Shlomo Graber hat drei Konzentrationslager überlebt, darunter Auschwitz. Jetzt ist seine Autobiographie erschienen, Anlass für einen Besuch bei ihm.
Shlomo Graber, 89, ist der letzte Überlebende des Todesmarsches von Görlitz, den die Nazis durchführten, weil die Rote Armee vorrückte. Zuvor war er in den Konzentrationslagern Auschwitz und Fünfteichen. Dutzende seiner Familienmitglieder kamen um, nur wenige überlebten.
Nun hat Graber, der seit 26 Jahren in Basel lebt, zusammen mit dem Verleger Alfonso Pecorelli und dem Co-Autor Adrian Suter seine Autobiografie geschrieben. Wir nehmen es zum Anlass, ihn zu treffen. Als dann die Verabredung zum Gespräch näherkommt, fragt man sich, wie man diesem Mann begegnen will. Beziehungsweise man fragt es sich nicht, denn die Ausgangslage ist klar: Man kommt mit einer Mischung aus Betroffenheit, empfundener und erlernter, und mit einer nie abgerissenen Faszination für die Schrecklichkeit.
Lieber Geschichten als Gedanken
Entsprechend stellt man seine Fragen. Die Verständigung ist nicht ganz leicht; Deutsch ist nicht Grabers Muttersprache, er hört etwas schwer, und obwohl er etwas Junges an sich hat, ist sein Alter präsent. Manchmal erzählt Graber von etwas ganz anderem, als man gefragt hat, nicht immer ist sogleich klar, in welchem Jahrzehnt man sich befindet, und in jedem Fall erzählt er lieber eine Geschichte, statt einen Gedanken zu formulieren.
Das mag an Alter und sprachlicher Herkunft liegen, doch vielleicht sind auch die Fragen ganz falsch. Man möchte einen Holocaust-Überlebenden befragen und trifft stattdessen einen Menschen. Einmal sagt er: «Ich erzähle von mir aus selten von den Erlebnissen in den Konzentrationslagern. Die Leute sind es, die fragen. Das Gespräch führt dann meistens meine Frau und ich sage: Eigentlich ist sie die Holocaust-Überlebende. Obwohl sie 16 Jahre jünger ist als ich und Protestantin.»
Der Fragende lernt in dieser Begegnung jedenfalls so viel über seine eigene Haltung wie über die Erlebnisse, von denen Shlomo Graber erzählt. Dass dabei auch viel aneinander vorbeigeredet wurde, soll im folgenden Interview sichtbar bleiben.
Geboren 1926 in den Karpaten der Tschechoslowakei, wuchs in Ungarn auf. Bereits 1941 sollte er nach Auschwitz deportiert werden, entkam jedoch wie durch ein Wunder. 1944 gelangte er dennoch nach Auschwitz, wurde jedoch weiter in die Lager Fünfteichen und Görlitz gebracht. Dort wurde er am 8. Mai 1945 von der Roten Armee befreit. 1948 übersiedelte er nach Israel, seit 1989 lebt er mit seiner zweiten Frau in Basel. Er arbeitet als Kunstmaler und hält Vorträge über die Erlebnisse im Lager.
Als Graber zur Begrüssung aus einem Hinterzimmer seiner Wohnung an der Missionsstrasse kommt, steht an einem Tisch mit weiss glänzender Tischdecke schon ein Espresso für ihn bereit. Sein Verleger Pecorelli, der ebenfalls anwesend ist, hat ihn hingestellt.
Graber nimmt Platz und rückt die Tasse zu sich heran und sagt: «Ich kann immer Kaffee trinken. Ich glaube nicht daran, dass er mir nicht guttut. Ich habe mal einen interessanten Forschungsartikel gelesen. Je einer Gruppe von Leuten wurde Milchkaffee mit und ohne Koffein ausgeschenkt. Die mit dem Koffein haben sehr gut geschlafen, die anderen schlecht. Ich habe allen Aberglauben abgelegt.»
Woran glauben Sie?
An die Natur. Sie ist das Einzige, was der Mensch nicht verändern kann. Ein Tsunami heute und vor 400 Jahren ist genau der gleiche. Mit dem einzigen Unterschied, dass heute die ganze Welt sofort davon weiss.
Das ist zunächst mal eine Tatsache, kein Glaube.
Ich glaube an das Prinzip, dass die Dinge im Kreislauf immer wiederkehren. (Er nimmt die Tasse und fragt den Fotografen, der im Hintergrund Aufnahmen macht) Darf ich eigentlich zwischendurch auch trinken? (lacht)
Bei dem, was Sie erlebt haben, ist es bemerkenswert, dass Sie nicht bitter geworden sind. Glauben Sie an das Gute im Menschen?
Ja. Ich selektiere nicht, ob unter den Menschen jemand gut ist oder schlecht, auch nicht, ob er schwarz oder weiss ist. Alle sind gleich. Man sagt, in einem Korb voll Eier liegt immer auch ein stinkendes. Das stimmt, aber es ist besser, allgemein an das Gute im Menschen zu glauben. Und wenn von jemandem gesagt wird, er sei ein Gauner, brauche ich erst einen Beweis dafür. Zum Beispiel Deutschland: Ich habe all das Furchtbare erlebt, was die Deutschen im Zweiten Weltkrieg getan haben. Aber ich habe für mich beschlossen, dass die jüngeren Generationen damit nichts zu tun haben. Ich habe mal einen Vortrag über meine Erlebnisse gehalten, da kam eine 40-jährige Frau zu mir, fing an zu weinen und bat mich um Entschuldigung. Ich sagte ihr: Sie beleidigen mich! Sie gehören nicht zu dieser Generation!
Mussten Sie viele Erinnerungen verdrängen, um ein neues Leben zu beginnen?
Nein. Als wir aus Görlitz befreit wurden, wussten wir nicht, was mit unserer Familie passiert war. Ich habe in dieser Zeit Postkarten an meine Mutter geschrieben, obwohl sie noch am Tag der Ankunft vergast worden war. Wir haben in Illusionen gelebt. Wir haben immer mit falscher Hoffnung gespielt. Für viele hat die Religion eine Rolle gespielt, sie sind in eine gewisse Apathie geraten: Was hier passiert, ist Gottes Wille, fertig.
(Auf die Frage, die Shlomo Graber hiermit nicht direkt beantwortet, gibt er später einen anderen Hinweis:)
Wir haben später in Israel voller Ideale vom Leben in einem neuen Staat gelebt. Über den Holocaust wurde nicht gesprochen, niemand erzählte, wen er im KZ verloren hat.
Und heute?
Ich spreche selten über die Erlebnisse in den Konzentrationslagern. Die Leute kommen zu mir und fragen danach. Meist antwortet meine Frau. Eigentlich ist sie die Holocaust-Überlebende (lacht).
Ist das Thema für Sie vorbei?
Nein. Es kann nicht vorbei sein. Ich halte viele Vorträge darüber und gebe jungen Leuten die Erinnerung weiter.
Wenn Sie auf Ihr Leben zurückschauen, was ist Ihr wichtigstes Erlebnis?
Wissen Sie was? Der Tag, an dem ich meine jetzige Frau kennengelernt habe. Das ist ein Fakt. Seit 27 Jahren bekommt sie von mir jeden Tag ein Kompliment.
Wie alt ist Ihre Frau?
16 Jahre jünger. (zu seinem Verleger Pecorelli) Merkt man das? Nein.
Danke für das Gespräch.
(Verwundert) Haben Sie auf alles Antwort bekommen?
Auf alles? Auf vieles.
Ja? Dann ist doch gut. Ich bin ein bisschen komisch, oder? (lacht)
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Shlomo Graber: «Denn Liebe ist stärker als Hass.» Riverfield, 400 Seiten. Veranstaltungen und Buchvernissage mit Shlomo Graber auf der Website des Verlags.