«Es stimmt nicht, dass wir uns an nichts mehr erinnern können»

Diese Woche brachte Marianne Faithfull, begleitet vom Sinfonieorchester Basel, «The Seven Deadly Sins» auf die Bühnen des Stadtcasinos und der Kaserne Basel. Die TagesWoche hat die legendäre Sängerin im Hotel Les Trois Rois zum Interview getroffen. 

Marianne Faithfull (Bild: Screenshot)

Über ihre Zeit mit den Rolling Stones mag sie nicht mehr reden. Im Interview mit der TagesWoche erzählt Marianne Faithfull dafür, wo sie das erste Mal «Hey Jude» hörte und wie sie sich mit den sieben Todsünden arrangiert hat.

Marianne Faithull (64) wurde 1964 mit dem Lied «As Tears Go By», geschrieben von Mick Jagger und Keith Richards, weltberühmt. Den Rolling Stones blieb sie lange verbunden – sie war mit Jagger liiert und erlebte an seiner Seite die Swinging Sixties. Im Lied «Sister Morphine» beschrieb sie ihre Drogensucht, der sie viele Jahre ausgeliefert war. 

Frau Faithfull, seit der Veröffentlichung Ihrer Memoiren hat auch ein guter Freund von Ihnen seine Autobiografie herausgebracht: Keith Richards. Haben Sie sein Buch «Life» gelesen? Und waren Sie, wie so viele seiner Wegbegleiter, überrascht, dass er sich an sein Leben erinnern kann?
(0:16) Nein, ich war nicht überrascht. Es ist eine Illusion, dass wir alle so abgefuckt waren und uns an nichts mehr erinnern können. Ich habe seine Biografie gelesen und gemocht.

Als langjährige Wegbegleiterin der Rolling Stones: Gibt es etwas, das Sie richtigstellen möchten?
(0:32) Ich? Nein. Ich habe dazu keinen Kommentar abzugeben.

Es ist also alles so passiert, Keith Richards ein aufrichtiger Kerl?
(0:40) Nun, das Buch gibt seine persönliche Sicht wieder. Ich bin nicht mit allem einverstanden, aber es ist sein Recht auf sein eigenes Wort, was ich respektiere.

Keith Richards mochte ja auch Ihre Memoiren …
(1:13) Ja, er war ja auch der absolute Star in meinem Buch.

Im Unterschied zu Mick Jagger, der wohl auch an Keith Richards’ Autobiografie wenig Freude hatte.
(1:27) Nun, das ist nachvollziehbar. Sehen Sie, ich rede eigentlich nicht mehr über die Rolling Stones. Ich bin wirklich froh darüber – und auch stolz – Teil dieser Sixties-Generation zu sein. Ich lernte enorm viel von den Stones, bin sehr dankbar für «As Tears Go By» und es war wunderschön, mit Mick Jagger «Sister Morphine» zu schreiben. Aber was die persönliche Ebene betrifft, so ist meine Freundschaft mit Keith privat und ich beantworte darüber keine Fragen.

Auf diese Sixties folgten dunkle Jahre. Was führte dazu? War es ernüchternd festzustellen, dass sich der «Summer Of Love» verflüchtigt hatte?
(2:33) Die 70er-Jahre waren für viele Leute fantastisch. Ich hatte eine harte Zeit, aber mit «Broken English» wurde es besser. Was den «Summer Of Love» angeht: Das war eine Erfindung der Medien, so wie auch die Londoner Carnaby Street. Für einige von uns gab es einen Crash. Denn was so hoch hinaufgeht, fällt irgendwann auch wieder runter. Für einige war es auch das Ende. Ich hatte Glück.

Erlauben Sie mir eine Frage über die Beatles?
Ja, klar. Es sind die Stones, über die ich nicht mehr reden möchte.

In Ihren Memoiren beschreiben Sie auf faszinierende Weise den Moment, als Sie zum ersten Mal «Hey Jude» hörten. Könnten Sie das rekapitulieren?
(4:08) Der Kokain-Dealer der Rolling Stones eröffnete in London einen Club, den Vesuvio. Dieser Club war nur diese eine Nacht geöffnet und befand sich in einem Keller in der Tottenham Court Road, ausgestattet mit Kissen und einer brillanten Tonanlage. Wir lagen da rum, wunderbar dekadent, hatten verschiedene Substanzen intus – in meinem Fall keine harten Drogen – machten Musik und hatten Spass. Und da kam auf einmal Paul McCartney herein. Man sah ihm an, dass er etwas im Köcher hatte. Und was erst! Er ging zu Tony, dem Kokain-Dealer, und flüsterte ihm zu, dass er ein Tape dabei habe, dass man abspielen könnte. Es war «Hey Jude».
Paul, die Stones, die Beach Boys, die standen damals ja alle in Konkurrenz zueinander, sie hörten die Platten der anderen, es herrschte grosser Wettbewerb. Aber seien wir ehrlich: Niemand kann mit den Beatles mithalten. Man kann sich nicht einmal vorstellen, wie sich das anfühlt, ein Beatle zu sein.

In Basel brachten Sie nun mit dem Sinfonieorchester «The 7 Deadly Sins» von Bertolt Brecht und Kurt Weill auf die Bühne. Darin teilt sich die Hauptdarstellerin auf, in eine Anna I und eine Anna II. Ist Marianne Faithfull das Resultat dieser beiden Personen?
(6:08) Nein, Marianne Faithfull ist diese zwei Personen – für die Dauer der Show.

Braucht man eine Lebenserfahrung wie Sie sie haben, um diese Charaktere auf der Bühne zu Leben zu erwecken?
(6:34) Nein. Es gibt junge Sopranistinnen ohne jegliche Lebenserfahrungen, die diese Lieder singen. Wäre ich eine klassische Sängerin geworden, was möglich gewesen wäre, hätte ich diese Rolle auch mit 22 schon singen können. Was einzigartig ist an meiner Performance: Die Leute glauben dass ich die sieben Todsünden so gut kenne. Natürlich, das tue ich. Ich bin mir dieser Sünden bewusst. Ansonsten wäre ich womöglich tot.

Von allen sieben Todsünden …
(7:25) Oh nein, oh nein, nein. (äfft Journalistenfrage mit hoher Stimme nach). Von allen sieben Todsünden, welche ist da Ihre liebste?

Nein, das wollte ich nicht fragen. Mich interessiert, welcher Sünde Sie am schwersten widerstehen können.
Es gibt einige, denen ich kaum widerstehen kann. Ich rede mir zwar ein, dass Neid nie ein grosses Thema für mich gewesen sei. Aber womöglich schätze ich das falsch ein. Was meinen Charakter angeht, bin ich mir sicher, dass ich nur auf wenig stolz sein kann. Hochmut, ja, der Stolz ist ein Hauptcharakterzug von mir. Dann Faulheit. Völlerei. Wut. Gut, die Wut hat stark abgenommen. Ebenso die Wollust.   

Warum hat die Wut abgenommen?
(8:22) Das hat einfach mit dem Älterwerden zu tun. Als junge Person fragte ich mich immer wieder zornig: Warum widerfährt mir das? Heute bin ich gelassener, nicht mehr zornig.

Jemand, der Ihnen aus der Patsche half, als Sie abgemagert und abhängig durch die Londoner Strassen torkelten, war nicht etwa ein Musiker, sondern ein Maler – und erst noch ein grossartiger: Francis Bacon …
(9:12) … er war ein sehr netter Typ, ja, ein Freund. Francis sah, wie es mir ging, konnte aber nicht viel dagegen unternehmen. Immerhin verurteilte er meinen Lebensstil nicht, nahm mich so, wie ich war: Ich lebte auf der Strasse, war heroinabhängig und zudem magersüchtig. Er half mir, indem er mir hin und wieder Lunch kaufte.

Wer führte Sie in die Welt von Brecht und Weill ein: Ihre Grosseltern?
(10:08) Nein, hauptsächlich meine Mutter. «Die sieben Todsünden» kannte ich als Kind noch nicht, aber die «Dreigroschenoper» und «Mahagonny» wurden bei uns zu Hause oft auf Platte angehört.

Sie haben österreichische Vorfahren …
(10:43) Österreichisch-ungarische, ja. Ich weiss, was Sie meinen: Aber ich könnte «Die sieben Todsünden» nicht auf Deutsch singen.

Haben Sie es sich schon mal überlegt?
Anita Pallenberg, meine gute alte Freundin, wollte mich dazu überreden. Aber ich wuchs nur bis zum dritten Lebensjahr in einem deutschsprachigen Umfeld auf. Meine Mutter wollte mich ermuntern, danach weiter deutsch zu reden. Aber ich wollte nicht anders klingen als die anderen Kinder …
Ich singe Brecht/Weill auf englisch, denn ich möchte mir nicht zusätzlichen Stress antun. Ich weiss nicht, ob Sie sich vorstellen können, wie schwierig es für mich wäre, wenn ich das auch noch in einer Fremdsprache tun müsste – ich hätte eine Herzattacke.

Eine Leserin wollte wissen: Wie pflegen Sie Ihre Stimme?
(12:06) Leider gar nicht. Das einzige, was ich für meine Stimme mache: Ich inhaliere, ich schlafe genug. Und ich trinke keinen Alkohol.

Eine weitere Leserfrage: Gibt es ein Ritual, bevor Sie jeweils auf die Bühne gehen?
Ein Ritual? Was könnte das sein?

Keine Ahnung.
Ich auch nicht.

Es gibt Leute, die vor jedem Konzert eine Tasse Tee trinken.
Ah, okay. Das ist für mich kein Ritual, sondern normal. Ingwer, Zitrone und Honig. Das trinke ich auch, wenn ich Rock-Konzerte gebe.

Wenn ich mich nicht irre, dann war es hier im Hotel Drei Könige, wo Theodor Herzl einst seine Idee eines Judenstaats proklamierte. Sie hatten ebenfalls jüdische Verwandte …
(13:21) Meine Grossmutter war jüdisch.

Genau. Fühlen Sie sich dadurch Weill und Brecht verbunden.
Ja, durchaus. Brecht war kein Jude, Weill schon. Viele der Skalen, die er verwendete, stammten aus dem Tempel. Und ich scheine eine Fähigkeit zu haben, diese genau so singen zu können. Das ist genetisch, denke ich. 

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