«Ich kann den Ärger verstehen»

Jeannine Pilloud, Leiterin des SBB-Personen­verkehrs, verteidigt die Billettpflicht, die ab dem 11. Dezember 2011 auch in Schnellzügen gilt. Sie weist den Vorwurf zurück, die SBB baue ihren Service ab, im Gegenteil: Es sei doch völlig normal, dass man vor Reisebeginn sein Billett löse.

Jeannine Pilloud, Leiterin SBB-Personenverkehr (Bild: Keystone)

Jeannine Pilloud, Leiterin des SBB-Personen­verkehrs, verteidigt die Billettpflicht, die ab dem 11. Dezember 2011 auch in Schnellzügen gilt. Sie weist den Vorwurf zurück, die SBB baue ihren Service ab, im Gegenteil: Es sei doch völlig normal, dass man vor Reisebeginn sein Billett löse.

Zugreisen wird immer komplizierter. Jetzt kostet bereits ein Gepäckstück auf dem Sitz ein halbes Billett.

Diese Meldung hat uns auf dem linken Fuss erwischt, denn die entsprechende Regelung ist überhaupt nicht neu. Die gibt es seit 25 Jahren.

Aber Sie haben doch in einer Stellungnahme betont, diese Regelung solle durchgesetzt werden, weil das Zugpersonal dies verlangt habe.

Wann habe ich das gesagt?

Nicht Sie persönlich, aber die SBB.

Das ist ein Missverständnis. Es geht nur darum, dem Zugpersonal gegen uneinsichtige Reisende etwas in die Hand zu geben.

Was passiert denn jetzt, wenn ein Reisender für seinen Koffer ein Billett löst und trotz vollem Zug einen Sitzplatz für sein Gepäck beansprucht?

Ich weiss es nicht. Das ist noch nie passiert, seit die Regelung in Kraft ist. Jeder weiss doch, dass es unhöflich ist, wenn man in einem vollen Zug einen Sitzplatz mit Gepäck besetzt – darauf weist unser Zugpersonal auch in Zukunft hin. Ich glaube nicht, dass wir je ein Billett für ein Gepäck verkaufen werden.

Reisende im Fernverkehr ohne Billett werden ab dem Fahrplanwechsel bei den SBB wie Schwarzfahrer behandelt. Ex-SBB-Chef Benedikt Weibel macht mit seiner privaten Westbahn in Österreich das Gegenteil: Dort ist auf jedem Wagen ein Zugbegleiter, der Billette verkauft.

Wer Tickets nur übers Internet vertreibt und auf Schalter verzichtet, muss ja noch irgendeinen Verkaufskanal finden, um Billette zu verkaufen.

Weibel hat aber aus der Not eine Tugend gemacht. Die SBB hingegen schaffen den Billettverkauf im Zug ab. Ein klarer Serviceabbau.

Dieser Eindruck mag entstehen, ist aber falsch. Die SBB haben fünf Verkaufskanäle. Davon sind zwei massiv am Wachsen, nämlich Handy-Billette und der Verkauf im Internet, zwei stagnieren, nämlich der Schalterverkauf und der Verkauf über das Contact-Center in Brig. Einer verliert an Bedeutung: der Verkauf im Zug. Der Entscheid, diesen Kanal zu streichen, fiel vor meinem Stellenantritt. Ich kann den Entscheid aber nachvollziehen. Denn für die Billettpflicht gibt es zwei Gründe: Wir stellten fest, dass unsere Zugbegleiter in den Hauptverkehrszeiten manchmal Mühe haben, durch den Zug zu kommen und alle Dienstleistungen anzubieten.

Also alle zu kontrollieren.

Es geht nicht einmal nur darum zu kontrollieren. Zugbegleiter beklagten sich, dass sie ihren Job nicht mehr richtig ausüben konnten. Denn auch die Kontrolle von elektronischen Tickets braucht Zeit. Und gerade in der Übergangszeit mussten viele Zugbegleiter Kunden beraten. Das führt dazu, dass viele Reisende im Zug gar kein Billett mehr lösen konnten, also ohne Billett unterwegs waren. Wir verlieren deshalb einen zweistelligen Millionenbetrag. Das können und dürfen wir uns nicht leisten.

Und der zweite Grund?

In grossen Tarifverbünden wie dem Zürcher Verkehrsverbund verstanden Reisende nicht, weshalb sie auf derselben Strecke – zum Beispiel vom Flughafen Zürich nach Winterthur – in einem Schnellzug für einen geringen Aufpreis ein Billett im Zug lösen konnten, in einer S-Bahn mit Selbstkontrolle aber gebüsst wurden. Unsere Kundenauswertungen zeigten sehr viele unzufriedene Kunden bei den Gebüssten.

Das wird jetzt auch im Fernverkehr passieren. Wer 90 Franken Zuschlag zahlen und seine Personalien angeben muss für das Register der Schwarzfahrer, der wird sich doch masslos ärgern.

Aus dieser Warte betrachtet, haben Sie recht. Aber Hand aufs Herz: Es ist doch völlig normal, dass man vor Reisebeginn sein Billett löst – das ist im Regionalverkehr so, in S-Bahnen, Trams und in den allermeisten Bussen.

Statt Reisende ohne Billett zu bestrafen, müssten die SBB ihren Kunden doch so gute Alternativen anbieten, dass gar keiner mehr im Zug ein Billett lösen will. Heute kann ich mit dem Handy aber nur vor der fahrplanmässigen Abfahrt ein Billett lösen. Danach ist es zu spät.

Ja, das stimmt. Würden wir diese Möglichkeit aber nur für jene bieten, die ein Smartphone haben, würden wir nicht alle Kundinnen und Kunden gleich behandeln. Das wäre nicht fair. Mit dem Zugpersonal haben wir vereinbart, dass Kulanz gewährt werden kann. Das gilt auch für jemanden, der vielleicht nicht auf die Sekunde genau sein E-Ticket lösen konnte.

Sie stehen persönlich gar nicht hinter diesem Entscheid?

Natürlich stehe ich dahinter, denn er ist richtig. Vielleicht hätte man das eine oder andere marketingmäs­sig besser begleiten und noch stärker auf die attraktiveren Alternativen hinweisen können.

Besonders ärgerlich ist, dass die SBB den Service abbauen, gleichzeitig aber die Preise steigen.

Das mag so scheinen und ich kann den Ärger verstehen. Ich habe ein Servicepaket in Auftrag gegeben, dass 2012 umgesetzt werden muss. Die vom Bund beschlossene Trasseepreiserhöhung ab 2013 von zehn Prozent werden wir zudem aber nicht eins zu eins auf unsere Kunden abwälzen. Wir prüfen, wie wir diese Preiserhöhung abfedern können.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 02/12/11

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