«Es war ein Riesenfehler, Carlos im Fernsehen zu präsentieren»

Beat Burkhardt, Leiter der Basler Jugendanwaltschaft, hält die Massnahmen im «Fall Carlos» für richtig und erklärt, dass am Ende nicht das «absolute Verständnis» der Bevölkerung zählt.

Beat Burkhardt, seit 1992 Jugendanwalt: «Die Gewaltdelikte beschäftigen uns am intensivsten.» (Bild: Yen Duong)

Beat Burkhardt, Leiter der Basler Jugendanwaltschaft, hält die Massnahmen im «Fall Carlos» für richtig und erklärt, dass am Ende nicht das «absolute Verständnis» der Bevölkerung zählt.

Vor bald 75 Jahren, am 15. September 1938, nahm die Basler Jugendanwaltschaft ihre Arbeit auf. Der Leiter der Basler Jugendanwaltschaft, Beat Burkhardt, redet über Kuscheljustiz, zeigt Verständnis für den «Fall Carlos» und erklärt, wie sich selbst Unruhen in Nordafrika auf seine Arbeit auswirken.

Herr Burkhardt, die Basler Jugendanwaltschaft hat bald ihren 75. Geburtstag. Gibt es überhaupt Grund zu feiern?

Natürlich. Wir sorgen seit 75 Jahren hauptsächlich mit erzieherischen Massnahmen dafür, dass die Jugendlichen nicht mehr straffällig werden. Das macht schon stolz.

Und stolz sind Sie auch darauf, dass die Jugendkriminalität abgenommen hat.

Ja, in den letzten Jahren hat sie wieder abgenommen. Vor 75 Jahren hatten wir allerdings viel weniger Fälle. Dennoch würde ich sagen, dass die Jugendlichen besser sind als ihr Ruf. Man neigt heute leider dazu, schnell alles zu verallgemeinern.

«Tatsächlich beschäftigen uns Gewaltdelikte am intensivsten.»

Wie viele Jugenddelikte gab es letztes Jahr?

Vergangenes Jahr mussten wir uns mit über 1000 Delikten auseinandersetzen. Die Vermögensdelikte wie zum Beispiel Diebstahl oder Raub machen dabei den grössten Anteil aus. Tatsächlich beschäftigen uns aber die Gewaltdelikte am intensivsten. Zumal es hier auch gilt, weitere Taten zu verhindern.  

Und das gelingt?

Es sind relativ wenig Jugendliche, die rückfällig werden. Erst recht, wenn man bedenkt, dass uns permanent Kuscheljustiz respektive zu milde Sanktionen vorgeworfen werden. Aber die Sanktionen sind nur ein Mittel, nur ein Teil des Ganzen. Es geht auch darum, Beziehungen zu den Jugendlichen zu schaffen, mit ihnen in einen Dialog zu treten und ihnen zu zeigen, dass wir an ihre Veränderung glauben.

Apropos Kuscheljustiz: Für Diskussionen sorgt der «Fall Carlos». Der 17-Jährige kostet monatlich 29 000 Franken. Was halten Sie davon?

Ich kenne den Fall nicht im Detail und möchte kein Urteil fällen. Aber soweit ich dies sehe, konnte erstmals mit ihm eine Beziehung aufgebaut werden. Vorher war das offenbar nicht möglich. Und wie ich schon gesagt habe: Es geht oft auch darum, eine Bindung zu einem Jugendlichen zu schaffen. Und für solche Fälle sind manchmal Mittel, wie sie bei Carlos angewendet wurden, nötig – auch wenn sie seltsam wirken können. Wenn es zum Erfolg beiträgt, verstehe ich nicht, was man dagegen haben kann.

Sie zeigen sich sehr verständnisvoll.

Ich kann nicht einschätzen, ob die richtige Massnahme angeordnet wurde. Aber ich sehe, dass man damit offensichtlich Erfolg hatte. Wir müssen mit unserer Arbeit nicht das absolute Verständnis der Bevölkerung erreichen. Am Schluss zählt, ob wir Erfolg bei den Jugendlichen haben.

Ein solcher Fall wäre in Basel also auch denkbar?

Das ist jetzt eine rein hypothetische Frage. Aber es ist nicht ausgeschlossen, dass wir nach sorgfältiger Abwägung von Kosten und Nutzen auch mal so etwas machen müssen, um eine Beziehung zum Jugendlichen aufzubauen.

«Früher wollte man jemanden besiegen, heute will man sein Gegenüber demütigen und fertig machen.»

Die Zahl der Fälle von Jugendgewalt nimmt zwar ab, die Intensität der Gewaltdelikte aber zu. Weshalb?

Ich weiss nicht, ob die Gewalt immer heftiger wird. Aber das Vorgehen ist bestimmt anders. Früher wollte man jemanden besiegen, heute will man sein Gegenüber demütigen und fertigmachen. Insofern ist das Ausmass von Traumatisierung und Demütigung der Opfer viel grösser als früher. Das ist eine gefährliche Entwicklung, die gesellschaftlich bedingt ist.

Wie meinen Sie das?

Man sieht es ja auch in der Wirtschaft: Man muss ellböglen, um selber gut dazustehen und Erfolg zu haben. Wir dürfen nicht davon ausgehen, dass die Jugendlichen in einer anderen Welt leben als wir. Wir sind ihre Vorbilder.

Sie haben auch mit den Eltern der Jugendlichen zu tun. Eine Herausforderung?

Die Zusammenarbeit mit den Eltern ist sehr anspruchsvoll und nicht zu unterschätzen. Wir stellen fest, dass Eltern, die häufig keine gute Beziehung zu ihren Kindern haben, oft ein schlechtes Gewissen haben und dann alles daran setzen, unsere Massnahmen für ihr Kind infrage zu stellen und zu torpedieren. Wir müssen sehr aufpassen, dass wir nicht an den Eltern scheitern. Wir müssen sie ins Boot holen und zeigen, was für Vorteile eine Massnahme für ihr Kind hat.

Die straffälligen Jugendlichen werden auch immer jünger. Wieso?

Das ist nicht verwunderlich. Vor 20 Jahren waren 14-Jährige um 22 Uhr noch nicht auf der Strasse. Heute ist das absolut üblich, und jeder Jugendliche macht Terror zu Hause, wenn er nicht raus darf. Die Überforderungssituation für Jugendliche hat deutlich zugenommen und dies führt dazu, dass sie Normen verletzten.

Wirken sich etwa Unruhen wie jene in Nordafrika auf Ihre Arbeit aus?

Ja. Wir haben diverse Jugendliche aus diesen Ländern, die kritisch sind. Sie sind kaum belehrbar und verhalten sich sehr schwierig.

Inwiefern?

Sie zeigen sich unkooperativ, weil sie eine ganz andere Mentalität haben. Sie leben in einer Welt, in welcher der Staat und die Polizei keinen Platz haben. Das Vertuschen in diesen Kreisen ist extrem. Solche Fälle kosten uns enorm viel Zeit, verglichen damit, was am Schluss rausschaut. Wir können ihnen nur etwas nachweisen und sie dafür bestrafen. Aber sie davon abzubringen, weitere Delikte zu begehen, ist fast unmöglich.

«Wir werden heute viel kritischer beobachtet als früher und stehen stärker in der Öffentlichkeit.»

Sie sind seit über 20 Jahren Jugendanwalt. Inwiefern hat sich Ihre Arbeit in all den Jahren verändert?

Wir werden heute viel kritischer beobachtet als früher und stehen stärker in der Öffentlichkeit. Die Akzeptanz von staatlichen Massnahmen ist generell gesunken. Deshalb müssen wir unser Handeln heute viel mehr rechtfertigen als beispielsweise zu meiner Anfangszeit.

Stört Sie das?

Nicht wirklich. Aber ich habe Mühe mit der Aufarbeitung der Jugenddelikte in der Öffentlichkeit. Es wird sehr unsorgfältig damit umgegangen. Es wird schnell alles verallgemeinert. Das gefällt mir nicht. Jüngstes Beispiel ist der «Fall Carlos»: Jeder masst sich ein Urteil an, obwohl er die Vorgeschichte nicht kennt und nicht weiss, was zuvor alles schon versucht worden ist. Ich masse mir diesbezüglich kein Urteil an – einzig, dass die Präsentation eines Jugendlichen im Fernsehen ein Riesenfehler war.

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