Herr Massmünster, was macht die Nacht in Basel aus?

Dieser Kulturanthropologe macht die Nacht nicht zum Tag, aber zum Thema: Ein Gespräch mit Michel Massmünster über die dunkle Schwester des Tages und wie wir sie zu der machen, die sie ist.

Nachtaktiver Stadtethnograf: Michel Massmünster.

(Bild: Hans-Jörg Walter)

Dieser Kulturanthropologe macht die Nacht nicht zum Tag, aber zum Thema: Ein Gespräch mit Michel Massmünster über die dunkle Schwester des Tages und wie wir sie zu der machen, die sie ist.

Herr Massmünster, sind Sie ein Nachtmensch?

Teilweise. Ich mag auch den Morgen, jede Tageszeit hat ihre Schönheiten. Aber die Stimmung, die in der Nacht herrscht, finde ich schon sehr spannend.

Was macht diese Stimmung aus?

In der Nacht spielt Zeit oft weniger eine Rolle. Es gibt eine Offenheit, die Menschen nehmen sich mehr Zeit, weil sie oftmals keine Termine einhalten müssen. Die Dunkelheit hüllt einen ein und gleichzeitig ist die Aufmerksamkeit weniger zielorientiert. So kann viel mehr passieren. Die Nacht schafft neue Begegnungen und Möglichkeiten.

Wieso unterscheiden wir überhaupt noch zwischen Tag und Nacht?

Bei vielen Philosophen gilt diese Unterteilung als Grundunterscheidung, in die auch Kategorien wie Mann und Frau oder Innen und Aussen fallen. Menschen nutzen sie, um ihr Leben zu ordnen. Um zu wissen, was sie wann tun sollen und was sie erwartet. Um sich einen Tagesrhythmus aufzubauen.

Früher war dieser Rhythmus aber viel klarer.

Er ergab sich anders: Wenn es hell war, wurde gearbeitet, wenn es dunkel war, konnte vieles nicht erledigt werden. Da war es weniger die Idee der Nacht als die Dunkelheit, die den Rhythmus vorgab. Mit der Arbeitsteilung und Urbanisierung traten aber die Arbeitsrhythmen der verschiedenen Berufe auseinander. Man traf sich also nicht mehr automatisch, sondern verabredete sich. Deshalb wurde auch die Uhrzeit immer wichtiger. Menschen begannen, Taschenuhren zu tragen. Und die Nacht bekam eine synchronisierende Wirkung, sie gab der Stadt und ihren Bewohnern einen Rhythmus.

Apropos «früher» und «Nacht» – zum Geniessen:

Wie erlebten damals die Menschen ihre Nacht?

Im 19. Jahrhundert riss man in den Städten die Stadtmauern nieder, deren Tore zuvor nachts stets geschlossen waren. Das hatte zur Folge, dass die nächtliche Stadt nicht mehr als etwas in sich Zurückgezogenes wahrgenommen wurde. Als etwas, das sich vor Gefahren abgrenzte. Die Mauern, die so lange das Bild der dunklen, abgeschlossenen Stadt prägten, waren weg. Und die Stadtnacht wurde zu einem Ort verschiedener Bewegungen. Es gab mehr und mehr Nachtleben.

Michel Massmünsterist Kulturwissenschaftler und Essayist. Er promovierte an der Universität Basel und der Ludwig-Maximilians-Universität München über Erfahrungen von Nacht und Stadt in Basel. Über mehrere Jahre begleitete er verschiedene Menschen durch die Nacht, fragte nach ihren Gewohnheiten, Rhythmen und Erfahrungen.

Während der Museumsnacht führt Massmünster im Rahmen der Veranstaltung «Im Taumel der Nacht» durch die Stadt.

Trikot und Deli Projects: «Im Taumel der Nacht», 20. Januar, Projektraum Trikot, Haltingerstrasse 13.

Und elektrisches Licht. 

Genau. Was früher einfach dunkel war, konnte man plötzlich erhellen. Diese neue Sichtbarkeit führte zu vielen Möglichkeiten – aber auch zu neuen Problemen. Es wurde alles viel sichtbarer: Die Unsittlichkeit und die Kriminalität, die sich vorher im Dunkeln verstecken konnten. Das verunsicherte viele.

Kommt daher auch die fast schon urmenschliche Angst vor der Nacht?

Die ist älter. In alten Sagen ist die Nacht die Zeit des Teufels, in der der Mensch keinen Platz hat. Dies zeigt übrigens auch, dass man früher nicht einfach nur schlief in der Nacht. Wäre es so gewesen, hätten diese Sagen nicht daran erinnern müssen, dass man nachts nicht draussen sein soll. Später übernahm die Verbrecherwelt diese Rolle des Teufels. Wer am Tag einem ordentlichen Beruf nachging, hatte nachts in den dunklen Gassen nichts verloren. So wurde die Nacht früh mit Angst und Moral in Verbindung gebracht. Zugleich nahmen sich zum Beispiel die Adligen die Exklusivität heraus, nachts rauschende Feste zu feiern.

«Das Nachtleben ist zum Standortfaktor geworden.»

Was bedeutet Nacht heute?

Die Nacht ist sicher alltäglicher geworden. Sie ist nicht mehr der Ort, wo sich ausschliesslich Randfiguren treffen. Sich ins Nachtleben zu begeben, heisst nicht mehr automatisch, einen alternativen Lebensstil zu führen. In der Stadt wird die Nacht zudem gefördert und vermarktet: Städte sollen ein Nachtleben haben, lebendig und kreativ sein. Das Nachtleben ist zum Standortfaktor geworden, es soll der Stadt Ausstrahlung verleihen, Touristen und Firmen anlocken. Und während früher Wirte und Beizenbesitzer als Verführer zu einem unsittlichen Leben galten, werden heute viele von ihnen als erfolgreiche Jungunternehmer dargestellt. Da geschieht eine ganz andere Wertschätzung und Zuschreibung.

Ganz ist die Nacht ihren schlechten Ruf aber noch nicht los. Bis heute assoziieren wir Nacht oder Dunkelheit mit dubiosen Machenschaften. Jüngstes Beispiel: Das Darknet – die Unterwelt des Internets.

Genau. Die Unergründbarkeit des Darknets bildet eine Parallele zur Unergründbarkeit der Stadtnacht, wie sie in der Literatur des 19. Jahrhunderts sehr stark thematisiert wurde. Und heute in Krimis, Grossstadtromanen, aber auch in unseren Erfahrungen weiter fortgesetzt wird. Die Nacht bleibt mehrdeutig und vielfältig. Sie ist, was die Menschen aus ihr machen.

Viele Staatsputsche geschehen nachts, revolutionäre Pläne werden lieber in schummrigen Bars als bei Tageslicht geschmiedet. Ist die Nacht politischer als der Tag?

Sicher ist: Die Nacht stellt die Welt in ein anderes Licht. Sie bietet viele Möglichkeiten, persönliche und gesellschaftliche Fehlentwicklungen zu korrigieren. Ihre Ruhe und Zurückgezogenheit geben Raum zum Nachdenken und Hinterfragen. Auch in schlaflosen Nächten: Was am Tag völlig normal erscheint, kann in der Nacht zum Problem werden. In diesem Sinne ist die Nacht auch so etwas wie ein Korrektiv.

«Die Nacht stellt die Welt in ein anderes Licht.»

Oder ein Raum für Wahnsinn.

Oder ein Raum für Wahnsinn, ja. Zumindest aus der Sicht des Tages. Für die Aufklärung war die Nacht ja eben das: ein Raum fürs Irrationale, das in der Vernunft des Tages keinen Platz haben durfte. Aber genau diese klaren Grenzen verschwimmen in der Nacht.

Wie würde die Welt aussehen, wenn wir keine Nacht hätten?

Schwierig zu beantworten. Wir würden wahrscheinlich andere Kategorien finden, um Ordnung in unser Leben zu bringen.

An der Museumsnacht werden Sie Besucher durch die Nacht führen – was macht die Basler Nacht aus?

Viele von den Baslern, die ich interviewte, meinten, das Schöne an der Nacht in Basel sei ihre Familiarität. Dass man immer wieder Bekannten an vertrauten Orten begegne. Das hat sicherlich was mit dem Image zu tun, das Basel von sich pflegt: eine gewisse internationale Ausstrahlung, aber doch sehr klein und beschaulich. Das spiegelt sich auch im Nachtleben wider: relativ viel los und gleichzeitig sehr familiär. So gesehen ist die Basler Nacht ein Sinnbild: Unsere Ideen von Stadt und Nacht verweisen aufeinander. Basel ist seine Nacht und umgekehrt.


Die TagesWoche bringt Licht ins Dunkel der Nacht mit einem Schwerpunkt. Bisher erschienen:

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