Der Sozialpsychologe Harald Welzer gehört zu den lautesten Wachstumskritikern im deutschsprachigen Raum. In «aufrührerischen Vorträgen» zieht er über Wachstumsverteidiger genauso her wie über Nachhaltigkeitsheuchler. Vergangene Woche war er im Rahmen der Umwelttage in Basel. Eine Annäherung an einen streitbaren Vordenker.
Offene Konfrontation ist selten auf Schweizer Podien, wo sich die Gesprächspartner für Gewöhnlich in Konsens üben und darauf bedacht sind, den anderen nicht auf den Schlips zu treten. An den Basler Umwelttagen war es anders.
Franz Saladin, der Direktor der Handelskammer beider Basel, hatte dem Publikum im Quartierzentrum Bachletten vor einem Bäumchen, das zur Dekoration in die Mehrzweckhalle gekarrt worden war, soeben erklärt, weshalb der Wachstumsdrang zum Menschen gehöre wie das Kücken zum Ei. Die Biologie sei dafür verantwortlich. Wie Gehirnforscher bewiesen hätten, würden im Frontalhirn Endorphine ausgeschüttet, wenn dem Menschen etwas besonders gefalle, er also zum Beispiel Brombeeren esse, so das Beispiel Saladins. Dieses Glücksgefühl führe zum Verlangen nach mehr, nach weiterem Konsum, nach Wachstum eben.
Endlich ein Dissens
Dann geht das Wort an den Hauptreferenten, an den Sozialpsychologen Harald Welzer, der im Rahmen des Eröffnungsabends der Umwelttage vergangenen Donnerstag zum Vortrag nach Basel geladen wurde. Mit seiner nasalen Stimme sagt Welzer in ruhigem, aber bestimmtem Ton: «Ich bin ja auch heilfroh, dass wir in dieser Runde endlich einen Dissens gefunden haben. Ich finde fast alles falsch, was Sie soeben gesagt haben, Herr Saladin.»
Dann setzt er zu seiner Replik an: Die biologische Analogie halte einer kritischen Analyse nicht Stand. Es gebe kein einziges biologisches System, das unendlich wachse. Der menschliche Drang nach Wachstum sei ein vergleichsweise junges Phänomen; in westlichen Gesellschaften knapp 200 Jahre alt. Einen anthropologischen Drang nach Wachstum gebe es nicht. «Es ist die Kultur, die im Menschen bestimmte Wünsche hervorruft.» Und was die Hirnforschung angehe: «Vergessen Sie alles, was Sie gehört haben; da wird jeden Monat eine neue Sau durchs Dorf getrieben.» Welzer sollte es wissen. Er war zwei Jahre Direktor des Instituts für Psychologie der Universität Hannover und hat sich in seiner Forschung zum sozialen Gedächtnis eingehend mit Hirnforschung auseinandergesetzt.
Und Saladin hätte wissen müssen, dass er mit seiner anthropologischen Verteidigung des Wachstumsdrangs nicht durchkommt. Vor dem Podium hatte Harald Welzer über eine Stunde lang seine Kritik an Kapitalismus und unbegrenztem Wachstum erläutert. In Blue Jeans und grauem T-Shirt, mit viel Witz, in zum Teil flapsiger Sprache, ironisch, leidenschaftlich und ohne Skript. Er führte aus, weshalb ein Wirtschaftssystem, das auf Konsumismus beruht und seine eigenen Grundlagen auffrisst, per se nicht nachhaltig sein kann. Und weshalb ein solches System zu einer Gesellschaft voller objektiver Widersprüchen führen müsse.
Bewusstsein und Handeln
Dem Widerspruch zum Beispiel, dass unser Ressourcenverbrauch seit der ersten kritischen wissenschaftlichen Auseinandersetzung des «Club of Rome» mit den Grenzen des Wachstums von 1972 stärker gewachsen ist als je zuvor. Oder dass die CO2-Emissionen seit der Klimakonferenz in Rio von 1992 ständig neue Höchstwerte erreichen. «Wir haben nun zwar dieses super coole kritische Bewusstsein. Aber trotz all den tollen Nachhaltigkeits-Lehrstühlen, Hunderten von Büchern, Konferenzen auf der ganzen Welt, mit Leuten wie mir, kommen wir bei der Klimaproblematik keinen Schritt voran», so Welzers Fazit. «Alle haben etwas davon, die Hoteliers, die Fluggesellschaften, die Geschäfte – nur das Klima nicht!»
Für ein Interview in Basel fehlte Harald Welzer die Zeit. Zu eng war der Terminplan. Deshalb rufe ich ihn am Montag nach dem Vortrag in Potsdam an, seinem derzeitigen Wohnort, unweit von Berlin. Welzer erinnert sich gerne an den Abend in Basel. Lebendig sei er gewesen – im Gegensatz zu seinem nächsten Termin in Bregenz am Folgetag.
Herr Welzer, Sie sind mit dem Flugzeug von Berlin nach Basel an die Eröffnungsveranstaltung der Umwelttage angereist. Wie gehen Sie mit solchen eigenen Widersprüchen um?
Ich bleibe besonders im beruflichen Bereich oft weit hinter meinen Ansprüchen zurück. Ich bin ein fehlbarer Mensch und stehe dazu. Im Fall von Basel war das Flugzeug wegen des Bahnstreiks die sicherste Option.
Sie haben während Ihres Vortrags den Nachhaltigkeitsaktivismus kritisiert, der in der westlichen Welt zur «symbolischen Bearbeitung» des Klimaproblems vorherrsche. Gesellschaften würden sich durch Konferenzen, Institutionen und Lehrstühle entlasten, um weiterhin dem gewohnten Wachstumspfad folgen zu können. Gehören die Umwelttage in Basel nicht genau in diese Kategorie?
Ja und nein. Die Umwelttage hatten gerade dieses Jahr eine sehr praxisorientierte Perspektive. Das unterscheidet sie von anderen Anlässen. Dort ging es um konkrete Initiativen, die Dinge auf den Weg bringen. Das unterscheidet sich schon von diesem Typ Konferenz, wo man entweder die neusten Katastrophennachrichten diskutiert oder darüber spricht, was man in Zukunft vielleicht mal tun sollte, könnte oder müsste. Die Umwelttage schienen mir hingegen wenig «konjunktivisch», sondern eher konkret.
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Welzer mag keine Absichtserklärungen und Zukunftsversprechen. Viel lieber sind ihm konkrete Geschichten, insbesondere Gegengeschichten zum Wachstumsmodell. Seit vier Jahren sammelt er solche und publiziert sie in periodischen Abständen im Zukunftsalmanach der Stiftung «futurzwei» in Berlin. 2015 erschien der zweite Band; ein «Handbuch für eine enkeltaugliche Zukunft», wie er von den Autoren angepriesen wird.
In den beiden bisher erschienenen Bänden werden mehr als 100 Geschichten erzählt, die exemplarisch für die Möglichkeit einer Welt jenseits von Konsum und Raubbau stehen. Eine solche Geschichte präsentierte Weltzer auf dem Podium. Unter dem Motto «Essbare Stadt» haben Initianten in der Stadt Andernach Obst, Gemüse und Blumen angepflanzt, die allen Bewohnern frei zum Pflücken zur Verfügung stehen. «Niemand hatte eine Vorstellung davon, was eine essbaren Stadt sein könnte, bis der zuständige Dezernent das einfach ausprobiert hat. Und siehe da: Plötzlich finden es die Bürger super!»
Gerade weil uns die Eliten immer von der Alternativlosigkeit des Status quo überzeugen wollten, so Welzer, brauche es Gegengeschichten und Alternativmodelle. Oder im Duktus des Sozialpsychologen: «Wir haben ja abgesehen vom Konsum wenig Identitätsressourcen. Mit Visionen wie der essbaren Stadt gelingt es uns, neue zu schaffen.» Der gängige Nachhaltigkeitsdiskurs ist in den Augen Welzers lediglich eine Weiterführung der Geschichte vom Erfolg des Wachstumsmodells. Ein Hybridfahrzeug zum Beispiel ist zwar effizient, stellt die Grundverhältnisse aber nicht in Frage.
Herr Welzer, bei all den gutgemeinten, von Ihnen porträtierten Initiativen wie Urban Gardening, Repair Cafés oder der Share Economy beschleicht einen manchmal das Gefühl, dass es sich die Protagonisten in ihrer Blase so gemütlich gemacht haben, dass es für Systemkritik gar keinen Platz mehr hat. Teilen Sie diesen Eindruck?
Kritik am Gesamtsystem hat ja nun bereits eine lange Tradition. Als Empiriker muss ich feststellen, dass sie das System bisher nicht gross verändert hat. Auch die Kritiker am Gesamtsystem haben ihre Nischen innerhalb der Gesellschaft, in denen sie es sich gerne gemütlich machen. Der Vorwurf gilt also genauso für diejenigen, die ihn erheben. Die Praktiker können wenigstens für sich ins Feld führen, dass sie tatsächlich neue Wege erproben.
Gehören Sie selbst aber nicht genauso zur gerade kritisierten Kritikerzunft?
Nun ja, ich versuche ja schon einen anderen Blick auf die Dinge zu werfen. Ich will es denen und dem Publikum nicht allzu einfach machen. Meine Kritik ist ja oft nicht sehr zustimmungsfähig, und ich finde die reflexive Komponente extrem wichtig. Ich versuche auch an der Nachhaltigkeitsszene herauszuarbeiten, was an denen nun wiederum das Problem ist und was man anders machen muss. Da halte ich es mit dem Komiker Groucho Marx, der sagte: Ich würde niemals in einen Klub eintreten, bei dem ich als Mitglied aufgenommen würde. Eine schöne Maxime.
Neuerdings scheint ja sogar der Papst Ihre Konsum- und Wachstumskritik zu teilen.
Ja, ich würde den Papst auch gerne unterstützen. Der steht ja praktisch mit seiner Person für das, was wir behaupten. Es ist verrückt, er nützt seinen begrenzten Handlungsspielraum politisch viel wirksamer als all seine Vorgänger.
Wird er im nächsten Zukunftsalmanach erscheinen?
Das ist eine gute Idee! Das sollten wir machen.
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Während des Podiums fragt Moderator Bernard Senn, ob das nicht alles ein wenig utopisch sei und ob Welzer wirklich an die Veränderungskraft von kleinen, lokal begrenzten Initiativen wie Urban Gardening glaube. Welzer sitzt mit verschränkten Beinen da, hört aufmerksam zu, spitzt gelegentlich die Lippen und streicht sich genüsslich durchs Haar. Er ist ein Schnelldenker, trotzdem baut er Pausen ein, lässt die Frage einige Sekunden im Raum stehen, als würde sich durch die Lücke die falschen Annahmen, die der Frage zugrunde liegen, von selbst offenbaren. Schliesslich antwortet er: «Wieso stehen solche Initiativen immer gleich unter Rechtfertigungsdruck? Niemand wirft dem Vorstandschef von BMW vor, mit seinem neuen i3-Elektrofahrzeug nicht die Welt zu retten. Und nennen Sie mir eine andere Bewegung, die in den letzten Jahren so erfolgreich war wie Urban Gardening. Das sind längst nicht mehr kleine, marginale, sondern globale Bewegungen!»
Welzer ist kein Sozialromantiker, der dem Kommunismus nachhängt, oder ein Ökofanatiker, der die Umwelt über das Wohl des Menschen stellt. Totalitarismen und Fanatismen sind ihm ein Graus. Er verteufelt denn auch nicht alles, was der Kapitalismus hervorgebracht hat. Ein System, in dessen Zug die Lebenserwartung in nur einem Jahrhundert verdoppelt wurde, das zum tiefsten Gewaltniveau in der Geschichte der Menschheit geführt hat, das zivilisatorische Errungenschaften wie Rechtsstaatlichkeit, öffentliche Bildung und Gesundheitssysteme hervorgebracht hat. Hinzu kommt: «Noch nie hatten wir mehr Handlungsspielräume. Noch nie waren wir faktisch freier als heute!» Doch um diese Freiheit überhaupt wahrnehmen zu können, bedürfe es der Autonomie – und diese wähnt Welzer bedroht.
Sein neues Buch, das er gemeinsam mit dem Philosophen Michael Pauen verfasst hat, ist eine 300-seitige Verteidigung der individuellen Autonomie. Die Autoren sehen sie gleich mehrfach bedroht, durch immer stärkere Konformitätszwänge und den Trend zur allumfänglichen Transparenz. Eine Sonderrolle nehmen dabei die sozialen Medien ein, die zu neuen Konformitätszwängen führen. Zum Beispiel über Phänomene wie Shitstorms.
Herr Welzer, Sie raten in Ihrem Buch zur digitalen Askese. Aber was ist mit der Sharing Economy, die stark auf digitalen Medien basiert und die auch in Ihrem Zukunftsalmanach viel Raum einnimmt?
Wie bei jeder Technologie gibt es auch in diesem Fall zwei Seiten: Da gibt es die Tendenz, Dinge sinnvoller zu nutzen, weniger Aufwand zu betreiben und weniger Ressourcen zu verschwenden. Aber gleichzeitig besteht in einer neoliberalen Ökonomie sofort auch die extrem starke Tendenz, Beziehungen und die soziale Praxis des Teilens zu monetarisieren. Das finde ich katastrophal.
Wie meinen Sie das?
Diese ganzen neuen Internet-Unternehmen instrumentalisieren ja eigentlich nur, was die Menschen sowieso tun. Und das Verrückte dabei: Es entstehen dabei fast keine neuen Arbeitsplätze und es werden praktisch keine Steuern bezahlt. Da wird eine Gemeinwohl-orientierte Praxis zuungunsten des Gemeinwohls ausgebeutet. Trotzdem machen uns diese Unternehmen ständig vor, dass sie einzig an der Verbesserung der Welt interessiert sind und nicht am privaten Profit.
Trotzdem, kein junger Mensch möchte heute noch auf Facebook und Co. verzichten. Welche gesellschaftlichen Risiken sehen Sie darin als Sozialpsychologe?
Das Verschwinden von Privatheit stellt eine extreme Gefährdung der Demokratie dar. Der private Raum zum Denken, zum Sprechen, zum «nicht beachtet werden durch andere» ist ein existenzieller Bestandteil von Demokratie. Sie braucht die Trennung zwischen privat und öffentlich. Deshalb ist Privatheit und deren Unverletzlichkeit auch ein Verfassungsgut – seit der ersten amerikanischen Verfassung.
Und was passiert, wenn diese Privatheit verschwindet?
Alles wird durchschaubar und zugänglich. Dadurch verändern sich die sozialen Verkehrsformen: Leute veröffentlichen plötzlich Dinge über sich, anhand deren sie für die nächsten Jahrzehnte total angreifbar werden. Denn was ist, wenn sich die sozialen Normen in 30 Jahren geändert haben, aber trotzdem noch alles von damals auf dem Netz ist? Insofern ist die Gefährdung der Demokratie viel umfassender, als man das alleine mit Blick auf den Datenschutz sehen würde.
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Zum Ende des eineinhalbstündigen Podiumsgesprächs landet Welzer – angeregt durch einen Zuhörer, der den Aspekt der Solidarität im Gespräch um Nachhaltigkeit vermisst hatte – schliesslich in der «Empörungsabteilung», wie er selbst sagt. «Sie haben recht. Wir staunen darüber, woher nun plötzlich all diese Migranten kommen. Das ist Bigotterie: Wir können nicht über Nachhaltigkeit sprechen, ohne nicht auch über den Welthandel, Ungleichheit und Migration zu sprechen.» Dass 86 Prozent der globalen Flüchtlingsströme heute von Entwicklungsländern aufgenommen werden – mehr noch als vor 20 Jahren – und die westlichen Nationen gleichzeitig über Flüchtlingsströme jammern, findet Welzer schlicht empörend.
Doch selbst für diese wenig ruhmreiche Realität hat Welzer eine Gegengeschichte zur Hand: Das Hotel «Magdas» in Wien wird von Flüchtlingen aus aller Welt geführt. Ausgestattet wurde es mit rezyklierten, auseinandergesägten Einbauschränken und ausgemustertem Bahnmobiliar. Soziale Nachhaltigkeit verbunden mit stofflicher Nachhaltigkeit – das ist ganz nach Welzers Gusto. Die Entstehung des «Magdas» wird im nächsten Zukunftsalmanach nachzulesen sein. Sie ist derzeit Welzers Lieblingsgeschichte für eine enkeltaugliche Welt.