der Person des damaligen Trainers Helmut Benthaus zusammen. Er kam zu mir auf die Probe, und ich durfte mich zu ihm auf die Trainerbank setzen. Heute bin ich Fan von Borussia Dortmund, neben Barcelona meine Lieblingsmannschaft.

Woher kommt eigentlich Ihre Liebe zum Fussball?

Ich erinnere mich an ein Spiel des FC Bayern. Damals war Franz Beckenbauer noch mit dabei. Ich fragte Bent­haus: «Wieso spielt der so gut? Warum ist der so viel besser als andere?» Er antwortete: «Weisst du, der hat auch hinten noch zwei Augen.» Ich fand dies eine geniale Formulierung für ­einen guten Fussballer. Auch beim FC Barcelona scheinen die Spieler ­immer bereits vorher zu wissen, wo die anderen Mitspieler sein werden, wenn sie angespielt werden. Das ist hohe Fussballkunst!

Und hat auch etwas Theatra­lisches.

Ich würde es beim Fussball belassen.

Der FCB ist in Basel das gesellschaftliche Ereignis. Auf der ­Zuschauertribüne sind jeweils fast alle Regierungsräte der ­beiden Basel anzutreffen.

Ich weiss, mehr als im Theater (lacht).

Sie haben damals auch marketingmässig vom FC Basel profitiert und mit dem FCB-Trainer Helmut Benthaus eine gemeinsame Lotterie aus der Taufe gehoben. Wie ist es denn dazu gekommen?

Wir handelten damals aus einer Not heraus. Unser kaufmännischer Direktor Adolf Zogg kam zu mir und sagte: «Hey Dügg, wir sind ein bisschen knapp dran mit Geld. Was können wir machen, um mehr Publikum ins Theater zu locken?» Daraufhin ging ich – wie immer – in die «Kunsthalle», traf dort den Benthaus und hatte plötzlich eine Idee. «Lass uns doch eine gemeinsame Lotterie organisieren», sagte ich zu Benthaus – und er willigte sofort ein, weil er ebenfalls Geld brauchte für seine Junioren. So ist das Ganze entstanden. Die Lotterie lief wie verrückt.

Vielleicht sollte Georges Delnon, der heutige Theaterdirektor, auch gemeinsame Sache mit dem FC Basel machen…

Ich weiss nicht, ob das heute noch klappen würde. Ich glaube, die Menschen haben damals mehr gesponnen, als sie dies heute tun – ich meine Spinnen im positiven Sinn.

Das Theater Basel steht vor einem Neubeginn: mit drei jungen Theatermachern, die das Schauspiel ab kommender Spielzeit leiten werden. Sie wollen das Theater ­dynamischer machen, mehr Junge anlocken. Was halten Sie davon?

Kennen Sie Theatermacher, die das nicht als Programm vorgeben?

In den letzten paar Jahren ist es dem Basler Schauspiel jedenfalls nicht gelungen, Aufsehen zu erregen – anders als etwa unter Frank Baum­bauer, der von 1988 bis 1993 Theaterdirektor war.

Nicht zu vergessen, dass Baumbauer auch ein tolles Ensemble hatte…

Damals wurde das Basler Schauspiel weit über die Grenzen hinaus wahrgenommen und ans Berliner Theatertreffen eingeladen…

Ja, wir waren auch ein paar Mal dort…

Dazu wollten wir gleich kommen: Auch unter Ihrer Leitung war das Basler Schauspiel eines der meistbeachteten im deutschsprachigen Raum. Was war Ihr Rezept?

Wir hatten das grosse Glück, dass wir in einer Zeit des Aufbruchs arbeiten durften, als man die Welt verändern wollte. Wir machten Theater in einer Zeit, in der es normal war, auf die Barrikaden zu steigen und zu polarisieren.

Das Theater Basel wusste aber auch noch weit nach 1968 zu polarisieren. Zuletzt zwischen 1996 und 2006, unter Michael Schindhelm und seinem Schauspielchef Stefan Bachmann.

Ich war kein Freund der Schindhelm-Zeit. Da war zu viel heisse Luft drin. Zu viel anything goes. Vielleicht haben Theaterleute heu­te ein anderes Vokabular, ein anderes Denken als früher. Heute steht das Quotendenken im Vordergrund. Das war zu Baumbauers Zeiten nicht so.

Die Bachmann-Crew schaffte es immerhin, junge Leute ins Theater zu bekommen, die jetzt nicht mehr kommen.

Junge Menschen mit Theater zu erreichen, ist schwierig. Man muss besondere Ideen entwickeln. Bachmann konnte das. Wir lockten die Jungen 1968 mit Rockmusikgrössen wie Yes oder The Nice ins Stadttheater.

Wie kamen Sie auf diese Idee?

Ganz einfach: Wir hatten in der zweiten Spielzeit ein leeres Haus, die alten Abonnenten kamen nicht mehr, die neuen waren noch nicht da. Es musste was passieren. Und es passierte vieles. Eine kleine Anekdote: Eine Rockband spielte zum ersten Mal überhaupt im gerammelt vollen Theatersaal, als die Feuerwehr zu mir kam und sagte, wir müssten das Konzert abbrechen – wegen den Hunderten von Zigaretten im Saal. Ich unterbrach den Auftritt und mahnte die Leute, sofort mit dem Rauchen aufzuhören – und sie taten es. Aber zurück: Das Ganze funktionierte. Die Jungen dachten sich wohl, wenn die so etwas zeigen, wollen wir doch sehen, was die sonst noch machen.

Wurden die jungen Leute wirklich regelmässige Theaterbesucher?

Ja. Ganz entscheidend war auch, dass wir nach fast jeder Vorstellung in der «Komödie» eine Publikumsdiskussion veranstalteten. Das mochten die Leute.

Und das ältere Publikum?

(lacht) Die hatten ihre Probleme mit uns. Wichtig war, dass wir mit dem neuen Kurs über die Landesgrenzen hinaus Erfolg hatten. Das war wie bei Hans Stucki mit seinem Restaurant Bruderholz: Als die Basler merkten, dass die Gäste von weit her anreisen, kamen sie auch. So war es bei uns: Als wir ans Berliner Theatertreffen eingeladen wurden, wollten plötzlich auch die Basler sehen, was wir da machen.

In der Ära Schindhelm wurde neues Publikum auch durch den «Club» im Entrée der «Komödie» angelockt – eine Art Mischung aus Bar und Theater. So wurde die Ausgehszene angesprochen. Ein möglicher Weg auch für die heutige Crew?

Das weiss ich nicht.

Wie bekamen Sie denn damals den Draht zum jungen Publikum?

Etwa mit den «Montagabenden». ­Eines Morgens las ich in der Zeitung, dass ein Herr Tobler wegen Dienst­verweigerung elf Monate Gefängnis aufgebrummt bekommen hatte. Ich beauftragte Erich Holliger, den Leiter der «Montagabend»-Reihe, die Prozessprotokolle zu beschaffen. Wir wollten das Programm einmal auf­führen – es wurden über 30 Abende! Das Besondere an den «Montagabenden» war, dass wir sofort zu einem ­Ereignis Stellung beziehen konnten.

Sich politisch einzumischen wäre dem Theater doch auch heute möglich?

Ja. Man muss als Regisseur etwas ­riskieren. Aber wir hatten damals auch viel span­nendere Gründe, uns einzumischen. Ich sage damit nicht, dass früher alles besser war. Aber ­damals war die Lust auf Veränderung grösser. Heute scheint mir alles etwas lethargischer.

Sind die Theatermacher also zu ängstlich und zu träge geworden?

Vielleicht. Der Kern erfolgreicher Theat­erarbeit ist, sich einzumischen. Und zwar in alles. Auch direkt. Ein Dramatiker braucht Jahre, um ein Ereignis wie «9/11» zu verarbeiten, bis daraus ein Stück entsteht. Das Theater kann aber auch auf anderem Weg rasch auf Ereignisse reagieren.

Das passiert aber nicht mehr, obwohl es in der jüngeren Vergangenheit genug politische Themen gab, die die Leute emotional beschäftigten. Die «Minarett-Initiative» zum Beispiel.

Oder der Wahnsinnige mit seinen Anschlägen in Norwegen. Aber ich will den Theatermachern gar nichts raten. Das sollen sie selber herausfinden.

Sie wurden in Basel verklagt, ­beschimpft, angegriffen und von einem grossen Teil des traditionellen Publikums verschmäht – dennoch sprechen heute fast alle Theaterfans ehrfürchtig von der «Ära Düggelin». Wie schafften Sie es, das Ganze durchzustehen?

Der Kritiker des «Doppelstabs» bezeichnete mich über sieben Jahre lang zweimal pro Woche als «Pornograf, Kommunist, als Jugendverderber». Ich reagierte einfach nicht darauf. Das ärgerte ihn natürlich fürchterlich (lacht).

Der «Doppelstab»-Kritiker war nicht der Einzige, der Sie angriff.

Natürlich nicht. Die Theatergenossenschaft wollte mich rausschmeissen, weil ich Armin Jordan als Musikchef einstellen wollte. Später wurde Jordan vergöttert. Ich hatte aber einen grossartigen Verwaltungsrat hinter mir. Das waren Leute, die mich politisch absicherten. Hans Hollmann inszenierte zum Beispiel eine «Macbeth»-Bearbeitung von Heiner Müller. Da gab es eine Szene mit einer Gewaltdarstellung, die dafür sorgte, dass die Komödie in anderthalb Minuten leer war. Tags darauf kam eine Abordnung des Verwaltungsrats zu mir mit der Bitte, diesen Regisseur nicht mehr einzusetzen. Ich sagte: «Das Problem ist, dass dieser bereits wieder am Proben ist.» Das wurde geschluckt. Ohne meine Equipe, ohne diesen Mut und unentwegtes Spinnen wäre das nicht gegangen.

Zeigt das Theater als Kunstgattung oder «Medium» unter vielen nicht auch ganz normale Abnützungserscheinungen? Kann das Theater heute überhaupt noch eine derart grosse gesellschaftliche Rolle spielen wie einst?

Wenn die Gesellschaft sich nicht mehr mit Themen auseinandersetzen möchte, die relevant sind, dann hat auch das Thea­ter Probleme. Wenn sich aus­sen nichts mehr bewegt, dann passt sich das Theater an. Aber ich möchte jetzt nicht den alten Mann mit den ­guten Ratschlägen spielen. Ich bin ja selber noch Lehrling.

Wie bitte?

Ich lerne noch immer.

Was denn?

Ich lese – zum Beispiel. Kennen Sie «Bouvard und Pécuchet» von Gustave Flaubert? Das ist eines der gigantischsten Bücher, die es gibt. Ohne Flaubert hätte es den Ausnahmedramatiker Samuel Beckett nicht gegeben.

In ihrer Pariser Lehrzeit in den 1950er-Jahren arbeiteten Sie mit Samuel Beckett, Eugène Ionesco, Roger Blin und vielen anderen berühmten Avantgardisten zusammen. Danach wurden Sie selber zu einem der gefragtesten Regisseure. Was wollen Sie noch lernen?

Damals sammelte ich Erfahrungen, lernte das Handwerk, beobachtete die Menschen und ihre Welt. Ich habe meine Neugierde behalten. Solange man neugierig ist, lernt man auch.

Heute arbeiten Sie unter anderem mit jungen Theaterleuten zusammen. Zum Beispiel mit der jungen Zürcher Dramatikerin Laura de Weck. Was gefällt Ihnen an ihr?

An ihr gar nichts (lacht). Spass beiseite: Mich fasziniert, wie sie Dialoge schreiben kann. Das Stück «Lieblingsmenschen» gefiel mir, weil ich die jungen Leute mochte, die darin vorkommen. Zudem war ich neugierig auf die Schauspieler. Ohne Neugierde geht nichts in diesem Geschäft, sonst wird man zum blöden, alten Regisseur.

Und die Neugierde nimmt nie ab?

Es gab in den 1980er-Jahren eine Zeit, in der ich keine Lust mehr auf Theater hatte. Das war, als sich das Zürcher Schauspielhaus – und nicht nur dieses – zum Beamtentheater entwickelte. Das war in meinen jungen Jahren als Regisseur ganz anders. Das Theater von damals war neugierig, suchte nach neuen, jungen Autoren, ging Risiken ein, war leidenschaftlich. Wir beschäftigten damals Autoren wie Heinrich Hen­kel, Dieter Forte, Friedrich Dürrenmatt, Jürg Steiner und andere, nicht immer bequeme Zeitgenossen.

Das Theater Basel hat nicht nur eine Formkrise im Schauspiel, es hat auch Finanzprobleme. Es hat im Februar die Abstimmung im Baselbiet und damit die Aussicht auf vier zusätzliche Subventionsmillionen verloren; Basel-Stadt gleicht nur eine Million aus.

Immerhin.

Sie verliessen 1975 das Haus, nachdem ­Ihnen eine Subventionserhöhung verweigert worden war.

Das war eine ganz spezielle Situation. Ich war immer gegen den Neubau des Theaters. Ich wusste, dass für das neue, grössere Haus mehr Mittel nötig waren. Als uns diese verweigert wurden, zog ich die Konsequenzen. Was mir und dem späteren SP-Präsidenten, Helmut Hubacher, der für die Vorlage gekämpft hatte, wehtat, war, dass die Nein-Stimmen vor allem aus dem ­linken Lager kamen. Und aus dem ­Lager der Büezer, für die wir Theater machen wollten.

Bereitet es Ihnen keine Sorgen, dass die Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr zum Theater steht?

Es ging immer nur ein kleiner Teil der Bevölkerung ins Theater.

Vielleicht ist das Modell des subventionierten Stadttheaters ein Auslaufmodell: 1968 war das Theater die kulturelle Leitinstitution. Heute ist das Kulturleben viel reichhaltiger. Das ändert doch auch die Rolle des Theaters?

Das Theater spielt immer die Rolle, die es spielen will. Das trifft aber nicht nur für das Theater zu. ­Früher war Basel die Kulturstadt der Schweiz – was das Theater, aber auch die Galerien und Museen betrifft. Heute müssen Sie nach Zürich reisen, wenn Sie eine gute Galerie besuchen möchten.

Aber trotzdem sind Sie nicht nur in Zürich, sondern auch in Basel daheim. Warum?

Es gefällt mir hier. Aber wenn ich nach Basel komme, dann eher, um mich ­aus­zuruhen. Arbeiten tue ich in Zürich.

Und manchmal auch in Basel: Sie inszenieren demnächst auf der Kleinen Bühne ein Ionesco-Stück.

Ja, ich inszeniere noch einmal in Basel. Danach arbeite ich am Schauspielhaus Zürich.

Sie haben Ionesco in Ihren Pariser Jahren kennengelernt und Stücke von ihm inszeniert. Jetzt kommen Sie Jahrzehnte später wieder auf ihn zurück: Nach «Die kahle Sängerin» vor zwei Jahren inszenieren Sie in dieser Spielzeit in Basel «Die Unterrichtsstunde». Schlagen Sie eine Art persönliche Brücke zurück zu Ihren Anfängen?

Ich habe diese Stücke gewählt, weil ich sie bis jetzt noch nie inszeniert und sie für mich wiederentdeckt habe. Ich habe von Ionesco bislang nur «Die Stühle» gemacht.

Und das ohne Stühle auf der Bühne, wie zu lesen war.

Das war ganz anders. Ich hatte Iones­co damals regelmässig im Zürcher ­Restaurant «Kronenhalle» getroffen. Er hatte eine faszinierende Eigenart: Er lief rot an, wenn er wütend wurde. Das gefiel mir. Ich sagte ihm, dass ich «Die Stühle» mache, «mais sans chaises» – damit er zornig und rot wurde (lacht). Mit Erfolg. Er lief rot an und sagte: «Dix chaises!» Und ich: «Bon, douze.» Und natürlich wurden es dann fünfzig (lacht).

Was fasziniert Sie nach so vielen Jahren noch immer so sehr an der Avantgarde der 1950er-Jahre?

Rückblickend auf die Zeit, als ich in Paris war, kann ich Ihnen, ohne viel nachzudenken, zehn grosse Dramatiker aufzählen. Warum so viele? Weil man die damals nach dem Krieg nötig hatte. Weil sie eine neue Welt träumen wollten, eine Welt, in der es keinen Krieg mehr gibt. Heute beschäftigten sich die Autoren vor allem mit privaten Problemen. Das ist auch eines der Probleme des heutigen Theaters.

Sie sind über 80 und noch immer rastlos. Hatten Sie nie Lust, sich von der Arbeit zurückzuziehen und das Leben zu geniessen?

Aber ich geniesse doch mein Leben – seit sechzig Jahren! Ich hatte halt auch Glück. Glück, dass zum Beispiel Friedrich Dürrenmatt mir die grossen Bordeaux-Weine nähergebracht hat. Auch das Genies­sen hat mit Neugier zu tun: Neugier auf gute Weine, auf gutes Essen. Ich hätte mit dem Arbeiten längst aufgehört, wenn ich keinen Spass mehr ­daran hätte.

Sie hätten wegen Ihrer Arbeit keine Familie, kein Privatleben, keine Pensionskasse, haben Sie einmal gesagt. Hat sich dieser Einsatz gelohnt?

Wenn Ihnen jemand diese Frage mit einem klaren Ja beantwortet, dann ist er ein Lügner. Natürlich hat mich mein Berufsleben viel gekostet. Und ich hätte ein unendlich viel einfacheres Leben gehabt, wenn ich nicht immer meine Meinung gesagt hätte. Aber ich habe diesen Preis gern bezahlt. Denn ich liebe die Freiheit und die Leidenschaft für das Theater.

Die Premiere von Eugène Ionescos «Die Unterrichtsstunde» findet am 16. November, 20.15 Uhr, auf der Kleinen Bühne des Theaters Basel statt.

Zur Person: Werner Düggelin

Der 82-jährige Werner ­Düggelin zählt zu den wichtigsten Regisseuren der Schweiz. Die Theaterliebe packte ihn bereits als ­Student, als er als Beleuchter am Schauspielhaus Zürich jobbte. ­Prägend wurden ­seine Lehrjahre in ­Paris bei ­Roger Blin, der 1953 mit Samuel Becketts «Warten auf ­Go­dot» das Theater der Nach­kriegs­­­­moderne be­grün­dete. Düggelin reiste un­ab­läs­sig von ­Theater zu Theater. Nur ein einziges Mal liess er sich überreden, Direktor zu werden – von 1968 bis 1975 in ­Basel. Zu seinem Spätwerk gehören grosse Insze­nierungen am Schauspielhaus Zürich; unvergesslich ­sind etwa «Endspiel» (1994) oder «Der Geizige» (2005).

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 04/11/11

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