«Filmmusik soll oft schwächere Szenen retten»

Er hat Filme wie «Drive» genial vertont: Cliff Martinez. Hollywoods angesagter Filmmusik-Komponist tritt heute Abend in Neuchâtel am Fantastic Film Festival auf. Wir haben mit ihm über seine Arbeit in der Traumfabrik und seine Vergangenheit bei den Red Hot Chili Peppers gesprochen.

Kreisch! Cliff Martinez, der Mann mit den flirrenden Sounds, weilt derzeit in der Schweiz. (Bild: NIFFF/Giona Mottura)

Er hat Filme wie «Drive» genial vertont: Cliff Martinez, einer von Hollywoods angesagtesten Filmmusik-Komponisten. Wir haben uns mit ihm am Neuchâtel International Fantastic Film Festival über seine Arbeit in der Traumfabrik, seine Inspiration und seine Vergangenheit bei den Red Hot Chili Peppers unterhalten.

Cliff Martinez schlendert durch Neuchâtel – und reibt sich noch immer ein bisschen verwundert die Augen. Nie zuvor hatte er vom NIFFF gehört, diesem Festival für fantastische Filme. Und noch nie wurde ihm ein 1.-Klass-Flug und schönes Hotel angeboten, um einige Tage in der Schweiz zu verbringen, verbunden mit der Auflage, hier einfach nur über seine Arbeit zu reden. Eine Rolle, die dem Amerikaner gefällt. «I love talking about myself, so I said yes», sagt er mit entwaffnendem Lächeln.

Ehe er am Donnerstag, 11. Juli (17.45 Uhr) im Rahmen einer Masterclass (Eintritt frei) über seine Arbeit mit Filmemachern wie Robert Redford oder Steven Soderbergh spricht, haben wir uns mit dem 59-jährigen Komponisten unterhalten. Nicht nur über Filme und Musik, sondern auch sein früheres Arbeitsleben, als Schlagzeuger der Red Hot Chili Peppers.

Herr Martinez, Sie sehen entspannt aus, scheinen die Tage als Stargast zu geniessen. Werden Sie in Hollywood nicht auch so behandelt?

Nein, keineswegs. Uns Komponisten bringt man in Hollywood etwa den gleichen Respekt entgegen wie einem Maurer oder Buchhalter.

Tatsächlich?

Das war zwar ein wenig sarkastisch ausgedrückt. Aber der Vergleich ist nicht abstrus, wirklich nicht.

Ihren Durchbruch in Hollywood schafften Sie 1989 mit «Sex, Lies and Videotape», Ihrer ersten Zusammenarbeit mit Regisseur Steven Soderbergh. Erstaunlicherweise enthält dieser Film wenig Musik.

Stimmt, ja. Steven war damals eher abgeneigt, was Musik anging. Für «Sex, Lies and Videotape» schuf ich auf seinen Wunsch nur 20 Minuten, was sehr wenig ist für einen Spielfilm. Er hat einen minimalistischen Ansatz, bis heute, auch wenn der Musikanteil in seinen Filmen zugenommen hat. Ich glaube, dass er der Ansicht ist, ein solider Film brauche keine Musik – und dass das Publikum selber denken soll. Da hat er nicht Unrecht. Denn Musik hat traditionell die Aufgabe, das Filmpublikum zu manipulieren, eine Reaktion zu kanalisieren. Und auch undichte Stellen zu reparieren.

«Ich schaue mir manchmal Filme an wie ein Doktor seine Patienten.»

Filmmusik dient als Mittel zur Reparatur? Von Regie-Fehlern?

Na, die wenigsten Regisseure würden das zugeben, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die Musik in vielen Filmen auch die Aufgabe hat, eine Lücke zu füllen. Sei es, weil eine Szene nicht ganz überzeugt, sei es, um ein Gefühl künstlich zu verstärken oder von Ungereimtheiten abzulenken. Ich schaue mir manchmal Filme an wie ein Doktor seine Patienten. Untersuche ihn auf Schwächen und überlege mir, was man dagegen mit Hilfe der Musik tun könnte.

Auch der Durchbruch für Martinez: Steven Soderberghs Film «Sex, Lies & Videotape» (1989)


Bei «Drive» überzeugte alles gleichermassen und trug zum Erfolg bei: Der Film, die Darsteller – und Ihre Musik.

Das habe ich gemerkt, ja. Denn ich habe mit dem Soundtrack zu «Drive» so viele Platten verkauft wie nie zuvor. Was eine grosse Ehre ist für mich, denn mit Filmsoundtracks schafft man es nur selten in die Charts. Auch, weil Filmmusik nicht für sich selber steht, sondern meist mit den Bildern zusammen funktioniert. Ich selber habe kaum Filmmusik in meiner Plattensammlung, denn ich finde es ehrlich gesagt langweilig, Scores ohne die Bilder und die Dialoge zu erleben. Daher bin ich stolz, wenn die Musik dazu beiträgt, einen Film zu komplettieren.

Das klingt sehr bescheiden. Ist Bescheidenheit in Hollywood nicht ein Zeichen von Schwäche?

Naja, so hart würde ich es nicht ausdrücken, zumal ich schon Selbstvertrauen habe. Aber tatsächlich ist es so, dass ich eine Schwäche habe, mir fehlen nämlich manchmal die Geschicke eines Verkäufers. Nach all den Jahren stelle ich immer wieder fest, wie wichtig es ist, seine musikalischen Ideen verkaufen zu können. Gerade, weil es so schwierig ist, über Musik zu reden. Man sagt ja zurecht: Über Musik zu sprechen wie ist wie über Architektur zu tanzen. Doch gerade bei «Drive» war die Zusammenarbeit sehr erfreulich, der Regisseur und ich waren uns einig. Das grösste Problem für mich stellte die Zeit dar. Ich hatte nur fünf Wochen, um 50 Minuten Musik zu komponieren und aufzunehmen.

Sie haben «Drive» in nur fünf Wochen vertont?

Ja. Zum Glück waren wir uns einig, dass der Soundtrack im Ambient-Stil à la Brian Eno gut passen würde. Eigentlich arbeite ich nicht besonders schnell, tue das auch nicht sehr gern, weil so die Zeit fehlt, Musik länger auf sich wirken zu lassen. Ich gehe darum davon aus, dass man erst nach mehrmaligem Hören sagen kann, ob man ein Musikstück wirklich liebt.

Bisher grösster Erfolg: Der Soundtrack zu «Drive» schoss 2012 auf Platz 1 der iTunes-Charts.

 

Heisst das, der Druck, in kürzester Zeit Output zu bringen – wie man es von der Plattenindustrie vernimmt – hat auch in Hollywood zugenommen?

Ja. Wobei es uns Filmmusikern womöglich noch am Besten geht, denn wir erhalten am Ende eines Arbeitstages einen Pay-Check. Ich habe kürzlich mit Flea (dem Bassisten der Red Hot Chili Peppers) über das Musikbusiness gesprochen. Und sogar er sagte mir: «Wir verdienen kein Geld mehr mit unseren Alben.» Gut, was «kein Geld» bei dieser Band genau bedeutet, entzieht sich meiner Kenntnis. (lacht). Aber er hat tatsächlich gesagt, dass sie seit zehn Jahren nur noch mit den Live-Shows Geld verdienen und die Alben dazu da sind, die Tourneen anzukurbeln. Wow! Wenn es sogar einer der grössten Bands der Welt so geht, wie muss es dann einem Singer-Songwriter gehen?

«Ich habe kürzlich mit Flea von den Chili Peppers gesprochen – und er sagte, dass sogar sie mit ihren Alben kein Geld mehr verdienen.»

Was heisst das für die Zukunft Ihrer Gilde?

Ich glaube, Musiker gehören zu einer gefährdeten Spezies von Berufsleuten. So wie alle Leute in kreativen Berufen. Denn es wird zunehmend bereits existierende Musik verwendet. Eines Tages werden Filme nur noch mit Zugriffen auf Klangbibliotheken kreiert, anhand von Parametereinstellungen. Es ist ein Fluch, aber eine Pizza kann man nicht downloaden, wohl aber Klänge, Bilder, Fotos… Ich sehe ziemlich schwarz, was kreative Berufe angeht.

Sie haben Flea, den Bassisten der Red Hot Chili Peppers erwähnt: Haben Sie eigentlich bereut, dass Sie nicht mehr in der Band sind?

Ja, als sie anfingen, Milliarden Dollars zu verdienen.

In den frühen 90er-Jahren?

Exactly (grinst). Aber, ganz ehrlich, ich vermisse es überhaupt nicht, auf einer Bühne zu stehen. Ich erhalte bis heute Einladungen, meine Filmmusik live aufzuführen. Und erteile stets Absagen. Denn ich habe mich nie wirklich wohl gefühlt auf der Bühne. Ich kreiere gern Musik, aber diese Abend für Abend zu reproduzieren, das reizt mich nicht.

Womöglich war der Ausstieg aus der Band auch die gesündere Entscheidung…

Stimmt, denn in den wenigen Jahren mit den Red Hot Chili Peppers tauchten bereits Probleme mit meinem Gehör auf. Ich merkte, dass sich etwas ändern musste, wenn ich Musiker bleiben wollte.

Ich dachte jetzt eher an die harten Drogen, die in den 80er-Jahren die Rockszene von LA aufzufressen schienen.

Das war so, ja. Der Wechsel ins Filmgeschäft war sicher auch aus diesem Grund vernünftig. Zumal ich neun Jahre älter bin als Anthony Kiedis (Sänger) und mir nur schwer vorstellen konnte, als alternder Herr auf die Bühnen zu steigen, unbekleidet, abgesehen von einer Socke über meinen Genitalien. (lacht)

Und doch haben Sie auf zwei frühen Alben der Chili Peppers mitgespielt – und wurden dafür 2012 gar in die Rock & Roll Hall of Fame aufgenommen.

Ja, was für mich eine wirklich grosse Ehre war. Und sehr freundlich von den anderen, mich mitzunehmen, immerhin ist es ja jetzt mehr als 25 Jahre her, seit ich nicht mehr in der Band bin. Ehrlich gesagt ging ich davon aus, dass sie diese Zeit mit mir längst vergessen hatten.

Cliff Martinez
Aufgewachsen in New York, arbeitete er zunächst als Sessionmusiker. Er begleitete u.a. Captain Beefheart und danach drei Jahre lang die Red Hot Chili Peppers am Schlagzeug. Doch Martinez fühlte sich hinter der Bühne wohler. Der selbsterklärte «Fan technischer Geräte aller Art» wechselte in die Filmmusik und gab 1989 mit dem Soundtrack zu Steven Soderberghs «Sex, Lies And Videotape» seinen Einstand. Mit Erfolg. Seither hat er mehr als 30 Filme vertont, darunter «Traffic», «Contagion», «Spring Breakers» oder «Drive». Seine Musik ist demnächst auch in Robert Redfords neuem Thriller «The Company You Keep» zu hören. Cliff Martinez ist 59 Jahre alt und lebt in Kalifornien.

Sie begannen als rhythmischer Rockmusiker, haben sich im Film aber eher mit atmosphärischen Soundtracks einen Namen gemacht. Tüfteln Sie monatelang an Sounds?

Ja, das mache ich tatsächlich am liebsten. Ich glaube, im 21. Jahrhundert besteht die Aufgabe eines Filmkomponisten darin, stimmige Sounds zu kreieren, Klangbilder zu erstellen. Früher, im letzten Jahrhundert, standen Harmonien und Orchestrierungen im Vordergrund. Ich war damals schon stärker an minimalistischer Musik interessiert, meine Leidenschaft sind neue Klänge und deren Manipulationen. Der Nachteil ist heutzutage, dass diese viel stärker verfügbar sind. Man kreiert einen Sound und schon wird er …

… gesampelt?

Genau. Und dann erzählt mir jemand, dass er diesen Sound in einer Tempo-Werbung gehört habe. Worauf ich antworte: Okay, den kann ich also nicht mehr verwenden…

Ist das schon mal so vorgekommen, dass Sie einen Ihrer Sound in einer Tempo-Werbung hörten?

(Zögert. Verwirft die Arme. Lächelt betreten) Ähm. Leider, ja.

Was spricht für Sie denn gegen den Einsatz grosser Melodien?

Melodien verlangen viel Aufmerksamkeit von den Zuschauern, dienen nicht immer dem Film. Denn Filmmusik sollte die Bilder begleiten, subliminal sein und sich nicht ins Scheinwerferlicht stellen. Mir geht es um Strukturen und Klänge. Und Steven Soderbergh geht es gleich. Deshalb harmonieren wir gut. Im Film «Traffic» gab es eine 3-Minuten-Szene, für die er sich nur einen einzigen Ton wünschte. 

Einen einzigen Ton für drei Minuten Bilder?

Ja, genau. Das war eine tolle Herausforderung. Keine Melodie, keine Harmonien, keinen Rhythmus. Nur eine Note, mit der ich über eine solch lange Zeitspanne eine Spannung aufbauen musste, indem ich Klang, Dynamik, aber auch Raum und Bandbreite veränderte. Solche Aufgaben reizen mich sehr.

Sie arbeiten aber nicht nur mit elektronischen Effekten. Auf Ihrer Website sieht man sie auch an einem sehr eigenartigen Instrument, dem Baschet Cristal.

Ja, dieses hat einen völlig eigenen Klang und eignet sich hervorragend für unheimliche Szenen. Auch Steel Drums haben einen speziellen Charakter, weshalb ich diese gerne verwende. Solche Instrumente setze ich bewusst organisch ein, ihre Klänge sind meist effektreich genug!

Sie sagen, Sie hören kaum Soundtrack-Alben. Welches sind die Ausnahmen?

Bernard Hermann («Psycho», «Taxi Driver», u.v.a.) und Ennio Morricone («Spiel mir das Lied vom Tod», u.v.a.). Was sie beide geschrieben haben, ist einfach aussergewöhnlich. Originell, emotional, vielschichtig. Musik, die brillant mit aber auch ohne die dazugehörigen Filme funktioniert. Grosse Kunst.

Erlauben Sie mir noch eine letzte Frage?

Klar.

Weil Sie sagen, dass Sie kaum Soundtrack-Alben besitzen. Welche Musik, die nicht für Filme geschrieben wurde, möchten Sie auf keinen Fall missen, weil sie starke Bilder in Ihrem Kopf auslöst?

Oh. Da fallen mir zwei Platten ein, ohne die ich nicht leben könnte: «Electric Ladyland» von Jimi Hendrix. Und «Trout Mask Replica» von Captain Beefheart. Beide Alben kenne ich seit meiner Kindheit – und beide sind zeitlos geblieben, voller Energie, voller Fantasie und Inspiration.


Früheres Arbeitsleben: Martinez’ war eine Zeit lang Drummer der Red Hot Chili Peppers.

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