Frau Sanyal, wie können Freunde und Familie nach einer Vergewaltigung helfen?

Ist «Opfer» ein sinnvoller Begriff nach einer Vergewaltigung? Braucht es Therapien? Sollten sich Vergewaltiger und Vergewaltigte nach dem Verbrechen begegnen? Die Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal versucht seit Jahren, Aufklärung in den Diskurs zu bringen – und Heilung. Ein Gespräch.

Dr. Mithu Melanie Sanyal ist Kulturwissenschaftlerin, Autorin und Journalistin. Für ihre Hörspiele und Feature – vor allem für den «Westdeutschen Rundfunk» – wurde sie bereits dreimal mit dem Dietrich Oppenberg Medienpreis der Stiftung Lesen ausgezeichnet. Sie hat eine regelmässige Kolumne in der taz. 2009 erschien ihre Kulturgeschichte des weiblichen Genitals „Vulva" im Wagenbach Verlag. Das Buch wurde in mehrere Sprachen übersetzt und gilt inzwischen als Standartwerk. 2013 schrieb sie zusammen mit den #aufschrei Frauen „'Ich bin kein Sexist, aber ...' Sexismus erlebt, erklärt und wie wir ihn beenden" (Orlanda), 2016 erschien ihre Debattengeschichte „Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens" in der Edition Nautilus.

(Bild: Regentaucher | Fotografie)

Ist «Opfer» ein sinnvoller Begriff nach einer Vergewaltigung? Braucht es Therapien? Sollten sich Vergewaltiger und Vergewaltigte nach dem Verbrechen begegnen? Die Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal versucht seit Jahren, Aufklärung in den Diskurs zu bringen – und Heilung. Ein Gespräch.

Mithu Sanyal zeigt in ihrem Buch «Vergewaltigung», warum wir zu jahrhundertalten Geschlechterstereotypen neigen, wenn wir über sexualisierte Gewalt sprechen – die Autorin und Kulturwissenschaftlerin (mehr zur Person) bringt Aufklärung in einen irrationalen Diskurs.

Frau Sanyal, in Ihrem Buch «Vergewaltigung» stellen Sie infrage, ob der Begriff des «Opfers» immer sinnvoll ist. Warum?

Ich hinterfrage den Begriff nicht pauschal. Mich interessiert, welche Begriffe wir brauchen, damit sich Menschen, denen eine Vergewaltigung widerfahren ist, richtig beschrieben fühlen.

Fühlen sich Frauen nicht als «Opfer»?

Es gibt viele, für die die Selbstbezeichnung Opfer wichtig ist. Aber ich bin auch vielen Frauen begegnet, die sich durch den Begriff entmündigt fühlen, sie verbinden damit ein Stigma, das sie kaum wieder loswerden: einmal Opfer, immer Opfer. Natascha Kampusch etwa sagte, sie wolle kein Opfer sein, denn sonst würde sie nachher niemand mehr als normalen Menschen akzeptieren.

Sind diese Frauen denn keine Opfer?

Viele Frauen empfanden sich vielleicht in einer bestimmten Situation als Opfer, als völlig hilflos. Aber das heisst nicht, dass sie sich deshalb auch den Rest ihres Lebens so fühlen. Viele Frauen schaffen das Gegenteil: Sie führen trotz Vergewaltigung weiter ein selbstbestimmtes Leben.

Woher kommt die Vorstellung, dass vergewaltigte Frauen für immer gezeichnet sind?

Das hat unter anderem mit Vorstellungen über weibliche Ehre zu tun. Historisch wurde die Ehre der Frau in ihrem Körper verortet, in ihrem Jungfernhäutchen – das es nicht gibt – oder in ihrem Status als ehrbare Ehefrau, während die Ehre des Mannes im öffentlichen Raum verortet wurde. Wenn sie diese Ehre verlor, verlor sie damit auch ihren Platz in der Gesellschaft.

Eine vergewaltigte Frau hat in dieser Logik keine Ehre mehr.

Ja, sie ist quasi entehrt. Beschmutzt. Bis heute zirkuliert die Idee, man habe einer Frau das Innerste weggenommen. Das englische Wort «Rape» kommt von der germanischen Wortwurzel «Raub».

Aber Vergewaltigung ist doch ein schlimmes Trauma?

Ja, natürlich, für viele ist es das. Aber eben nicht für alle und nicht für alle auf dieselbe Weise. Menschen gehen damit sehr verschieden um. Bei jedem anderen Verbrechen wissen wir, dass es unterschiedliche Wege der Verarbeitung gibt, aber bei Vergewaltigung reagieren wir schnell misstrauisch, wenn Menschen ihr Leben weiterleben wollen.

«Wir wissen, dass es unterschiedliche Wege der Verarbeitung von Verbrechen gibt, aber bei Vergewaltigung reagieren wir schnell misstrauisch, wenn Menschen ihr Leben weiterleben wollen.»

Inwiefern misstrauisch?

Ein Beispiel: Die Autorin Virginie Despentes wurde beim Trampen vergewaltigt, als sie danach wieder trampte, sagte man ihr: «Ach, dann hast du wohl immer noch nicht genug.» Aber sie wollte sich nicht die Freiheit nehmen lassen, so zu leben, wie sie es möchte. Und es ist auch möglich, dass Menschen Dinge erlebt haben, die sie nachhaltiger prägen als ihre Vergewaltigung. Doch Vergewaltigung gilt bei uns als «das Schlimmste, das einer Frau passieren kann». Für viele ist das ein Problem, weil das die Heilung erschwert.

Sollten wir den Opferbegriff abschaffen?

Auf keinen Fall. Politisch und juristisch ist er notwendig. Vor Gericht geht es um Schuld und Bestrafung, dafür braucht es einen eindeutigen Täterstatus. Mir geht es um die gesellschaftliche und psychologische Dimension – sie hat eine Auswirkung darauf, wie Menschen sich selber sehen nach dem Verbrechen. Ein einseitiger Opferbegriff läuft Gefahr, Menschen abzusprechen, dass sie selbstbestimmte Personen sind.

Was wäre eine Alternative?

Ich wünsche mir, dass wir über Gewalt sprechen können, ohne Stereotypen zu bedienen, nämlich: Frauen seien passiv, dauerverletzlich und schwach.

Besteht nicht die Gefahr, dass man mit der Infragestellung des Opferbegriffes denjenigen in die Hände spielt, die behaupten, Frauen und Minderheiten würden sich nur als Opfer aufspielen?

Ja, es gibt diese Gefahr, aber diejenigen, die so denken wollen, denken ohnehin so. Umgekehrt weiss ich von so vielen Menschen, wie befreiend und wichtig eine kritische Debatte für sie ist. Eine Frau kam nach einer Lesung zu mir und sagte, sie sei vor Kurzem vergewaltigt worden, die kritische Auseinandersetzung mit dem Opferbegriff helfe ihr dabei, dass sie ihre Identität nicht von dem Verbrechen definieren lässt. Alleine dafür lohnt sich das alles.

Was hat Vergewaltigung mit Geschlechter-Stereotypen zu tun?

Heutzutage herrscht immer noch die Vorstellung, Frauen seien sexuell passiv und stets bedroht durch männliche Triebe. Natürlich ist eine Vergewaltigung genau dies: Eine Situation der totalen Bedrohung und Hilflosigkeit. Aber warum wird dies auf die gesamte weibliche Sexualität übertragen? Nicht zuletzt ist ja diese Idee von der passiven Frau, die man erobern kann, ein zentraler Ursprung sexualisierter Gewalt. Wie sollen wir Frauen unser Ideal einer selbstbestimmten, aktiven weiblichen Sexualität umsetzen, wenn sie insgesamt als bedroht und passiv gedacht wird?

Was schlagen Sie vor?

Es gibt ein paar Mythen, die ich gerne hinterfrage. Bis heute herrscht die Vorstellung, Sexualität bestehe aus einem Penis, der die Vagina penetriert. Doch Penetration wird automatisch mit Männlichkeit assoziiert, also dem, was der Penis tut – der Anteil der weiblichen Sexualität geht unter. Die Autorin Bini Adamczak hat deshalb vorgeschlagen, nicht nur von Penetration, sondern auch von Circlusion zu sprechen.

«Wie sollen wir Frauen unser Ideal einer selbstbestimmten, aktiven weiblichen Sexualität umsetzen, wenn sie insgesamt als bedroht und passiv gedacht wird?»

Was bedeutet das?

Mit Circlusion, also Umschliessung, lässt sich auch der aktive Akt der Vagina beschreiben. Denn das Umschliessen ist ein aktiver Akt. Wir können das mit dem «Nussknacken» vergleichen, da ist ja auch klar, dass der Nussknacker etwas aktiv tut. Was ich damit sagen will: Frauen sind nicht nur passiv. Klar, es gibt strukturelle Machtverhältnisse und sexualisierte Gewalt gegen Frauen, doch deswegen haben Männer nicht immer mehr Macht als Frauen und nicht per se den aktiven Part.

Sprechen wir über Heilung nach einer Vergewaltigung. Was gibt es da für Ansätze?

Ich habe mit vielen Frauen in Beratungsstellen gesprochen, sie adressieren ihre Klientinnen zum Beispiel nicht automatisch als Opfer, es geht vielmehr darum, welches Wort die Betroffene selbst verwenden möchte. Es gibt Frauen, für die Opfer wichtig ist, weil damit klar benannt ist, dass einem etwas angetan worden ist und man daran keine Schuld trägt. Andere sprechen lieber davon, dass ihnen etwas Schlimmes widerfahren ist oder sie etwas Schlimmes erlebt haben. Es gab in Bezug auf Begriffe schon viele Vorschläge, zum Beispiel den Begriff «situatives Opfer», um deutlich zu machen, dass sich der Opferstatus auf eine bestimmte Situation im Leben beziehen kann, aber eben nicht auf das ganze Leben. Oder «Widerfahrnis». Es gibt nicht den einen Begriff, der für alle richtig ist. Aber für den Heilungsprozess ist es wichtig, dass man sagen kann: «Jetzt fühle ich mich als Opfer, jetzt aber nicht mehr», oder umgekehrt: «Ich habe mich jahrelang nicht als Opfer gefühlt, aber jetzt schon.»

Sie haben mit vielen betroffenen Frauen gesprochen. Was haben Sie über Verarbeitungsstrategien herausgefunden?

Was mich zurzeit sehr bewegt, ist die «restorative justice». Es gibt in Deutschland die Möglichkeit, aussergerichtlich einen Ausgleich zu verhandeln, wenn Betroffene dies wünschen. Das nennt sich Täter-Opfer-Ausgleich und ist in unserem Strafrecht vorgesehen. Das gelingt nur, wenn alle es wollen und mit der Übereinkunft zufrieden sind. Wenn es für die Betroffenen nicht befriedigend ist, kommt der Fall vor Gericht und geht den normalen Gerichtsweg.

Ist das eine gute Möglichkeit?

Betroffene berichten, dass dieser Weg, wenn er gut läuft, eine Art Katharsis ausgelöst hat, weil ein Prozess in Gang kommt, der über die einfache Strafe hinausgeht. Es kommt dabei zu moderierten Gesprächen mit dem Täter. Dabei kann man unter Umständen richtig durcharbeiten: «Warum hat der mir das angetan?» Es kann entlastend sein, ausführlich zu hören, dass die Gewalt mit Gründen zu tun hat, die wirklich beim Täter liegen und nicht bei einem selbst.

«Es kann entlastend sein, ausführlich zu hören, dass die Gewalt mit Gründen zu tun hat, die wirklich beim Täter liegen und nicht bei einem selbst.»

Empfinden alle, die eine Vergewaltigung erlebt haben, solche Gespräche als entlastend?

Nein, für andere ist es genau umgekehrt, sie wollen den Täter nie wieder sehen müssen. Für sie ist vielleicht wichtig, dass das Gericht schlicht festhält, dass einem etwas angetan wurde und der Täter bestraft wird. Wenn es denn überhaupt dazu kommt, denn Verurteilungen in Vergewaltigungsfällen sind verhältnismässig selten, weil es häufig keine Zeugen gibt und Aussage gegen Aussage steht.

Was können die Familie oder der Freundeskreis tun?

Wirklich offene Fragen stellen und die Betroffenen nicht so behandeln, als wären sie nun andere Menschen als vorher. Es wird von vielen als stigmatisierend empfunden, wenn ihr Umfeld eine Vergewaltigung als Erklärung für alle ihre Probleme heranzieht. Für viele ist es zudem wichtig, dass ihr Umfeld akzeptiert, wenn sie sagen: «Jetzt ist gut, ich hab das durch, ich lebe jetzt mein Leben weiter.» Und dass nicht alle sagen: «Bist du sicher? Willst du nicht doch noch eine Therapie machen?»

Sind Therapien nicht wichtig?

Therapien können helfen. Manche Therapien schaden auch. Das kommt auf die Person an. Oft schicken Familie oder Freunde die Frauen in Therapien, weil sie denken, sonst würden die Frauen alles verdrängen. Das kann sehr entmündigend wirken, denn die Botschaft dabei ist: «Du bist dem, was passiert ist, ausgeliefert, du hast keine Kontrolle, die Vergewaltigung lauert in dir wie eine tickende Zeitbombe.»

Aber holt einen eine Vergewaltigung nicht doch oft ein?

Natürlich kann das Erlebte wieder hochkommen. Aber es muss nicht. Das Umfeld oder auch Therapien sollten an dem anknüpfen, was Betroffene selbst tun und wollen, um mit der Situation klar zu kommen. Denn sie tun ja Dinge, um es auszuhalten. Sie sind meistens nicht einfach passiv allem ausgeliefert. Verdrängen kann unter bestimmten Umständen auch eine sinnvolle Handlung sein, es kann bedeuten, dass der Zeitpunkt selbst ausgewählt wird, an dem eine Auseinandersetzung möglich ist.

Vor Kurzem erschien das Buch «South of Forgiveness» der Isländerin Thordis Elva. Sie hat es zusammen mit dem Mann, der sie vergewaltigte, geschrieben. Ein irritierendes Vorgehen.

Das finde ich nicht. Das Buch ist ja das Ergebnis eines viele Jahre dauernden gemeinsamen Verarbeitungsprozesses, und es ist sehr beeindruckend. Gerade auch, weil sich der Täter, Tom Stranger, seiner Tat wirklich stellt und Verantwortung dafür übernimmt. Das sind Geschichten, die wir selten hören. Deshalb fand ich es so traurig, dass es Proteste dagegen gab, mit dem Argument: «Wie kann sie ihm das verzeihen?»

Was waren das für Proteste?

In London gab es eine Petition, damit die beiden nicht bei dem Women of the World Festival auftreten durften. Es gab eine Demonstration gegen ihre Lesung in der Royal Festival Hall. Einige Leserinnen warfen Elva vor, sie würde anderen Opfern vermitteln, Vergewaltigung sei nicht so schlimm. Andere mutmassten, es wäre wohl gar keine echte Vergewaltigung gewesen, sonst könnte Elva nicht auf diese Weise handeln. Aber das ist doch Quatsch, ihr ging es um ihren eigenen Fall, um ihre Geschichte, sie hat nicht gesagt, dass alle mit ihrem Vergewaltiger reden sollen. Auch hat sie nicht gesagt, Vergewaltigung sei nicht so schlimm. Wie können wir einer Person absprechen, ihren eigenen Weg der Heilung zu gehen? Und wie können wir uns als Gesellschaft die Chance entgehen lassen, daraus zu lernen? In diesem konkreten Fall handelte es sich nicht zuletzt um eine Vergewaltigung, die hätte verhindert werden können. Und zwar durch bessere Aufklärung darüber, was Konsens wirklich heisst.

«Männer werden kaum in einer Position der Passivität, des Ausgeliefertseins gedacht, sondern immer als Täter, Penetrierer, Akteure.»

Sprechen wir über Männer: Frauen werden am häufigsten vergewaltigt. Aber auch Männer werden, vor allem von anderen Männern, vergewaltigt. Überhaupt sind Männer insgesamt häufiger Opfer von Gewalt als Frauen.

Man stösst gesellschaftlich auf riesige Widerstände, wenn man Männer als Opfer sieht. Männer werden kaum in einer Position der Passivität, des Ausgeliefertseins gedacht, sondern immer als Täter, Penetrierer, Akteure. Das ist für die betroffenen Männer schlimm.

Woher diese Widerstände?

Die Sprachlosigkeit über männliche Opfer rührt auch daher, dass für Männer Vergewaltigung durch andere Männer oft mit der Schmach einer angeblichen Homosexualisierung verbunden ist. Männer fürchten, zusätzlich zum erlebten Horror der Vergewaltigung, als schwul, entmännlicht, also feminisiert zu gelten. Doch langsam entwickelt sich eine Diskussion über den Missbrauch von Männern und Knaben. Oder über die Vergewaltigung von Männern in Gefängnissen.

In Ihrem Buch geht es auch um Täterbilder. Während Frauen einseitig als schwache Opfer dargestellt werden, erscheinen Täter wiederum als absolut monströs.

Es wird oft wahnsinnig intensiv über Täter berichtet, sie werden zu gesellschaftlichen Sündenböcken, an denen das Böse schlechthin exorziert wird. Wenn man so denkt, muss man sich nicht eingestehen, dass Gewalt häufig kein Ausnahmezustand, sondern die Normalität ist – sie ist in jedem Menschen angelegt. Genauso, wie jeder Mensch verletzlich ist…

Was ist Ihre Erklärung für das Phänomen?

Meine These ist: Da wir kein gesellschaftliches Konzept für eine Heilung nach einer Vergewaltigung haben, haben wir auch kein Konzept für den Wiedereintritt von Vergewaltigern in die Gesellschaft.

Die Gesellschaft glaubt nicht, dass Vergewaltiger sich «bessern können»?

Vergewaltiger erscheinen als Antithese der Gesellschaft, als nicht rehabilitierbar. Aber was ist mit denen, die bereuen, die ihre Tat aufarbeiten wollen, etwas gutmachen, Verantwortung übernehmen wollen? Wir können für etwas nur Verantwortung übernehmen, wenn es unseren Selbstwert nicht komplett zerstört. Mir geht es hier auch um die Frage der Prävention: Wenn es keine Aussicht auf Rehabilitation gibt, dann haben Täter gar keine andere Möglichkeit, als mit der Gewalt immer weiterzumachen. Damit meine ich mitnichten, dass es die Opfer sind, die irgendwie ihren Vergewaltigern vergeben müssen, oder überhaupt irgendetwas müssen. Ich spreche von gesellschaftlichen Möglichkeiten oder Dialogen.

«Da wir kein gesellschaftliches Konzept für eine Heilung nach einer Vergewaltigung haben, haben wir auch kein Konzept für den Wiedereintritt von Vergewaltigern in die Gesellschaft.»

Welche Möglichkeiten wären das?

Es braucht einen ehrlicheren Umgang mit Gewalt, wir müssen offen darüber sprechen, dass Gewalt passiert und es nicht nur die paar «faulen Äpfel» sind, die die ansonsten tolle Stimmung vermiesen. Auf diese Weise wäre es auch möglich, über Täterschaft nachzudenken, ohne sie komplett aus dem Menschsein zu verbannen. Sonst tun wir letztlich das Gleiche wie die Täter: dehumanisieren. Aber wir können als Gesellschaft doch nicht wie die angeklagten Täter agieren, sondern müssen gerade anders mit Menschen umgehen und mit gutem Beispiel vorangehen.

Ähnlich verhält es sich mit dem Mythos vom triebgesteuerten Mann, das ist ja auch eine dehumanisierende Vorstellung.

Diese Vorstellung entstand im 18. und frühen 19. Jahrhundert, der Mann galt als eine Art Dampfkessel, der angeblich unter ständigem sexuellem Druck stehe und ejakulieren müsse, in Frauen hinein. Onanie war extrem verpönt. Es gab den Diskurs, es bräuchte genügend Zugang zu Prostituierten, und es wurde sogar nahegelegt, Männer sollten besser vergewaltigen als zu onanieren. Männer galten also als Menschen, die sich nicht beherrschen können. Aus dieser Zeit stammt auch die Vorstellung, Frauen dürften sich nicht zu aufreizend kleiden, um den Mann nicht zu provozieren.

Darauf bezogen sich 2011 auch die weltweiten Slutwalks, die «Schlampenmärsche», an denen Hunderttausende Frauen gegen sexualisierte Gewalt protestierten.

Genau, das war eine Kritik am Dampfkesselmodell. Auslöser war ein Polizist in Toronto, der sagte, Frauen sollten sich weniger sexy anziehen, um nicht vergewaltigt zu werden. Daraus entstanden die «Slutwalks», mit der Botschaft: «Wir wollen uns anziehen, wie wir wollen, und trotzdem nicht vergewaltigt werden! Wir sind nicht Freiwild, bloss weil wir sexy angezogen sind.» Es wurde also kritisiert, welche Auswirkung das Dampfkesselmodell auf Frauen hat. Aber es wurde nicht in Bezug auf Männer reflektiert. Was heisst das für Männer, wenn das Bild vorherrscht, sie würden alles bespringen, was nicht bei drei auf den Bäumen ist?

Aber ist Männlichkeit nicht auch durch Souveränität und Selbstbeherrschung definiert? Durch die Vorstellung also, Männer würden heldenhaft ihr Verlangen kontrollieren?

Ja, aber wir müssen hier auch die Frage der Herkunft mitbedenken. Natürlich wird der bürgerliche weisse Mann als kontrolliert, souverän und zivilisiert dargestellt, die Vorstellung vom Dampfkessel betrifft vor allem Männer aus der Arbeiterklasse oder nichtwestliche Männer. Der triebgesteuerte Schwarze oder heute der muslimische Vergewaltiger ist ein koloniales Bild.

«Was heisst das für Männer, wenn das Bild vorherrscht, sie würden alles bespringen, was nicht bei drei auf den Bäumen ist?»

Sie beschreiben in Ihrem Buch, warum es in den USA in den 1970er-Jahren für schwarze Frauen so schwer war, in der Anti-Rape-Bewegung mitzumachen.

Ja, weil die Anti-Rape-Bewegung eben mit massiv rassistischen Klischees über schwarze Männer agierte, was geschichtlich ja bis zum Rechtfertigen von Lynchmorden ging. Die Frauenbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts wurde von der schwarzen Bürgerrechtsbewegung abgespalten durch das Stereotyp der schwarzen Männer, die weisse Frauen vergewaltigten. Die weisse Frauenbewegung der 1970er-Jahre hat viele dieser Stereotype unhinterfragt übernommen. Und einige Elemente wiederholen sich teilweise.

Inwiefern?

Die Feministin Alice Schwarzer behauptet, dass 70 bis 80 Prozent der Vergewaltigungen in Köln von Türken begangen werden und muslimische Männer die grösste Gefahr seien. Sie behauptet, das hätte ihr ein leitender Polizeibeamter unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählt. Wer so etwas sagt, muss seine Quelle nennen, das kann man nicht machen! Alice Schwarzer argumentiert ähnlich wie die Feministin Susan Brownmiller in den 1970er-Jahren: Brownmiller schaute sich Gerichtsakten an und sah: Vergewaltiger sind vor allem schwarze Männer! Aus diesen Zahlen leitete sie ab, dass schwarze Männer tatsächlich mehr vergewaltigen. Heute wissen wir: Man kann die angezeigten Delikte nicht zum Ausgangspunkt nehmen, weil zum Beispiel schwarze oder andere nicht-weisse Männer eher angeklagt und erst recht eher verurteilt wurden als weisse Männer.

Es gibt auch andere Feministinnen als Alice Schwarzer.

Ja, zum Glück. Ich denke, dass die aktuellen Frauenbewegungen sensibler sind. Der Women’s March in den USA hat einen zentralen Schwerpunkt auf Rassismus gelegt. Im Vergleich zu den 1970er-Jahren gibt es ein grösseres Bewusstsein dafür, wie unterschiedlich Frauen sind und dass zum Beispiel Geschlecht nicht für alle die entscheidendste Diskriminierungskategorie darstellt.

Bekommen Sie den Vorwurf, das Problem zu verharmlosen? Dass wir ernst nehmen sollten, wenn wir mit den Geflüchteten eine grosse Gruppe von gewaltbereiten Männern ins Land lassen?

Den Vorwurf höre ich oft, aber er ist statistisch falsch. Geflüchtete oder Migranten vergewaltigen nicht mehr. Es ist komplexer. Sexualisierte Gewalt gibt es in allen Nationalitäten, in allen Schichten und Kulturen, und es gibt unzählige Gründe dafür, warum Menschen so etwas tun. Gleichwohl stimmt es natürlich, dass die Migrationsbewegung uns vor neue Herausforderungen stellt. Eine davon: Es gibt jetzt relativ viele junge Männer im öffentlichen Raum, weil sie keine anderen Orte haben. Und es gibt viele kulturübergreifende Missverständnisse. Zum Beispiel, dass manche von diesen Männern offenbar denken, die Frauen in Deutschland seien alle sexuell freizügig. Ich denke, hier ist viel Aufklärung und Verständigung notwendig.

Sobald ein Geflüchteter sexualisierte Gewalt ausübt, läuft das auf allen Kanälen, während wir über deutsche Täter wenig hören.

Der Psychologe Ahmad Mansour, der mit gewalttätigen muslimischen Jugendlichen arbeitet, ist der Meinung: Wir Muslime haben die Ehrenmorde, ihr Christen nicht, bei euch sind das Einzelfälle.

Ich schätze Achmad Mansours Arbeit mit dem Projekt «Heroes» sehr. Doch Mansour arbeitet unter anderem mit Fällen, wo Brüder ihre Schwestern umbringen, weil sie einen Freund haben. Wenn du dir die extremen Fälle anschaust und daraus eine allgemeingültige Regel ableitest, finde ich das problematisch. Wenn ich mit rechten, nationalistischen deutschen Jugendlichen spreche, werde ich auch auf Erschreckendes stossen. Aber das heisst weder, dass alle Deutschen Nazis sind, noch dass «der Islam» so frauenfeindlich ist. Trotzdem ist es wichtig, sich mit der Rolle von Religion bei diesen konkreten Jugendlichen auseinanderzusetzen, wenn wir diesen konkreten Kids helfen wollen. Wir müssen uns auch damit auseinandersetzen, wie Religion zurzeit dazu benutzt wird, um Menschen zu radikalisieren. Aber, und das ist die Erfahrung aus allen Präventionsprojekten, die ich kenne, die beste Prävention ist Integration und Dialog.

Was heisst das?

Wir müssen uns an einen Tisch setzen und fragen: Wie können wir unser aller problematische Geschlechtervorstellungen angehen? Ohne dieses dauernde «ihr und wir». Mehr im Sinne von: Was können wir voneinander lernen? Wo haben alle ihre Baustellen? Besonders die Medien sind in der Verantwortung: Was skandalisieren sie auf welche Weise? Sobald ein Geflüchteter sexualisierte Gewalt ausübt, läuft das auf allen Kanälen, während wir über deutsche Täter wenig hören. Und auch nicht darüber, was deutsche Männer in anderen Ländern, zum Beispiel in asiatischen, so machen. Und wir hören kaum über die sexualisierte Gewalt, die Geflüchteten angetan wird. Dabei sind die statistisch viel häufiger davon betroffen.

Was steckt genau hinter dieser unterschiedlichen Art und Weise der Skandalisierung?

Uns muss klar sein, dass es in Debatten über Geschlecht und Sexualität nie einfach um Geschlecht und Sexualität geht, sondern dass diese Themen politisch instrumentalisiert werden. In Debatten über die «Sexualität der anderen», «der Muslime» oder von wem auch immer, geht es eben auch darum, Grenzen zu ziehen, zu definieren, wer dazugehört und wer nicht, wer zu «den Deutschen» gehört, zu «den Europäern», und wer nicht. Es geht darum, Nation oder «Volk» zu konstituieren.




Dr. Mithu Melanie Sanyal ist Kulturwissenschaftlerin, Autorin und Journalistin. Für ihre Hörspiele und Feature – vor allem für den «Westdeutschen Rundfunk» – wurde sie bereits dreimal mit dem Dietrich Oppenberg Medienpreis der Stiftung Lesen ausgezeichnet. Sie hat eine regelmässige Kolumne in der taz. 2009 erschien ihre Kulturgeschichte des weiblichen Genitals «Vulva» im Wagenbach Verlag. Das Buch wurde in mehrere Sprachen übersetzt und gilt inzwischen als Standardwerk. 2013 schrieb sie zusammen mit den #aufschrei-Frauen «‹Ich bin kein Sexist, aber…› Sexismus erlebt, erklärt und wie wir ihn beenden» (Orlanda), 2016 erschien ihre Debattengeschichte «Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens» in der Edition Nautilus. (Bild: Regentaucher | Fotografie)

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Das Interview erschien zuerst auf «Geschichte der Gegenwart».

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