«Frauen sind in Bosnien besser qualifiziert»

Im Krieg flüchtete Enisa Bekto nach Österreich. Heute beschäftigt die erfolgreichste Geschäftsfrau Bosnien-Herzegowinas 500 Mitarbeiter aus allen Volksgruppen.

Enisa Bekto, 43, kehrte nach dem Krieg aus dem Exil zurück und wurde erfolgreiche Unternehmerin.

(Bild: Krsto Lazwarević)

Im Krieg flüchtete Enisa Bekto nach Österreich. Heute beschäftigt die erfolgreichste Geschäftsfrau Bosnien-Herzegowinas 500 Mitarbeiter aus allen Volksgruppen.

In Goražde, wo die Drina friedlich an der Innenstadt vorbeifliesst, sind die Autos ein wenig neuer und teurer als im Rest des Landes. Dabei wurde das Städtchen während des Krieges besonders hart getroffen. Da es im Tal liegt, konnte man es leicht umzingeln. Jahrelang verlief die Front an der Stadtgrenze. Heute liegt Goražde an der Grenze zwischen der mehrheitlich von Bosniaken bewohnten Föderation und der vor allem von bosnischen Serben bewohnten Republik Srpska.

In Enisa Bektos Unternehmen Bekto Precisa, das Maschinen und eine Vielzahl von Produkten herstellt, arbeiten aber nicht nur Bosniaken aus Goražde. Täglich bringen zwei Busse bosnische Serben aus dem nahe gelegenen Foča in die Werkhallen.

Frau Bekto, in Bosnien-Herzegowina dominieren in Wirtschaft und Politik die Männer. Welche Rolle spielt es da, dass Sie eine Frau sind?

In Europa, und somit auch in Bosnien-Herzegowina, spielt die Gender-Frage eine immer grössere Rolle und es wird in diesem Bereich einiges getan. Frauen finden hier genauso ihren Platz wie in Wien und im Rest Europas. Wie man an mir sieht, ist es möglich, dass Frauen ihren Platz in der Wirtschaft haben.

In der Broschüre Ihres Unternehmens sind überwiegend Frauen abgebildet. Aber reden wir Klartext, wie viele Frauen arbeiten denn hier?

In der Logistik liegt der Frauenanteil bei rund 40 Prozent. Nicht weil wir darauf bestehen, vor allem Frauen zu beschäftigen, sondern weil sie besser qualifiziert sind. Oft haben sie höhere Abschlüsse und bessere Multitasking-Fähigkeiten. Und wenn schon eine Frau im Management sitzt, ist es für andere Frauen leichter, aufzusteigen und in gewisse Positionen zu kommen.

Das Unternehmen wurde 2005 mit acht Mitarbeitern gegründet. Heute sind es knapp 500. Was ist das Erfolgsrezept von Bekto Precisa?

Den Vorgängerbetrieb Bekto International hat meine Familie 2003 an ein deutsches Unternehmen verkauft. Gleichzeitig haben wir beschlossen, einen neuen Betrieb zu gründen, der im kleinen Rahmen bleiben sollte. Dann kam ein Auftrag nach dem anderen. Leider konnten wir uns nicht an den Plan halten und sind zu einem 500-Mitarbeiter-Betrieb geworden (lacht).

Was ist der Standortvorteil von Goražde?

Die gute Luft und die schöne Drina (lacht).

«Die Menschen hier werden von der Politik bestraft und wählen trotzdem immer dieselben Parteien.»

Sie haben mir im Vorgespräch erzählt, dass es Ihnen aufgrund der aktuellen Flüchtlingsbewegungen wichtig sei, etwas zu dem Thema zu sagen, weil Sie selbst einst geflüchtet sind.

Ganz genau. Wir sind 1992 nach Österreich geflüchtet, wo wir Kontakte geknüpft haben. Nach dem Kriegsende sind wir zurückgekehrt. Ich möchte noch betonen, dass ich Muslimin bin und Flüchtling war. Ich weiss genau, wie sich diese Menschen heute fühlen. Die Menschen in Europa  müssen keine Angst haben, niemand verlässt sein Haus, weil er es will.

Finden Sie, dass die EU und die Schweiz derzeit genug tun?

Aus der Distanz ist das schwer zu sagen. Es ist eine grosse Welle, die nun kommt. Die Bilder sind nicht schön. Ich habe 1992 ein paar schöne Momente erlebt und auch einige negative. Die negativen Erlebnisse entstammen vor allem der Ungewissheit und der daraus resultierenden Angst. Wenn die Menschen sich kennenlernen, wird es besser. Was die Bosnier angeht, gibt es keine grossen Unterschiede zwischen Moslems, Orthodoxen oder Katholiken. Absolut nicht.

Gibt es noch etwas, dass Sie sagen möchten?

Goražde ist eine wundervolle Stadt und Bosnien ist ein herrliches Land. Jeder Fremde ist hier willkommen. Leider wirft die Politik einen grossen Schatten auf uns. Die Menschen, die hier leben, werden bestraft und wählen trotzdem immer dieselben Parteien. Allerdings wird uns auch nichts anderes zur Wahl gegeben. Wichtig ist, dass die Medien mehr Positives über Bosnien-Herzegowina berichten.

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Vor 20 Jahren beendete eine Reihe von Unterschriften den Bosnienkrieg. Das Töten hat damals aufgehört, aber wie weit ist der Frieden gekommen? Die TagesWoche wollte es genau wissen, unser Korrespondent Krsto Lazarević ist eine Woche durchs Land gezogen und hat Menschen befragt. Entstanden ist eine Porträtserie, deren Einzelgeschichten Sie nachfolgend aufgelistet finden.

Wer sich ein Bild vom Land machen will, dem empfehlen wir den Bildstoff – aber auch die Erklärung des politischen Systems, schliesslich gilt es als das komplizierteste der Welt.

Getrennte Schulen und ihre Wirkung: Grundschullehrerin Nela Rajić erzählt.

Die Islamisten kommen zum Kaffee: Was die Teilung des Landes zur Folge hat, erzählt Blagoje Vidović.

Auch Flutopfer brauchen das richtige Parteibuch: Jasminka Arifagić über den Klientelismus im Land und seine leidigen Folgen.

Der Frieden diskriminiert diejenigen, die keinen Krieg führten: Das Dayton-Abkommen hat Minderheiten im Land nicht berücksichtigt. Welche Folgen das hat, erzählt Boris Kozemjakin, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde von Sarajevo.

Jugend braucht Perspektiven statt Vorurteile: Milan Todorović gehört der Nachkriegsgeneration an. Als Serbe unter Bosniaken aufgewachsen, engagiert er sich mit einer selbst gegründeten Organisation für die Jugend.

Damals Flüchtling, heute erfolgreiche Unternehmerin: Interview mit Enisa Bekto, die ins Land zurückgekehrt ist und sagt: «Frauen sind besser qualifiziert».

«Tod dem Nationalismus»: Die Proteste gegen Privatisierung in Tuzla 2014 waren nicht nationalistisch motiviert, sagt Journalist Kušljugić im Interview.

Bosnien bleibt immer Teil meiner Identität: Selma Merdan ist vom Krieg geflüchtet und hat in Basel eine neue Heimat gefunden.

Zudem erklärt Autor Norbert Mappes-Niediek, wie das Friedensabkommen genau zustandegekommen ist und welche Fehler begangen wurden:

Wie die Amerikaner sich vor 20 Jahren in Bosnien durchsetzten – und sich dabei verschätzten

Im Interview hat Mappes-Niediek zudem mit dem deutschen Diplomaten Wolfgang Ischinger – Leiter der deutschen Delegation in Dayton – über die Fehler von damals und Parallelen zum Syrienkrieg gesprochen:

«Bis heute ist aus dem Waffenstillstand kein wirklicher Friede geworden»

Den gesamten Schwerpunkt in der Übersicht finden Sie in unserem Dossier zum Thema.

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