Pedro Lenz, die Kurzgeschichten aus Ihrem neuen Buch «Hert am Sound» sind Beobachtungen von Situationen, die sich täglich vor unserer Haustür abspielen könnten. Wie erkennen Sie solche Geschichten?
Ich kann es nicht genau sagen. Wenn ich es wüsste, hätte ich einen riesigen Output. Viele Menschen kommen zu mir und sagen: «Ich muss dir etwas erzählen, das könnte eine Geschichte für dich sein.» Aber ich muss sie fast immer enttäuschen. Manchmal sind es super Anekdoten, aber das heisst nicht, dass ich daraus eine Geschichte machen kann. Den persönlichen Bezug muss ich immer selber herstellen, sonst klappt das nicht mit dem Schreiben.
Trotzdem scheinen die Geschichten uns alle etwas anzugehen. Wie schaffen Sie das?
Das Leben, so wie es die meisten von uns kennen, erzählt eben nicht immer abgeschlossene Geschichten, präsentiert nicht immer die «Schoggiseite». Einer, der an der Kasse im Supermarkt ansteht, zwei Flaschen Cola Light und ein paar Nüssli für den Fernsehabend kauft, ist es auch Wert, Protagonist einer Geschichte zu sein. Auch wenn er nicht auf Instagram glänzt. Trotzdem bilde ich nicht einfach die Realität ab, wie manche meinen. Ich muss die Geschichten formen und ihnen einen Sound geben. Manchmal gibt es Glücksfälle. Zum Beispiel, wenn ich jemanden sagen höre: «Säg schnäu säuber Susle, säg schnäu». Aber das kommt selten vor.
Der Sound der Geschichten ist also wichtig – daher der Titel?
Mich interessiert es, wie die Dinge klingen. Wie der Wind beim Segeln, Wind und Wörter haben etwas gemeinsam, das assoziiere ich mit dem Titel. Allein das Wort Sound im Berndeutschen gefällt mir gut, und wenn einer sagt, «es sounded», klingt das schon fast poetisch.
Als Mundart-Autor stört Sie dieser Anglizismus in unserer Sprache nicht?
Nein. Ich bin Fan davon, Sprachen zu integrieren. Es ist wie bei den Menschen: Wenn wir viel mehr einbürgern würden, hätten wir weniger Probleme mit Migranten. Weil einbürgern bedeutet, sie zu Teilen der Community zu machen und ihnen eine Verantwortung zu geben. Ähnlich ist es bei der Sprache: Wenn ich ein Wort adoptiere, dann wird es zu einem Teil von mir und verliert den Überfremdungscharakter.
Haben Sie ein Beispiel?
Als der Fussball in die Schweiz kam, gab es hier keinen Begriff für dieses Spiel. Also sagten die Berner «Schutte» von to shoot. Als ich klein war sprachen wir selbstverständlich von Corner, Penalty, Offside. Erst als das Fernsehen kam habe ich die Begriffe Eckball, Elfmeter oder Abseits gelernt. Das waren für mich die Fremdwörter, nicht die aus dem Englischen. Unsere Mundart hat die fantastische Fähigkeit, Sprache zu adaptieren.
Also ist die Einbürgerung von fremder Sprache ein Vorbild für eine gelungene Integration von Migranten?
Genau. Ich glaube, so müsste es funktionieren. Pragmatisch. So gehe ich auch mit der Mundart um.
Wie meinen Sie das?
Bei Mundart gibt es zwei Missverständnisse. Einige glauben, in Mundart könne man sich nicht richtig ausdrücken, die Sprache sei zu beschränkt, zu simpel. Das ist Quatsch. Ich habe noch nie jemanden sagen hören, er müsse jetzt kurz ins Hochdeutsche wechseln, weil die Mundart nicht mehr ausreiche. Andere romantisieren die Sprache und behaupten, nur ihre Mundart sei die richtige. Dabei kann sich jeder in seiner Sprache präzise ausdrücken. Wir sollten die Mundart weder verherrlichen noch belächeln. Es braucht mehr Pragmatismus.
«Ich bin der Überzeugung, dass es so etwas wie Grossstadt nicht gibt.»
Die meisten der Geschichten in «Hert am Sound» spielen in der Agglomeration oder auf dem Weg dorthin. Was fasziniert Sie an diesem Schauplatz?
Ich bin mittlerweile zu dem Schluss gekommen, dass eigentlich alles Agglo ist. Ausser vielleicht die ganz kleinen Dörfer. Auch Glasgow oder Madrid sind für mich Agglo, einfach mit mehr oder weniger Autos. Ich bin der Überzeugung, dass es so etwas wie Grossstadt nicht gibt. Weil sich der Mensch immer in Räumen bewegt, die überschaubar sind. In New York gibt es kaum jemanden, der heute in Manhattan, morgen in Brooklyn und übermorgen in Coney Island ist. Er bewegt sich in den immer gleichen Ecken, geht zum gleichen Bäcker, zum gleichen Koreaner. Weil dies dem menschlichen Bedürfnis nach Zugehörigkeit entspricht. Für mich gibt es lediglich ein urbanes Gefühl, das sich vom Dorfgefühl unterscheidet. Durch eine gewisse Anonymität.
Es gibt Leute, die empfinden Anonymität als etwas Befreiendes. Sie gehören nicht dazu?
Das ist mein grosses Dilemma. Einerseits geht es mir auf den Sack, wenn ich mich kontrolliert fühle: Was geht es meinen Nachbarn an, wann ich heimkomme oder aufstehe? Aber wenn ich das nicht habe, dann fehlt es mir. Ich brauche diese Reibung, die durch Nähe entsteht. Als ich ein halbes Jahr in Glasgow lebte, hat sie mir extrem gefehlt. Erst als ich Gewohnheiten entwickelte und etwa die Kioskverkäuferin anfing, mir meine Zigarettenmarke bereit zu legen, wusste ich: Jetzt bin ich angekommen. Ich bin immer auf Nähe angewiesen. Dass es ab und zu nervt, gehört dazu. Wie bei einer Grossfamilie.
«Man darf sich manchmal ein wenig aufregen, auch wenn es nicht immer berechtigt ist.»
Deshalb sind noch immer die Beizen Ihr «Chatroom», wie es an einer Stelle des Buches heisst. Und nicht die sozialen Medien. Macht Ihnen die Verschiebung vom Realen ins Virtuelle Mühe?
Die virtuelle Welt hat sicher auch Vorteile, aber sie täuscht uns etwas vor, das es nicht gibt. Nämlich Nähe. Nähe kann nicht über Technik zustande kommen. Ich mag die Wirklichkeit der Sinne: Ich bin gerne mit jemandem zusammen, den ich sehe, höre, bei dem ich die Gestik beobachten kann.
Es ist nicht die einzige Stelle im Buch, an der man das Gefühl hat, der Autor blicke wehmütig in die Vergangenheit. War früher vielleicht doch alles besser?
Man will ja nicht ein alter «Gränni» und Nostalgiker werden, aber vermutlich besteht diese Gefahr mit dem Älterwerden immer. Trotzdem finde ich, man darf sich manchmal ein wenig aufregen, auch wenn es nicht immer berechtigt ist.
So wie bei der Geschichte, in der Sie sich über die Pendler aufregen, die mit Scheuklappen im Zugabteil sitzen und sich gestört fühlen, wenn jemand fragt: «Ist hier noch frei?»
Genau. Wobei das Früher oft romantisiert wird, auch bei diesem Beispiel. Da trauern wir etwas nach, das es früher noch gar nicht gab – weil es nicht nötig war. Dass wir im öffentlichen Verkehr aufeinander achten müssen, wurde ja erst mit dem Dichtestress ein Thema. Eine Ordnung dafür müssen wir erst noch erfinden.
«Nichts gegen die Deutschen, die kommen auch an meine Lesungen.»
Sie schreiben auch von der Kunst, den Rasen zu pflegen, geben Sequenzen aus einem Landradio wieder oder kochen «Gschwellti mit Chäs». Gefällt Ihnen das Bünzlitum?
Ich bin als Sohn einer Spanierin und eines St.Gallers in Langenthal aufgewachsen und war dadurch nie Ur-Langenthaler. Vielleicht entwickelte ich gerade deswegen eine Faszination für manche schweizerischen Gepflogenheiten. Die Schweizer Küche zum Beispiel. Bei uns Daheim gab es nie Rösti mit Bratwurst, sondern Tortilla. Es ist das Gleiche wie mit der Nähe: Ich brauche die Reibung mit dem Bünzligen. Ich rege mich darüber auf, wie die Moderatoren von SRF 1 ältere Hörer behandeln, als wären sie nicht ganz hundert. Aber ich höre trotzdem zu. Weil sie wiederum von Dingen sprechen, die mir nahe sind. Wenn im Gesundheitstipp kommt, dass der Bärlauch bald reif wird, dann zählt das für mich. Das gefällt mir.
Trotzdem sind Sie eigentlich ein Linker, der viel herum kommt. Wie werden Sie angenommen in dieser Bünzli-Welt?
Das ist manchmal eigenartig. Einmal sagte mir ein Zuschauer: «Schön, wie Sie unsere Mundart pflegen.» Ich antwortete: «Ich pflege sie nicht, ich gebrauche sie einfach.» Er fuhr fort: «Gerade heute, wo so viele Schwaben bei uns leben.» Worauf ich sagte: «He, nichts gegen die Deutschen, die kommen auch an meine Lesungen.»
Sie wollen Verständnis für einander schaffen?
Vielleicht mache ich diesen Brückenschlag manchmal. Vorurteile gibt es überall. Einige sagen ganz offen: «Ich habe gehört, du bist ein Linker, aber du bist ja ganz nett!» Andere nehmen mich nicht für voll, weil ich Mundart schreibe. Ich hatte übrigens auch lange einen anderen Umgang mit der Mundart, bis ich merkte, dass man die Sprache nicht jenen überlassen darf, die sie verkitschen wollen. Dass es auch richtige Literatur sein kann. Das hat lange gedauert und war wie eine Offenbarung für mich, die ich mit den Lesern teilen möchte.
Was soll «Hert am Sound» sonst noch vermitteln, ausser einen pragmatischen Umgang mit der Mundart?
Man darf nicht zu viel wollen. Vielleicht soll das Buch dazu animieren, genauer hinzuhören, hinzuschauen, Dinge aus verschiedenen Blickwinkeln anzuschauen. Aber auch einfach unterhalten, Freude machen. Am Ende ist es Lyrik, und wenn ich damit viele Leute erreichen kann, ist das schon riesig für mich.
Vor einem Jahr ist «Di schöni Fanny» erschienen, jetzt «Hert am Sound». Was kommt nächstes Jahr?
Ich werde bald Vater und will auf jeden Fall etwas zurückfahren. Lesungen werde ich nächstes Jahr keine geben und es könnte sein, dass ich ein, zwei Jahre nichts publiziere, das weiss ich noch nicht. Ich habe mehr erreicht, als ich mir das anfangs meiner Karriere erträumt hätte, das gibt natürlich eine gewisse Entspannung. Aber da ist auch der Druck, weiterzumachen, damit man nicht vergessen geht. Nicht, dass ich den Leuten auf einmal erklären muss, dass ich irgendwann ein bekannter Schriftsteller war.