«Es ist die Verlogenheit, die mich stört»

Der Historiker Thomas Maissen fordert eine neue politische Kultur in der Schweiz – und eine Landesregierung ohne SVP und FDP.

«Ein Historiker ist ängstlicher als andere, weil er weiss, was passieren kann, wenn alles aus dem Ruder läuft.» (Bild: Matthias Willi)

Der Historiker Thomas Maissen fordert eine neue politische Kultur in der Schweiz – und eine Landesregierung ohne SVP und FDP.

Wenn Thomas Maissen redet, tönt es zurückhaltend, sanft beinahe. Der Inhalt hat es aber in sich. Maissen kritisiert die Schweiz scharf, obwohl er dieses Land liebt. Oder gerade deswegen. Es sei ein «Heimkommen», sagte der in Heidelberg lehrende Geschichtsprofessor, als er kürzlich in Basel war, um im Gespräch mit der ­TagesWoche einen besseren Bundesrat und eine offenere Schweiz zu fordern.

 

Herr Maissen, wie sähe der neue Bundesrat aus, wenn die Wahl nächste Woche bei Ihnen liegen würde?

Thomas Maissen: Meine Präferenz wäre eine Mehrheitsregierung. Nach den Verlusten der SVP müsste sie rausfliegen und ihr allenfalls gleich noch die FDP in die Opposition folgen. Damit wäre der Weg frei für eine Mitte-Links-Regierung mit grüner Beteiligung.

Warum ein Systemwechsel? So schlecht läuft es ja nicht in der Schweiz.

Ich möchte nichts dramatisieren. Wer wie ich in Europa lebt, der weiss, dass es Probleme von ganz anderen Dimensionen geben kann. Ich bin auch nicht grundsätzlich gegen ein Konkordanzsystem, aber gegen diese Verlogenheit. Ständig wird von Konkordanz gesprochen, dabei gibt es schon längst keinen Grundkonsens mehr, der das Wesen einer echten, inhaltlichen Konkordanz eigentlich ausmachen würde. Bei dem ganzen Gerede geht es nur darum, die eigenen Macht- und Sitzansprüche zu rechtfertigen. Weshalb probiert man nicht auch einmal in der Schweiz ein System mit einer Regierung und einer Opposition, mit klaren Positionen und klaren Verantwortlichkeiten? Gut möglich, dass man nach einem oder zwei Regierungswechseln merken würde, dass ein echtes Konkordanzmodell doch besser zur Schweiz passt. Dann könnte man sich zusammen­raufen und in den wichtigen Fragen auf einen Konsens einigen. Aber leider wurstelt man in der Schweiz lieber so weiter, als ob nicht im Gefolge von 1989 der Konsens aufgebrochen wäre, welcher der Konkordanz zugrunde liegen muss.

Wäre ein solcher Konsens in einer Mitte-Links-Koalition mit der konservativen BDP auf der einen und der SP und den Grünen auf der anderen Seite möglich?

Beim Thema des Atomausstiegs hat es sich gezeigt, dass es möglich ist. Aber natürlich gäbe es in vielen anderen Fragen einen Dissens. Das ist bei ­Koalitionsregierungen anderer Länder auch so. Entscheidend ist, dass sich die Regierungsparteien auf ein gemeinsames Programm einigen, an dem sie nach vier Jahren gemessen werden könnten. Wer an seinen eigenen Vorgaben scheitert, wird abgewählt, so einfach wäre das. In der Schweiz kann sich ein Regierungs­mitglied dagegen so ungeschickt anstellen, wie es will – zurücktreten muss es nicht, weil der einzelne Bundesrat nicht für sich selber steht, sondern für ein Kollegium, in das man ihn unter nicht immer ganz leicht durchschaubaren Umständen gehievt hat. Darum muss er seine Fehler und jene seiner Partei auch nicht verantworten.

Die Schweizer Politiker «wursteln», sagen Sie. Trotzdem ist dieses Land sehr viel erfolgreicher als viele Länder mit einer Mehrheitsregierung an der Spitze.

Der Hinweis auf den Erfolg der Schweiz ist berechtigt, aber Erfolg und Misserfolg wechseln heutzutage sehr schnell, wie die Beispiele Irland oder Island zeigen. In der EU ist es nicht so, dass die politische Entwicklung aus dem Ruder läuft, sondern die wirtschaftliche. Darauf richtig zu reagieren, ist mit jedem politischen System schwierig. Dafür braucht es neue ­Ideen und vielleicht auch etwas Mut zum Risiko. Das ist es, was der Schweiz fehlt, gerade bei den wichtigen Fragen, dem Verhältnis zur EU zum Beispiel.

Nur die wirtschaftliche Entwicklung laufe aus dem Ruder, sagen Sie. Ist das nicht etwas verniedlichend ausgedrückt? Schwer verschuldete Staaten wie Griechenland können selber fast gar nichts mehr entscheiden.

Ich will nichts verniedlichen, stelle aber fest, dass die Probleme mit dem Euro auch die Schweiz sehr unmittelbar betreffen, direkte Demokratie und Konkordanz hin oder her. Die Probleme sind so gross, dass sie über die Möglichkeiten eines Nationalstaats weit hinausgehen.

Können die wirtschaftlichen Probleme mit demokratischen Mitteln überhaupt noch bewältigt werden?

Was wäre denn die Alternative? Eine Diktatur der Technokraten? Ansätze dazu gibt es in Griechenland und in Italien ja schon. Das kann aber nicht die Lösung sein. Als Demokrat glaube ich weiterhin an politische Lösungen. Die demokratisch gewählten Regierungen müssen sich zusammenraufen und weltweit geltende Regeln durchsetzen, um die Wirtschaft wieder unter Kontrolle zu bringen. Bis jetzt verfolgen die einzelnen Regierungen noch viel zu stark ihre eigenen Standortinteressen, was es den grossen Konzernen und Banken leicht macht, die einzelnen Länder gegeneinander auszuspielen. So entstehen wirtschaftliche Machtballungen, die dem Ganzen schaden. Diese Entwicklung zu stoppen, ist eine urdemokratische Aufgabe.

Wären Sie als überzeugter Demokrat auch für eine Volkswahl des Bundesrates?

Das wäre eine interessante Option – mit absehbaren Folgen. Die SVP würde eher geschwächt, weil sie bei Majorzwahlen regelmässig scheitert oder nur mit moderaten Vertretern Erfolg hat. Die Volkswahl des Bundesrates würde die Kandidaten ganz allgemein zwingen, sich programmatisch festzulegen. Allerdings ist mit einer Volkswahl des Bundesrates in der Schweiz kaum zu rechnen. Dafür gibt es im Land zu viele Minderheiten, die Angst haben, nach einer Umstellung übergangen zu werden.

Warum tut sich die Schweiz so schwer mit Veränderungen?

Weil es uns ganz gut geht. Das 19. und 20. Jahrhundert war für die Schweiz eine Erfolgsgeschichte, in wirtschaft­licher, aussenpolitischer, militärischer und sozialer Hinsicht. Das gibt vielen das Gefühl, es sei das Beste, auf dem Schweizer «Sonderweg» zu verharren. Viele gegenwärtige Probleme lassen sich mit dieser Haltung allerdings kaum mehr lösen.

Einige Kommentatoren vergleichen die jetzige Situation bereits mit den Wirtschaftsproblemen in den 1930er-Jahren. Halten Sie als Historiker eine solche Analogie für zulässig?

Ein Historiker weiss, was passieren kann, wenn eine Entwicklung aus dem Ruder läuft. Und wie schnell sich alles verändern kann. 1910 gab es eine ­grosse internationale Vernetzung, die Menschen reisten hin und her, ohne Pässe, die Europäer beherrschten die Welt und hatten in ihrem Selbstverständnis eine zivilisatorische Mission. Vier Jahre später lagen sie in den Schützengräben und brachten sich ­gegenseitig um. Ende der 1920er-Jahre war dieser Krieg wieder überwunden, die Zuversicht gross, die Wirtschaft boomte. Ein paar wenige Jahre später war wieder Krieg. Daran denkt der Historiker natürlich, darum ist er etwas ängstlicher als andere Menschen. Er weiss, dass die Worst-Case-Szena­rien, die heute in den Zeitungen verhandelt werden, noch ganz angenehme Visionen sind. Die eigentliche Frage ist längst nicht mehr, ob die drohende ­Rezession zwei oder drei Jahre dauern könnte, sondern: Was, wenn, der Euro auseinanderfällt, das Wirtschaftssystem weltweit zusammenbricht? Zum Glück bin ich als Historiker aber nicht für Zukunftsvoraussagen zuständig, sondern für die Vergangenheit.

Nach den schlechten Erfahrungen der Vergangenheit halten Sie es für möglich, dass der Nationalismus bald wieder aufbricht?

Das wäre eine absolut naheliegende Logik. Eine zentrale Frage in der EU ist, wer gegenüber wem in welchem Umfang solidarisch sein soll. Irgendwann kommt der Punkt, an dem viele Menschen genug haben und sagen: Wir haben jahrelang für andere Länder gezahlt, jetzt ist Schluss. Das kommt natürlich entsprechend schlecht an. Die Deutschen zum Beispiel waren vor zwei Jahren noch das beliebteste Volk in Griechenland, heute sind sie das unbeliebteste. Da gibt es noch ein gewaltiges Potenzial an Unzufriedenheit und Unrast. Das kann man sich ja vorstellen, wenn zum Beispiel an einer Uni nur schon wegen der Streichung einer Assistenzstelle so getan wird, als ginge das Abendland unter. Was wird erst passieren, wenn viele ein Drittel weniger verdienen oder gleich ganz arbeitslos sind?

Ist der Nationalismus nicht schon heute viel zu gross?

Ich finde es im Gegenteil erstaunlich, wie schwach die Nationalismen im historischen Vergleich eigentlich sind. Es gibt zwar einen Grundstock von Nationalismen, auf den die Menschen beispielsweise im Fussball zurückgreifen können. Gleichzeitig scheinen die politischen Eliten im Allgemeinen aus der historischen Erinnerung heraus ein sehr grosses Verantwortungs­bewusstsein zu besitzen. Gerade in Deutschland ist das faszinierend zu sehen. Es scheint einen Konsens quer durch alle Parteien hindurch zu geben, während der Eurokrise nationale Interessen nicht zum Gegenstand einer Kampagne zu machen. Dabei wäre das ein Leichtes. Die deutsche FDP könnte mit einem radikalen Anti-Griechenland-Kurs schnell wieder aus ihrem Tief herauskommen.

Bei den politischen Eliten ist das vielleicht ein Tabu. Die grösste Boulevardzeitung im Land, «Bild», fährt schon seit Monaten eine solche Kampagne.

Durchaus. Aber das Tabu der Politik ist neu. 1914 gab es das noch nicht. ­Damals waren es die Eliten, die wacker in den Krieg zogen. Und das Volk zog mit. Heute sind die Politiker bereit, im Interesse einer europäischen Union gegen das unmittelbare Volksempfinden Politik zu betreiben.

In der Schweiz hat man während des Wahlkampfes eine gegentei­lige Bewegung verspürt. Plötzlich waren alle schweizerischer als schweizerisch.

Das hat seltsame Blüten getrieben. Nehmen Sie den Spruch von FDP-­Nationalrat Filippo Leutenegger: «Weniger Staat, mehr Schweiz.» Absurd! Was ist denn die Schweiz anderes als ein Staat? Der Ausgang der Wahlen hat aber gezeigt, dass es offensichtlich keinen Sinn ergibt, alles bei der SVP zu kopieren und auf Superpatriot zu machen. Kuhglocken und Jodeln sind nicht die Welt eines urbanen Baslers oder Zürchers. Diese Themen kann man zwar besetzen, damit gewinnt man aber keine Mehrheiten.

Die «Superpatrioten» spielen seit Jahren die gleiche Platte: Der Schweiz geht es wegen ihrer ­Eigenständigkeit gut. Wegen der direkten Demokratie. Zu Recht?

Es ist schön, in einem Land zu wohnen, wo man das Gefühl hat, man sei eng mit der politischen Ebene ver­bunden. Diese Nähe schafft die direkte Demokratie. Zumindest für die Schweiz ist sie ein wunderbares Werkzeug. Aber ein überbewertetes. Was die direktdemokratisch kontrollierte und gelenkte Politik leisten kann, wird massiv überschätzt. In der Schweiz ­geschieht viel, zu dem wir nichts zu ­sagen haben – denken Sie nur an den berühmten autonomen Nachvollzug beim EU-Recht. Hinzu kommt, dass die wirklichen Probleme der Schweiz nicht per Volksabstimmung geregelt werden können. Wir können nicht über den starken Franken abstimmen. Die Folge ist, dass marginale Themen wie etwa ein Minarett-Verbot über­proportionale Bedeutung erhalten. Die Überbewertung der direkten Demokratie ist weit verbreitet und sie dünkt mich gefährlich, weil man sich im ­Vertrauen auf sie supranationalen ­Lösungen verschliesst.

Sie haben die EU in der Vergangenheit immer sehr positiv ­be­urteilt. Das ist angesichts der ­heutigen Situation doch eine ­Fehleinschätzung.

Beinahe alle Länder, die der EU bei­getreten sind, haben das nach einer politischen oder wirtschaftlichen ­Krise getan. Spanien oder Finnland sind Beispiele dafür, Island wird das nächste sein. Diese Krisen haben den Ländern die Grenzen der nationalen Gestaltbarkeit vor Augen geführt. Die Schweiz ist bisher von einer so mas­siven Krise verschont geblieben – wir wissen nicht, was geschieht, sollte das mal tatsächlich eintreten. Ich fürchte aber, dass die Schweiz dann bei der EU anklopfen wird: als Bittstellerin.

Gegner der EU würden hier ­einwenden, dass wir keine Krise erlebten, eben weil wir nicht ­Mitglied der EU sind.

Die Abmilderung oder Verhinderung von Krisen ist nicht das einzige Ar­gument für die EU. Die Europäische Union hat den Frieden über 60 Jahre gewährleistet. Bei allen Vorbehalten gegen die EU kann man ihr diese Leistung nicht absprechen. Das wird in der Schweiz zu wenig gewürdigt, weil wir Krieg immer nur als Zuschauer erlebt haben. Die Schweiz profitiert heute existenziell von der Friedenswahrung der EU, ohne diese Leistung wäre ­unsere Wirtschaftsblüte nicht möglich gewesen. Darum ärgert mich dieses Schlechtmachen. Das Bild der Diktatur aus Brüssel befriedigt innenpolitische Bedürfnisse und drückt aussenpolitisch grosse Undankbarkeit aus.

Sie haben selber von der Diktatur der Technokraten gesprochen. Wie kann man diesen vertrauen?

Das Problem ist nicht, die Technokraten unter Kontrolle zu bekommen. ­Das Problem ist, die Wirtschaft unter ­Kontrolle zu bekommen. Die wirt­schaft­lichen Entwicklungen haben Dimen­sionen erhalten, die Nationalstaaten nicht mehr bewältigen können. Das ist eine ähnliche Situation wie im 19. Jahrhundert bei der Gründung des Bundestaates. Die Schweizer mussten entscheiden, ob sie im Kantönligeist weiterleben oder mit einer gemein­samen Währung und ohne Binnen­zölle einen nationalen Wirtschaftsraum bilden wollten, um gemeinsam eine friedliche Zukunft zu gestalten und wohlhabend zu werden. Auch damals haben gerade die kleinen kon­servativen Kantone ihre Souveränität so hoch gehängt, dass sie dafür 1847 in den Sonderbundskrieg und in die Niederlage gegangen sind.

Könnte die Bildung des Bundesstaats von 1848 ein Vorbild sein für die EU-Integration?

Ja. Es wäre sogar eine grosse Chance. Die Schweiz hat eine historische Erfahrung im alltäglichen Aushandeln von Kompromissen zwischen unterschiedlichen Partnern, Parteien und Sprachen und blickt dabei auf eine ­relativ gut gelungene Integration ­zurück. Es gibt heute prozentual zur ­Bevölkerung viel mehr Westschweizer, die Deutschschweizerinnen heiraten als deutsch-französische Ehepaare. Diese Selbstverständlichkeit im all­täglichen Zusammenleben, auch im politischen und wirtschaftlichen Bereich, macht einen grossen Teil der Schweizer Wettbewerbsfähigkeit aus. Das könnte ein Beitrag der Schweiz an ein europäisches Projekt sein.

Reibungslos ist unser Projekt aber nicht gelaufen. Nachwehen spüren die «Urkantone» bis heute – wie Sie auch schon bissig bemerkten.

Ich habe gar nichts gegen die Waldstätte, mir gefällt es sehr dort. Mich stört nur diese Abwehr der Schweiz ­gegen aussen, die heute noch mit den eingebildeten Ursprüngen der Eidgenossenschaft in der Innerschweiz und der damaligen Abwehrhaltung gerechtfertigt wird, obwohl sich diese mehr gegen Zürich und Bern richtete als gegen die Habsburger. Wenn sich daran nichts geändert hätte, würden wir heute noch wie im 18. Jahrhundert in einem Staatenbund leben. Es ist ­irgendwie bezeichnend, dass die Waldstätte bisher jede Bundesver­fassung in der Volksabstimmung ­verworfen haben: 1848, 1874, 1999. Insofern ist es wohl auch kein Zufall, dass sie nur einmal, mit dem sehr problematischen Obwaldner Konservativen Ludwig von Moos, im Bundesrat vertreten waren.

Warum bekommt eigentlich auch Basel keinen Bundesrat, ausser wenn es gerade darum geht, einen ehemaligen Kommunisten zu ­verhindern wie 1959, als Hans ­Peter Tschudi anstelle von ­Walther Bringolf gewählt wurde?

Die Basler scheitern nicht in der Bundesversammlung, sondern schon in den parteiinternen Auswahlverfahren – an ihrer eigenen Haltung, vermute ich. Basel und Bundesbern, das sind verschiedene Länder, da gibt es diese typische baslerische Selbstabschottung, der Basler ist lieber König in ­seiner eigenen Stadt als einer von ­sieben Clowns in Bern. Wie anders ist da Zürich! Diese Stadt fühlt sich für das Wohlergehen der ganzen Nation verantwortlich, wobei sie die natio­nalen Interessen schon mal mit den ­eigenen verwechselt.

Ist diese Abschottung nicht eine gegenseitige?

Doch, natürlich. In der allgemeinen Wahrnehmung steht Basel in keiner Weise für die Schweiz. Aber andere Städte wie Zürich oder Genf tun das auch nicht. Das Geschichtsbild und das Selbstbild werden geprägt von den Waldstätten und ihren Schlachten ­gegen die Habsburger, obwohl die ­Rolle der Städte für die Entstehung und den Bestand der Eidgenossenschaft viel grösser und wichtiger ist.

Sie lehren seit Längerem in ­Heidelberg. Wie fühlt sich der ­Besuch in Basel an?

Es ist ein Heimkommen, auch wenn es mir und meiner Familie in Heidelberg sehr gut gefällt. Das spielt sich zum Beispiel auf der Ebene der Mentalitätsunterschiede ab. Man kennt die Spielregeln einfach sehr gut, auch die nonverbalen. Und darum fühlt man sich in der Heimat wohl und aufgehoben. Es ist die pragmatische Unkompliziertheit, die ich in der Schweiz sehr mag.

Sie gehen gerne wandern. Und das als Historiker, der gegen die Mythen der Schweiz anschreibt. Gegen die Alpen!

Ich schreibe nicht gegen Mythen an; Gemeinschaften brauchen Mythen. Ich versuche aber zu erklären, wie ­diese entstanden sind. Je mehr darüber informiert wird, desto schwieriger wird es, die nationale Vergangenheit für politische Bedürfnisse in der ­Gegenwart zu missbrauchen. In der Schweiz ist die angebliche historische Bedeutung der Alpen tatsächlich ein Mythos. Die Liebe zu den Bergen liegt nicht in den Genen, sie ist anerzogen. Wir wandern schon als Kinder, gehen ins Skilager – und sind auch noch als Erwachsene gerne in den ­Bergen. Auch ich bin froh, dass man mir diese Vertrautheit zur Natur nähergebracht hat. Webcode: @agxvs

 

Pointiert und gescheit

Thomas Maissen ist ein Historiker, der sich pointiert aus­zudrücken weiss. Nach seiner Promovierung in ­Basel 1993 arbeitete er zwei Jahre an der Uni Potsdam, habilitierte und schrieb acht Jahre lang als Mitarbeiter für die NZZ historische Analysen. Nach einer zweijährigen Förderprofessur an der Universität Luzern wurde er nach Heidelberg ­berufen, wo er seit 2004 als ordentlicher Professor für Neuere Geschichte lehrt. Mit seinem Übersichtswerk «Die Geschichte der Schweiz», das im September 2010 erschienen ist, gelang Maissen ein Überraschungserfolg. Das Buch erscheint ­bereits in der dritten Auflage. Neben seiner Lehrtätigkeit in Heidelberg mischt sich Maissen auch immer wieder in die aktuelle Debatte ein. Er tut das, wie er schreibt: gescheit und pointiert.

Quellen

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 09/12/11

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