«Gibt der Staat kein Geld, kann er auch nicht zensurieren»

Die ungarisch-syrische Künstlerin Róza El-Hassan ist der Ansicht, die Künstler in Ungarn seien freier, seit die Massen demonstrieren.

Der orange Ballon steht in Róza El-Hassans Werk für Fruchtbarkeit und für etwas, das beschützt werden muss. (Bild: Basile Bornand)

Die ungarisch-syrische Künstlerin Róza El-Hassan ist der Ansicht, die Künstler in Ungarn seien freier, seit die Massen demonstrieren.

Róza El-Hassan (45) lebt in Buda­pest, ist halb Ungarin, halb Syrerin, ihre Mutter ist Christin, ihr Vater Moslem. Die Sensibilität für kulturelle Konflikte, so könnte man denken, wurde der Künstlerin dadurch schon in die Wiege gelegt. El-Hassans Installationen, Objekte, Videos und Aktionen sind geprägt vom Nachdenken über Gesellschaft, über Politik, über Minderheiten. Vor allem aber kommen diese Gedanken in ihren sehr persönlichen Zeichnungen zum Ausdruck: Fast jeden Tag zeichnet sie.

Was bedeutet Zeichnen für Sie, Frau El-Hassan?

Zeichnen ist eine grundlegende Tätigkeit. Die Zeichnung ist etwas, was zwischen der Schrift, den Gedanken und dem Visuellen angesiedelt ist. Aus einer Zeichnung kann eine Performance werden, ein Objekt oder eine Grafik. Sie ist der freie und harmonische Raum der Gedanken: die Linie ist eine Gestalt, die noch vor den Begriffen entsteht, weil sie unvermittelt ist.

Ist die Zeichnung Ihr persönlichstes Werk?

Ja. Sie entsteht auf einem kleinen Raum, auf einem kleinen Blatt Papier. Sie ist im intellektuellen Sinne unvermittelt, ich kann meine Gedanken ganz direkt und konkret aufs Papier bringen. Das ist wie eine Skizze oder eine Notiz, fast immateriell. Das immateriellste Medium. Papier ist ganz leicht und hat für mich etwas Metaphysisches.

Welchen Stellenwert haben die Zeichnungen innerhalb Ihres Œuvres?

Fast den höchsten Stellenwert. Meine Aktionen reagieren meistens auf konkrete Situationen, sie sind zeitlich gebunden, die Zeichnungen nicht. Die Objekte sind mir auch sehr wichtig.

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 haben Sie eine Serie von Zeichnungen gefertigt, die politische, gesellschaftliche und religiöse Fragen aufwirft. Sind diese Themenfelder für Sie die Antriebspunkte?

Ich mag das Wort Politik gar nicht, das erinnert mich immer an Parteipolitik. Und diese steckt auf der ganzen Welt in einer Sackgasse. Wichtiger sind für mich die Bürgerrechtsbewegungen oder die NGOs, die autonome Selbstbestimmung oder die Dezentralisa­tion. Gesellschaftliche Strukturen im Allgemeinen. Andererseits ist auch der Glauben wichtig geworden. Ohne ihn kann ich nicht mehr agieren.

Ihr Vater ist Moslem, Ihre Mutter Christin. Und Sie?

Ich bin Moslem. Ich finde allerdings den spirituellen Kern aller Religionen sehr wichtig. In welche Religion man hineingeboren wird, das hängt vom Umfeld ab, aber ein Glauben und ein Vertrauen in das Positive, das ist nicht an eine bestimmte Religion gebunden.

War die 9/11-Serie aus einem religiösen Konflikt heraus motiviert?

Gar nicht. Das religiöse Bewusstsein habe ich erst vor rund fünf Jahren entwickelt, weil mir das einen Rückhalt, eine Ruhe gab. Die Blutspendeaktion in Belgrad und an anderen Orten (vgl. Kasten) war eine ganz spontane Geschichte. Sie entstand als ein Ausdruck der Betroffenheit über die Rede von George W. Bush, die das Böse in der arabischen Welt lokalisierte. Ich fand diesen Vorwurf der Kollektivschuld sehr absurd. Ich wollte deshalb Arafats Blutspendeaktion, die ebenfalls absurd war, noch absurder gestalten, indem ich sie als Frau wiederhole. Bei politischen Arbeiten ist Humor oder Sarkasmus sehr wichtig.

Sie mögen das Wort Politik zwar nicht, aber als Halb-Ungarin und Halb-Syrerin sind Sie im Moment in zwei Ländern mit grossen Problemen verwurzelt. Reagieren Sie als Künstlerin darauf?

Wie müsste ein Künstler darauf reagieren?

Sie stellen in Ihrer Kunst ja schon auch explizit politische Fragen …

Was sich in Syrien abspielt, ist eine Tragödie. Es ist die Schuld der ganzen Welt, dass die Menschen da so leiden müssen. Ich habe am vergangenen Samstag auf dem Paradeplatz mit ­Occupy Paradeplatz demonstriert, aber das war für mich keine künstle­rische Aktion, sondern eine normale Aktion einer Staatsbürgerin.

Haben Sie in Ungarn vor einem Monat auch demonstriert?

Nein, ich wollte zur Demo gehen, an der der innere Frieden verkündet wurde. Eine Million Leute demonstrierten, eigentlich für die Regierungspartei. Vor allem aber war es eine Solidaritätskundgebung für verschiedene Weltansichten, Religionen und ethnische Minderheiten in Ungarn. Das war auch eine Reaktion auf die Debatte im Europäischen Parlament. Aber ich habe mich in letzter Zeit etwas ferngehalten von allem und mich auf mein soziales Projekt mit den Roma konzentriert. Seit April mache ich das ganz alleine, und meine Energie ist nicht endlos.

Das Projekt läuft seit drei Jahren. Wie kam es dazu?

Das Projekt basiert auf einer Einladung des Kunsthistorischen Museums Budapest, eine Skulptur im öffentlichen Raum zu realisieren. Ich wollte keine Steinskulptur oder so machen, sondern ein soziales Projekt, das das handwerkliche Können der Roma sichtbar macht. Ich hatte das Budget fürs Projekt und wir fanden damals auch noch viele Sponsoren dafür. Inzwischen aber fehlt der institutionelle Background. Trotzdem mache ich weiter.

Gibt es eine staatliche Kunst­ förderung in Ungarn?

Zurzeit sind die Staatskassen leer, es gibt für nichts Geld. Es gibt nur noch sehr minimale Beiträge, 100 oder 200 Franken.

Wie sieht es aus mit Zensur? Die Pressefreiheit wurde bekanntlich bereits eingeschränkt …

Wenn der Staat kein Geld gibt, kann er auch nicht zensurieren. Vielleicht ist es für Institutionen schwieriger. Eigentlich aber ist die Kunst auch nicht der Ort, an dem es am kritisch­s­ten zugeht. Seit dem arabischen Frühling und den Demonstrationen, die in Ungarn seit 2006 stattgefunden haben, ist es eine breite Masse von Menschen, die auf die Stras­se geht. Da kann die Kunst gar nicht mehr mithalten. Dass die Leute politisch aktiv sind, hat die Künstler auch befreit.

Wo liegt Ihrer Meinung nach das grösste Problem Ungarns?

In der Armut. Wir werden ausgebeutet. Wir haben so viele Schulden, die sich über Jahrzehnte hin angehäuft haben. Die Menschen zahlen so hohe Steuern und so viel für Wasser und Elektrizität – mehr, als man verdient. Es bedeutet einen ständigen Stress, nicht in die Obdachlosigkeit abzudriften. Ich sehe vor meinem Haus Menschen, die auf der Strasse leben – auch bei dieser Kälte. Das ist furchtbar, und es betrifft breite Bevölkerungsschichten.

Haben Sie noch Kontakt zu Ihrer zweiten Heimat Syrien?

Doch, ja, ein Teil meiner Familie lebt ja dort. Früher war ich oft wochenlang da. Heute versuche ich in die Zeichnungen sehr viel von der Geduld des arabischen Volkes hineinzubringen. Das hört sich ein bisschen seltsam an. Geduld und Friedlichkeit, das sind repetitive Elemente. Diese Geduld im Umgang miteinander habe ich in Syrien immer erfahren. Sie ist das Positive dieser Gesellschaft – die Zeit spielt eine andere Rolle als im Westen.

Zeichnen Sie immer noch täglich?

Ja, fast.

Verarbeiten Sie darin auch die aktuellen Geschehnisse in Ungarn und Syrien?

Auch. Aber Syrien, das ist eine sehr schwierige Geschichte. Die Menschen leiden immer noch unter den instabilen Strukturen, die von der Kolonialzeit übriggeblieben sind. Eine Minderheit wurde vor 50 Jahren über eine Mehrheit gestellt. Darunter leidet nun die Minderheit, die an der Macht ist, und auch die Mehrheit, das Volk, das sich unterdrückt fühlt. Man müsste nun sehr vorsichtig vorgehen. Was stattdessen geschieht, ist eine gros­se menschliche Tragödie. Unfassbar. Eigentlich hätte vor 20 Jahren etwas passieren müssen, 1989, als die Mauer in Osteuropa fiel. Damals dachten die Leute in Syrien, die Demokratie würde nun auch sie erreichen. Wir hörten immer Radio, über die Veränderungen in Europa. Die Menschen waren davon überzeugt, dass sie als nächste dran sind. Doch die demokratischen Bestrebungen wurden nicht unterstützt. Man hat eine Chance verpasst. Und steht nun vor einem Scherbenhaufen.

 

 

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 10.02.12

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