Nach zwei Jahren im Einsatz: Flüchtlingshelfer Seelhofer kann nicht mehr

18 Monate lang kümmerte sich der Basler Baschi Seelhofer um geflüchtete Kinder und Jugendliche auf Chios. Jetzt ist er müde – aber noch lange nicht am Ziel.

«Auch wenn ich es mir nicht gern eingestehe, muss ich jetzt auf mich schauen.» Die letzten zwei Jahre hat Baschi Seelhofer in die Flüchtlingsarbeit investiert. (Bild: Hans-Jörg Walter)

Baschi Seelhofer, Sie sind seit Freitag wieder zurück in der Schweiz. Wie fühlt sich das an?

Es ist eine andere Realität hier, ich kann es noch nicht ganz fassen. Es ist alles bekannt, ich bin ja hier aufgewachsen, habe 28 Jahre gelebt in dieser Stadt, habe hier in der «Mitte» meine Maturarbeit geschrieben. Und gleichzeitig stehe ich jetzt an einem ganz anderen Ort.

Inwiefern?

Ich beobachte anders. Ich nehme die Leute, Emotionen, Momente ganz anders wahr, beurteile sie anders. Es gibt Dinge, die mir egal geworden sind. Und Situationen, die mich viel schneller wütend machen. Da geht es vor allem um Momente, in denen ich merke, dass sich die Leute ungerecht behandelt fühlen, dass sie das Gefühl haben, es gehe ihnen wahnsinnig schlecht. Dann denke ich: Okay, ich habe anderes erlebt in den letzten zwei Jahren.

Was war der Grund für Ihre Rückkehr?

Ich bin müde. Vor zwei Jahren sind wir mit unserem Projekt gestartet. 18 Monate habe ich auf Chios verbracht und war da sechs bis sieben Tage in der Woche besetzt. Das war sehr schön und ich habe es mit viel Leidenschaft getan und das tue ich immer noch. Bevor es aber so weit kommt, dass diese Leidenschaft, die Lust und die Energie abnehmen, brauche ich eine Pause. Obwohl ich das eigentlich nicht so gerne eingestehe, muss ich jetzt gerade auf mich schauen. Sonst verbrate ich mich selbst so sehr, dass ich gar nicht mehr handlungsfähig bin.

https://tageswoche.ch/form/portraet/waehrend-andere-in-seinem-alter-ausschlafen-stellt-er-einen-hilfseinsatz-auf-die-beine/

Was bedeutet es für das Projekt von «Be Aware and Share» in Chios, wenn Sie nicht mehr dort sind?

Das Projekt wird so lange weitergeführt, wie es gebraucht wird. Unser Bauchgefühl sagt uns, dass wir durch die momentane Entwicklung unsere Primarschule schliessen können, weil die Kids auf dem Festland oder der Insel in die reguläre Schule gehen können. Die Highschool und das Jugendzentrum werden noch am längsten weiterlaufen, wobei wir mit dem Gedanken spielen, Letzteres an Chios zu übergeben. Es wäre toll, wenn daraus auch ein Jugendhaus für griechische Teenager werden könnte. Ich selbst bin jetzt zwar zurück in der Schweiz, aber das restliche Koordinationsteam ist ja immer noch vor Ort. Ich arbeite weiterhin als Präsident des Vereins im Hintergrund. Aber ich konnte mit einem guten Gefühl gehen, weil ich weiss, dass fünf Top-Leute da sind, die das Projekt weiterführen.

«Die Spenden werden weniger, die Leute sind nicht mehr so aufmerksam und sensibilisiert, obwohl sich die Lage nicht signifikant verändert hat. Es stecken immer noch 50’000 Menschen in Griechenland fest.»

Was ist Ihr Fazit nach den vergangenen zwei Jahren?

Das waren die intensivsten, emotionalsten, schönsten und unvergesslichsten Jahre in meinem Leben. Ich war noch nie so nahe an der Realität. Ich habe gespürt und miterlebt, wie es anderen Individuen geht, was die europäische Politik auslösen kann, wie sich konkrete Entscheide auf das Leben der Leute auswirken. Und ja, es ist toll, dass wir diese Schulen aufgebaut haben und die Leute etwas davon haben. Aber für mich selbst war diese Zeit die grösste Schule. Ich durfte von anderen Menschen und anderen Kulturen lernen. Ein anderes Zusammenleben und eine wahnsinnig grosse Akzeptanz und Toleranz erfahren. Es ist eine Wechselwirkung: Wir bringen und geben nicht nur, sondern bekommen selbst auch sehr vieles. Das schätze ich sehr.

«Das Gärtlidenken muss aufhören. Wir müssen mutiger werden und andere Wege einschlagen.»

Die Debatte um die Situation in den Flüchtlingscamps ist in den Medien kaum mehr präsent. Haben Sie das vor Ort gemerkt?

Ja, das haben wir extrem gemerkt. Wenn es um die mediale Aufarbeitung von gewissen Themen geht, ist irgendwann ein Peak erreicht, wo das Thema ausgelutscht ist. Wir haben immer wieder Mühe mit dieser medialen Welle, denn wir sind dort unten und wissen, dass das Problem noch nicht gelöst ist. Die Spenden werden weniger, die Leute sind nicht mehr so aufmerksam und sensibilisiert, obwohl sich die Lage nicht signifikant verändert hat. Es stecken immer noch über 50’000 Menschen in Griechenland fest.

Haben Sie Verständnis für das schwindende Interesse an den Flüchtlingscamps?

Ich verstehe die Resignation der Lokalbevölkerung und dass es auch andere Themen gibt als die Flüchtlingskrise. Ich akzeptiere auch die Haltung der Leute, die politisch von einem anderen Ufer sind, und will sie nicht von etwas überzeugen. Aber ich sage immer: Ob du willst oder nicht, diese Flüchtlingskrise existiert, die Leute kommen nach Mitteleuropa und du musst einen Umgang damit finden.

Und wie sieht dieser Umgang in Ihrer Vorstellung aus?

Für mich ist schon lange der Zeitpunkt da, wo wir sowohl als Europa, aber auch als unabhängige Individuen, als Politiker, als Land oder Europäische Union mutiger werden und andere Wege einschlagen müssen. Dieses Gärtlidenken muss aufhören. Jeder schaut nur auf seinen Garten und möchte, dass dieser so schön blüht wie möglich, und holt dafür Dünger von aussen. Wir sind so abhängig von anderen Ländern, anderen Menschen, anderen Kulturen und trotzdem so verschlossen. Das ärgert mich und macht mir auch ein bisschen Angst.

Wie haben Sie dieses Gärtlidenken in Ihrer Arbeit erlebt?

Die ganzen Aufnahmeverfahren sind eine grosse Problematik, weil sie so extrem lange dauern und kompliziert sind. Jedes Land arbeitet für sich. Dann hast du beispielsweise einen 13-jährigen Jungen, der seit eineinhalb Jahren alleine auf der Insel ist. Sein Vater ist in Deutschland und die griechischen und deutschen Behörden kriegen es nicht hin, diesen Jungen zu ihm zu bringen. In solchen Situationen heisst es dann immer, dass diese Prozesse halt länger dauern. Dass es jetzt statt zwei Wochen doch zwei Monate geht, kannst du zwar im Büro sagen, aber nicht einem Jungen, der im Zelt schläft.

«Wenn man Jugendliche zwei Jahre lang wie den letzten Dreck behandelt, muss man nachher nicht erwarten, dass sie als normalfunktionierende Menschen bei uns ankommen und sich integrieren.»

Was bedeutet die Zeit in den Camps für die Flüchtlinge?

Je länger diese Leute im luftleeren Raum sind und in diesen Camps leben, desto mehr stumpfen sie ab. Das Essen ist mehr schlecht als recht, im Sommer hast du hygienische Probleme, im Winter stirbst du fast vor Kälte. Du siehst jeden Tag einen Selbstmordversuch und Rechtsradikale, die das Camp angreifen. Was für ein Prozess geht da bei einem Jugendlichen ab? Wenn man sie zwei Jahre lang wie den letzten Dreck behandelt, muss man nachher nicht erwarten, dass sie als normalfunktionierende Menschen bei uns ankommen und sich integrieren. Das funktioniert nicht.

Sie werden im September eine neue Stelle im Integrationsbereich antreten.

Genau. Es handelt sich um ein 24-monatiges Pilotprojekt der Bildungsintegration Baselland, das spätmigrierte junge Erwachsene zwischen 18 und 24 Jahren begleitet, die aus dem Bildungssystem rausfallen. Das Ziel ist es, sie so zu fördern und Fähigkeiten erarbeiten zu lassen, dass sie dann eine Vorlehre A oder eine Lehre absolvieren können. Das ist das, was wir als ersten Schritt auch in Chios mit den jungen Erwachsenen und Teenagern gemacht haben. Es geht dann auch darum, das Projekt auf einer unkonventionelleren Ebene weiterzuentwickeln. Von dieser Seite kann ich durch meine Erfahrungen aus den letzten zwei Jahren viel beisteuern.

Und dann geht es irgendwann wieder zurück nach Griechenland?

Nicht nach Chios. Wenn du humanitäre Hilfsarbeit leistest und in Krisengebieten tätig bist, ist es immer das Ziel einer NGO, so kurz wie möglich dort zu sein. Wir wollen irgendwann von dieser Insel weg. Momentan schmieden wir Pläne mit den lokalen Behörden, damit Einschulungen und Förderklassen möglich werden. Für die Zukunft heisst das, dass wir nachher vielleicht Kinder haben, die nur zwei oder drei Wochen auf der Insel sind. Der Tag X wird kommen, wo das Projekt kleiner wird und wir es den lokalen Behörden, einer griechischen Organisation oder einer anderen adäquaten Institution übergeben können.

Ist bis dahin die Finanzierung gesichert?

Die Finanzierung ist nie gesichert. Wir kämpfen jeden Tag darum. Es sind immer noch rund 300 Kinder und Jugendliche auf der Insel, die wir unterstützen. Mit Crowdfunding und in Zusammenarbeit mit Stiftungen und Privaten haben wir jetzt aber einen grossen Effort geleistet. So wie das Projekt jetzt steht, ist es noch bis etwa nächsten Frühling gesichert. Wir müssen dann im Winter wieder schauen, wie es weitergeht und neue Geldgeber finden.

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